In ihrem neuen Buch "Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt" kritisiert die bekannte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht auch die "Lifestyle-Linke", die sich angesichts ihrer intoleranten Identitätspolitik nicht mehr für die soziale Ungleichheit interessiere. Ihre Argumente sind ebenso wenig neu wie ihre aufgezeigte Alternative; gleichwohl positioniert sich hier erstmals eine bekannte linke Politikerin deutlich gegen die identitätslinke Fixierung auf das Moralisieren statt auf den Vernunftgebrauch.
Eine Firma wird von Linken dafür gelobt, eine geschlechtergerechte Sprache eingeführt zu haben. Dass die Arbeitsbedingungen und Löhne für die dort beschäftigen Frauen sich nicht geändert haben, interessiert demgegenüber diese Linke nicht weiter. Die Beobachtung findet sich in dem neuen Buch von Sahra Wagenknecht, der bekannten Politikerin der Partei Die Linke, die aber dort zunehmend an Bedeutung und Einfluss verliert. Womöglich hängt dies auch mit ihren Positionen zusammen, die sich ebenfalls in "Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt" finden. Es handelt sich um ein Buch, das gegen die von ihr gemeinte "Lifestyle-Linke" gerichtet ist und für eine "linkskonservative Politik" plädiert. Beide Begriffe sind erklärungsbedürftig und dürften – beabsichtigt oder nicht – falsch verstanden werden. Der Ausgangspunkt bildet eine Deutung, die man von Wagenknecht kennt. Demnach wurde die Gesellschaft durch den Neoliberalismus zum Nachteil der unteren Schichten gespalten.
Im ersten Block geht es um die "Identitätslinke", die "Lifestyle-Linke" oder die "Linksliberalen", womit eher kulturell orientierte Linke mit akademischer Prägung gemeint sind. Sie seien die Gewinner des Neoliberalismus und hätten sich mit seinen Werten versöhnt. Das Linkssein beschränke sich darauf, für ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten einzutreten. Dagegen wendet sich die Autorin keineswegs grundsätzlich. Sie kritisiert aber die inhaltliche Begrenzung darauf und die ausgeprägte Intoleranz – sowie die moralisierende Überheblichkeit und die falschen Zuordnungen. Die Akzeptanz von Diversität und Gendersternchen würden als Symbolpolitik reichen. Kritische Anmerkungen zum Multikulturalismus stelle man allzu schnell unter einen Naziverdacht. Und die Lebensbedingungen der unteren Schichten interessierten nicht mehr. Dies erkläre auch, warum Arbeiter dann aus Protest zu rechten Wählern würden. Demgegenüber formuliert Wagenknecht ein "Plädoyer für eine liberale, tolerante Linke" (S. 98).
Im zweiten Block des Buchs wechselt die inhaltliche Perspektive, versucht die Autorin doch ihre Deutung einer klassischen beziehungsweise konservativen Linken zu begründen. Sie erinnert zunächst daran, dass das gemeinte politische Lager sich einmal für die Mehrheit der sozial Unterprivilegierten engagierte. Obwohl deren Lage sich im Neoliberalismus verschlechtert habe, sei die Aufmerksamkeit für diesen Bereich der Gesellschaft verschwunden. Gleichzeitig sei es beim Miteinander zu einer Spaltung gekommen, was eine Erneuerung von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt notwendig mache. Die Ausrichtung am totgesagten Nationalstaat sei hier wichtig, sowohl bezogen auf die Demokratie wie eben auf den Sozialstaat. Dabei wird aber eine klare Distanz zu rechten Positionen vorgenommen, gehe es doch nicht um biologische Eigenschaften, sondern um soziale Prinzipien. Sie bildeten die "Basis für eine Politik, die Märkte und Ungleichheit in Grenzen halten kann" (S. 226). Als Alternative dazu werden Eckpunkte für ein Zukunftsprogramm genannt.
Die Argumente von Wagenknecht sind nicht neu: Bekannt ist die Formulierung "progressiver Neoliberalismus" (Nancy Fraser), die sich auf die Akzeptanz von elitärer Diversität bei gleichzeitiger Ignoranz von sozialer Ungleichheit bezieht. "Dann sollen sie Diversität essen" (Walter Benn Michaels) lautet die sprachliche Zuspitzung dazu. Indessen hat man es hier erstmals mit einer diesbezüglich klaren Aussage einer bekannten deutschen linken Politikerin zu tun. Sie macht auf die bedenklichen Auffassungen linker Identitätspolitik aufmerksam: deren Fixierung auf Hautfarbe statt auf Ungleichheit oder auf Moralisieren statt auf Vernunft. Es ist sogar die Rede von einer "verrückten Theorie" (S. 105) bei Wagenknecht. Gleichzeitig legt sie viele gut begründete Argumente zum Thema vor. Demgegenüber wiederholt die Autorin im zweiten Teil das, was man von ihr zu Politik und Wirtschaft bislang auch kannte. Ihr Appell an die Linke, sich ihrer ursprünglichen Werte zu erinnern, ist nachvollziehbar. Doch gibt es kaum noch die dafür nötigen und relevanten Akteure.
18 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
manche Menschen haben einen sehr guten Job, die meisten nicht und die Menschen in Hartz4 gehen Menschlich zugrunde, das muss aufhören.
Constantin Huber am Permanenter Link
Die von einigen Kommentator:innen pauschale Ablehnung der Identitätspolitik, spiegelt nicht das tatsächlich vorhandene, weitaus größere Spektrum an möglichen Positionen innerhalb der Sozial- und Politikwissenschaften
Die Soziologinnen Emma Dowling, Silke van Dyk und Stefanie Graefe stellen im Deutschlandfunk die Frage:
"„Warum eigentlich gelten die Kämpfe von Frauen, Schwarzen oder Schwulen/Lesben als identitätspolitische Kämpfe, während das Leben und die darauf bezogenen Kämpfe (weißer, männlicher) Arbeiter als soziale und ökonomische Realität betrachtet werden?“"
Und antworten auf entsprechende Einwände mit den Worten:
"„Der Vorwurf, Identitätspolitik sei partikularistisch und würde damit den Universalismus der Kämpfe um soziale Gerechtigkeit unterminieren, verkennt den ursprünglichen Impuls vieler sozialer Bewegungen, die heute als ‚identitätspolitisch‘ gelabelt werden.“
Zusammengefasst heißt das: Auch vermeintlich universelle Interessen sind letztlich Partikularinteressen – nur werden sie eben aus einer mächtigeren Position heraus formuliert. Emanzipatorische Identitätspolitik hat hingegen zumeist durchaus universalistische Ansprüche, wenn sie verlangt, dass gleiche Rechte tatsächlich für alle Menschen gelten sollen.
Noch einmal anders formuliert: Linke Identitätspolitik benennt blinde Flecke und fordert Gerechtigkeit für alle. Sie zielt darauf ab, die kollektiven Erfahrungen von Menschen einzubeziehen, die in den großen Erzählungen von der Menschheit oder der Arbeiterklasse nicht vorkommen: etwa die Erfahrungen von schwarzen, lesbischen Frauen".
Hier mein neuster Beitrag dazu:
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/identitaetspolitik/
Martin Mair am Permanenter Link
Die Kritik an der "Identitätspolitik" wendet sich aber genau nicht gegen POLITISCHE Kämpfe von Schwarzen, Frauen usw. die sich ja als integraler Teil einer BREITEN Emanzipationsbewegung sehen würden!
Da von "pauschaler Ablehnung" zu schreiben, ist selbst wieder sehr pauschal ...
Da zeigt sich, dass es sich bei der "Identitätspolitik" um eine Glaubensgemeinschaft handelt, die unfähig ist, auf Kritik von Außen einzugehen ...
malte am Permanenter Link
Diese Argumentation funktioniert aber auch nur, wenn man so tut, als seien Arbeiter grundsätzlich männlich und "weiß" - was selbstredend Unsinn ist.
Rudi Knoth am Permanenter Link
Und wer behauptet dies denn? Es wird ja von der Identitätsideologie behauptet, daß auch der "weiße Arbeiter" gegenüber seinem "dunkelhäutigen" Chef privilegiert sei.
malte am Permanenter Link
Die von Constantin Huber zitierten Soziologinnen behaupten das. Deren Argument ist in etwa, die Arbeiterbewegung gelte nur deswegen nicht als identitätspolitisch, weil es eine Bewegung "weißer Männer" sei.
Renton am Permanenter Link
Die Frage der drei Soziologinnen zielt auf einen Strohmann ab.
Das Problem mit Identitätspolitik ist nicht, dass sie sich gegen Diskriminierung wendet, sondern, dass sie selbst diskriminierend und antiaufklärerisch ist. Aus der identitätspolitischen Ecke stammen Ansichten wie diese:
"Weiße kann man nicht rassistisch diskriminieren."
"Es gibt keinen Sexismus gegen Männer."
Wer Menschengruppen die Möglichkeit einer Stigmatisierung aufgrund eines äußerlichen Merkmals abspricht, betreibt selbst genau das: Stigmatisierung.
Antiaufklärerisch sind identitätspolitische Ansichten wie:
"Diskriminierung kann nur subjektiv beurteilt werden. Wenn das Opfer einer Diskriminierung findet, dass es diskriminiert wurde, dann ist das so."
Erstens steht das im direkten Widerspruch zu den beiden vorherigen Ansichten, denn dort gilt für bestimmte Personengruppen, dass sie keine Bestimmungshoheit über sie betreffende Diskriminierungen haben. Zweitens ist es einfach Blödsinn. Bloß weil jemand beispielsweise meint, er sei bei einer Jobvergabe aufgrund seiner Hautfarbe nicht berücksichtigt worden, muss das noch lange nicht wahr sein.
Die Identitätspolitik setzt aber noch einen oben drauf:
"Jemand, der Merkmal X nicht teilt, hat prinzipiell keinen Zugang zu der Lebenswirklichkeit von Personen mit dem Merkmal X. Er sollte sich deshalb nicht dazu äußern."
Hier wird im Grunde jede Möglichkeit der Verständigung zwischen Menschen verneint. Wenn man prinzipiell nicht verstehen kann, wie es jemandem mit anderer Hautfarbe, anderem Geschlecht, anderem... ergeht, kann man auch gleich aufhören, anderen Menschen zuzuhören. Man könnte sich einfach auf den Standpunkt stellen, dass Diskriminierungserfahrungen anderer Leute nicht schlimm seien. Zumindest wäre es für einen selbst prinzipiell nicht nachweisbar, warum die bloße Behauptung also ernst nehmen?
Wir Menschen sind aber in der Lage, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Das gelingt sicherlich nie zu 100%, und man kann konkrete Erfahrungen nicht ersetzen. Aber mit ausreichend Lebenserfahrung sind wir in der Lage, Erfahrungen aus einem Bereich - z.B. Polizeischikane auf Demos - in andere Bereiche zu übertragen, z.B. Polizeischikane bei rassistisch motivierten Personenkontrollen. Deshalb können wir - bis zu einem gewissen Grad - auch Erfahrungen nachvollziehen, die wir nicht selbst gemacht haben, und uns dazu eine Meinung bilden.
Identitätspolitik verneint das, und will konsequenterweise das Äußern solcher ihrer Ansicht nach generell unqualifizierten Meinungen unterbinden. Deshalb ist Identitätspolitik antiaufklärerisch und steht zurecht in Verruf.
Rudi Knoth am Permanenter Link
Zitat:"Noch einmal anders formuliert: Linke Identitätspolitik benennt blinde Flecke und fordert Gerechtigkeit für alle.
Dies sehe ich ehrlich gesagt anders. Etwa das Feindbild "alte weiße Männer" dieser Ideologie ist doch nichts anderes als die Umkehrung von Vorurteilen wie sie etwa in Europa existieren. Und solche Thesen wie "es gibt nirgends Rassismus gegen Weiße" halte ich einfach für Unsinn. Man braucht nur Japan als Gegenbeispiel zu nehmen, um diese These zu widerlegen. Mit Wissenschaft hat dies nichts zu tun. Eher mit Aberglauben.
A.S. am Permanenter Link
Wer bertreibt denn Identitätspolitik?
Das sind Leute, die sich zum Führer bzw. Führerin der "Benachteiligten" aufschwingen wollen.
So läuft die Masche: Erst einer Menschengruppe einreden, sie seien unterdrückt und benachteiligt, dann diese Menschen zum Aufruhr anstacheln und sich selbst die Führungsposition sichern. So generiert man für sich selbst politische Macht.
Und die vermeintlich Unterdrückten? Die sind mal wieder angeschmiert!
David Z am Permanenter Link
"Ihr Appell an die Linke, sich ihrer ursprünglichen Werte zu erinnern, ist nachvollziehbar. Doch gibt es kaum noch die dafür nötigen und relevanten Akteure."
Das fürchte ich leider auch, zumal sich die eindimensionalen, toxischen Ideen zu identity policies zunehmend auch in anderen Parteien sowie Behörden und den Medien verbreiten.
Sarrazin wurde geschlachtet, Thierse auch und Sarah steht nun ebenfalls vor der Meute. Bei SZ, Zeit oder Spiegel kein Wörtchen der Kritik an diesen Ideen - im Gegenteil. Allenfalls Die Welt und FAZ bringt in letzter Zeit hier und da mal einen leicht kritische Meinungsartikel. Und Behörden, Verlage und Grossunternehmen laufen schon lange populistisch im Gleichschritt mit.
Wird es eine Umkehr geben? Nur mit Mutigen, und die sind in der Tat bisher kaum seh- bzw hörbar. Zu tief sitzt die Angst, aus dem erhabenen Kreis der vermeindlich "Guten" ausgeschlossen zu werden.
Martin Mair am Permanenter Link
Was mir eher aufstösst: Kennt Frau Sarah Wagenknecht den Begriff "LIBERTÄR" nicht mehr! Das wäre der historisch korrekte Gegenbegriff!
Martin Mair am Permanenter Link
Wer eine eigene Persönlichkeit gebildet hat, der/die/das braucht keine (kollektive) Identität, auch wenn es nach wie vor so etwas wie Klassen gibt. Selber denken aber gemeinsam mit anderen!
Leon Paysan am Permanenter Link
Das scheint mir den Kern der Sache zu treffen.
Wer nichts hat, für das er sich wertvoll fühlt, der ist stolz auf Nation, Hautfarbe, Geschlecht oder sonst eine Gruppenidentität. Das ist Ausdruck geistiger Armut, nicht moralischer Überlegenheit.
Leider trennt uns das Ganze in Individualisten und Kollektivisten und verhindert gerade gemeinsames Handeln, zur Verbesserung der Verhältnisse.
Schade, sehr schade!
Tobias Seyb am Permanenter Link
Bisher war ich noch nicht in Gefahr, ein Buch von Frau Wagenknecht zu kaufen.
Noch vor einem halben Jahr dachte ich naiv, es handele sich bei den Identitätsideologinnen(*) um ungebildete, geschmacksverirrte Minderheitinnen, so hat es sich inzwischen gezeigt, dass es sich um halbgebildete, antiaufgeklärte Aktivistinnen handelt, die in Medien, Politik und Akademie einen schauderhaften Einfluß auf die Gesellschaft ausüben.
Werde dieses Buch in Erwägung ziehen.
(*Absicht)
Rudi Knoth am Permanenter Link
Zitat:"Noch vor einem halben Jahr dachte ich naiv, es handele sich bei den Identitätsideologinnen(*) um ungebildete, geschmacksverirrte Minderheitinnen, so hat es sich inzwischen gezeigt, dass es sich um halbgebi
Nein das sind sogar hochgebildete AkademikerInnen, die dieses vertreten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Magarete Stokowski in Spiegel-Online.
Rudi Knoth am Permanenter Link
Was mich wundert, ist die Tatsache, daß sie von "Linksliberalen" schreibt.
Martin am Permanenter Link
Schon der Buchtitel "Die Selbstgerechten" strahlt Selbstgerechtigkeit aus.
Die gutsituierte, man könnte auch sagen "reiche", Autorin feiert sich selbst als Retterin der Enterbten?
Hat schon bei Sarrazin funktioniert.
Marianne Schweizer am Permanenter Link
Diese Retourkutsche verfängt nicht. Die Kritik von Sahra Wagenknecht finde ich in fast allem sehr einleuchtend.