Willkürliche Verhaftungen, willkürlicher Entzug von Grundrechten und willkürliche Deportationen in ausländische Foltergefängnisse – in Sachen Migration kennt die US-Regierung keinen Rechtsstaat mehr. Ein weiterer zentraler Baustein ist der systematische Angriff auf das Staatsangehörigkeitsrecht. Die Vision: Die wertebasierte US-amerikanische Nationalidentität soll einem völkischen Denken weichen.
Als JD Vance im Juli vergangenen Jahres vor das Nationalkonvent der Republikanischen Partei trat, um seine Antrittsrede als Vizepräsidentschaftskandidat zu halten, warf er zum Ende hin eine Frage auf: Was definiert eine Nation? Genauer gesagt, was definiert die Vereinigten Staaten?
Nicht die Verfassung, so Vance. Nicht gemeinsame Werte. Sondern "ein Volk mit einer gemeinsamen Geschichte". Er signalisierte mit seiner Antwort Sympathie für just die Art von völkischem Staatsverständnis, das den USA eher fremd ist.
Ein Jahr später, nunmehr ins zweithöchste exekutive Amt der Vereinigten Staaten gewählt, trat Vance auf das Podium des Claremont Institute. Im Rahmen einer Preisverleihung, bei der ihm der Statesmanship Award ("Auszeichnung für besonders staatsmännische Leistungen") überreicht wurde, führte er seine Vorstellung der US-amerikanischen Identität in seiner Dankesrede weiter aus.
Die Quintessenz, in Vances eigenen Worten: "Manche Amerikaner sind amerikanischer als andere."
Das Recht des Bodens und das Recht des Blutes
Bevor wir uns dem Wortlaut dieser Rede widmen, müssen wir einen Blick auf das US-amerikanische Staatsangehörigkeitsrecht werfen, um zu verstehen, vor welcher Kulisse Vances Vorstoß ins Völkische stattfindet. Das Stichwort lautet: Jus soli, Staatsangehörigkeit qua Geburtsort.
Außerhalb des amerikanischen Kontinents definiert sich eine Nation meist durch eine kohäsive, über jahrhundertelange Zeiträume bestehende religiöse, ethnische oder sprachliche Zusammengehörigkeit. Wer "deutsch" ist und sein darf, hängt zu großen Teilen von der persönlichen Ahnenreihe ab – ein Konzept, das wir als Jus sanguinis kennen, als "Recht des Blutes".
In den Vereinigten Staaten hat das Jus soli Verfassungsrang. Spätestens seit Ratifizierung des 14. Verfassungszusatzes im Jahr 1866, je nach Auslegung bereits seit Verabschiedung der urspünglichen Verfassung im Jahr 1789, ist jede Person, die auf ihrem Territorium geboren wird, Bürger*in der Vereinigten Staaten. Das gilt selbst dann, wenn die Eltern dieser Person nicht die US-amerikanische Staatsbürgerschaft innehaben und sich illegal oder temporär in den Vereinigten Staaten aufhalten.
Mehrheit in den Vereinigten Staaten für wertebasierte Nationalidentität
Dieses als birthright citizenship bekannte Prinzip fußt auf einem Verständnis von Staatsangehörigkeit, das nicht nach historischer, sondern ethischer Kohärenz bemessen wird. Gegründet als Exilkolonie auf einem fremden Kontinent und bar jeder gemeinsamen Geschichte, haben die Vereinigten Staaten eine Definition des "Amerikanisch-Seins" konstruiert – konstruieren müssen –, die auch in Absenz dieser üblichen Bindemittel funktioniert.
Das Ergebnis war ein Staat, der nicht fragt "Wer seid ihr", sondern "Wovon seid ihr überzeugt". Und wenn die Antwort auf diese Frage kompatibel ist mit den Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und der Bill of Rights, wenn die Antwort auf diese Frage lautet "Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch ein unveräußerliches Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück hat", dann ist das "amerikanisch".
Diese Idee spiegelt sich auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Einer 2024 durchgeführten Befragung des Nationhood Lab zufolge definiert eine breite Mehrheit von 63 Prozent der US-Amerikaner*innen die Vereinigten Staaten durch ein "gewissenhaftes Bekenntnis zu gesellschaftlichen Grundprinzipien". Lediglich 33 Prozent definieren die Nation durch eine "gemeinsame Abstammung, Geschichte, Tradition oder Kultur".
Diese Mehrheit für eine nationale Identität, die sich mehr aus gemeinsamen Werten denn aus geteilter Geschichte konstituiert, findet sich quer durch alle demographischen Gruppen, mit zwei bezeichnenden Ausnahmen: registrierte Republikaner*innen und Personen, die 2020 für Donald Trump gestimmt haben.
Das Claremont Institute: Intellektueller Unterbau des völkischen Denkens
Nun ist es nichts Neues, dass die Staatsangehörigkeit qua Geburtsort infrage gestellt wird – das wird sie seit Jahrhunderten. Neu ist der konzentrierte, koordinierte Angriff einer christlich-nationalistischen Intelligentsia auf einzelne Teile dieser konstitutionellen Regelung, welcher von Donald Trump noch am Tag seines Amtsantritts in einen Exekutivbefehl gegossen wurde.
Der "intellektuelle Unterbau" für diese präsidiale Anordnung kommt direkt vom Claremont Institute. Das Institut war "entzückt", als JD Vance zu Trumps Vize erkoren wurde und schmückte sich damit, die Positionen des künftigen Vizepräsidenten in Sachen Immigrationspolitik entscheidend geprägt zu haben. Claremont wiederum hat enge Bindungen zu Organisationen, die die Vereinigten Staaten in einem "kalten Bürgerkrieg" wähnen, sich für einen Sezessionskrieg rüsten und die Installation einer christlich-nationalistischen Regierung vorbereiten.
Die ursprüngliche Anordnung schreibt vor, dass auf US-Territorium geborene Kinder nicht mehr automatisch die Staatsangehörigkeit erhalten, wenn die Eltern illegal in die USA eingereist sind oder sich mit einer temporären Aufenthaltsgenehmigung, zum Beispiel einem Studierendenvisum, legal im Land aufhalten. Dieser Exekutivbefehl wurde von drei verschiedenen Gerichten bis auf Weiteres ausgesetzt. Mittlerweile plant das Justizministerium auch den Entzug von Staatsangehörigkeiten. Und ganz unabhängig davon schützt die US-amerikanische Staatsangehörigkeit sowieso nicht mehr vor Deportation.
Das Volk und seine "Parasiten"
Vor diesem Hintergrund greifen wir nun einige der zentralen Punkte aus Vance Rede heraus:
Vance moniert die Erosion sozialer Bindungen und gesellschaftlichen Vertrauens. Seine Analyse bedient sich der Bildsprache des Nationalsozialismus und eines dezidiert militaristischen Nationalismus:
"Der westliche Liberalismus hat etwas beinahe suizidales an sich, zumindest aber etwas sozial Parasitäres, das dazu neigt, einen gesunden Wirt so lange auszusaugen, bis nichts mehr übrig ist. (...) Deswegen sagen so viele junge Menschen, historische Höchststände in allen europäischen Nationen, dass sie nicht für ihr eigenes Land sterben würden."
Mit dem "gesunden Wirt" impliziert Vance einen fiktiven Volkskörper, der sich gegen seine Zersetzung verteidigen müsse. Er greift damit eine Metapher auf, die schon Adolf Hitler in "Mein Kampf" verarbeitete: "Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab".1 Wo Hitler den Parasiten im Judentum verortete, lokalisiert Vance diesen im Liberalismus.

Beachtenswert ist die semantische Inversion: Pazifismus ist Suizidalität, während die Bereitschaft, zu sterben, zum Lebenswillen stilisiert wird. Hier zeigt sich das nationalistische Element in der Reduktion des Individuums zum Kanonenfutter des Staates.
Vance verbindet hier das Problem direkt mit der Lösung: Es braucht einen existentiellen Überlebenskampf, mutmaßlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, um den Wirtskörper vom Parasitenbefall zu befreien. Er fordert die Bereitschaft des Individuums, sich zugunsten dieses größeren Guten nötigenfalls zu opfern.
Vance zeigt im weiteren Verlauf ein dezidiert religiöses Verständnis von Identität und Eusozialität:
"Wir sind menschliche Wesen, erschaffen nach Gottes Ebenbild (…). Soziale Bindungen bilden sich zwischen Menschen, die etwas gemeinsam haben. Die die gleiche Nachbarschaft teilen. Die die gleiche Kirche teilen. Die ihre Kinder in die gleiche Schule schicken."
Bemerkenswert ist, dass Vance neben einem direkten Bezug auf die Bibel explizit den Begriff "church" benutzt und nicht etwa "house of worship". Der Mensch und der christliche Gott sind für den amtierenden US-Vizepräsidenten allem Anschein nach untrennbar.
Die Grundprinzipien der neuen US-Regierung sind nicht die Grundprinzipien der Vereinigten Staaten
Daraufhin greift Vance ein auf der Hand liegendes Argument vorweg: Unabhängig von Religion, Bildung oder Wohnort, haben nicht alle Menschen in den Vereinigten Staaten eine Verfassung und die in ihr verankerten Werte gemeinsam? Das reiche nicht aus, so Vance:
"Die Vereinigten Staaten nur durch Zustimmung zu unseren Grundprinzipien, beispielsweise denen der Unabhänigkeitserklärung, zu definieren – diese Definition ist gleichzeitig viel zu inklusiv und lange nicht inklusiv genug. (…) Das würde hunderte Millionen, wenn nicht Milliarden ausländische Staatsbürger inkludieren, die der Unabhängigkeitserklärung zustimmen. Müssen wir all diese Menschen morgen aufnehmen? (…) Das würde auch eine Menge Menschen ausschließen, die die ADL (Anti Defamation League, Anm. d. A.) als domestische Extremisten bezeichnen würde, selbst diejenigen, deren Vorfahren im Bürger- und im Revolutionskrieg gekämpft haben."
Ein Zitat für die Geschichtsbücher. Zur Einordnung: Mit den "domestischen Extremisten", von denen Vance spricht, sind Angehörige von militanten Gruppen und Ideologien wie den Oath Keepers, der Atomwaffendivision, dem Blood Tribe oder den 3Percenters gemeint.
Vance gesteht ein, dass diese Gruppen die Axiome der Unabhängigkeitserklärung ablehnen – möchte sie aber dennoch als "amerikanisch" verstanden wissen, weil ihre Ur-Ur-Urgroßväter sich in Gettysburg haben niederschießen lassen.
Vance macht deutlich, dass die Grundprinzipien der neuen US-amerikanischen Regierung nicht die Grundprinzipien der Vereinigten Staaten sind. Und, wie die Statistik zeigt, sind sie auch nicht die Grundprinzipien von zwei Dritteln der US-Bevölkerung.
Vance schließt mit einer Forderung, die in diesem Kontext nur als spöttisch bezeichnet werden kann:
"Wir sollten von jedem Menschen in diesem Land, ganz gleich ob ihre Vorfahren schon vor dem Revolutionskrieg hier waren oder ob sie erst vor einigen Wochen an unseren Küsten ankamen, ein Gefühl der Dankbarkeit erwarten. Und wir sollten jedem gegenüber skeptisch sein, dem das fehlt, vor allem dann, wenn sie dieses Land führen wollen."
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten knapp 1.600 Menschen begnadigte, die am 6. Januar 2021 gewaltsam das Kapitol stürmten, um den damaligen Vizepräsidenten zu hängen und die Zertifizierung von Joe Bidens Wahlsieg zu verhindern, ist das blanker Zynismus. Was Vance erwartet, ist nicht Dankbarkeit, sondern bedingungslose Unterwerfung.
Diese Denkweise offenbart: Diejenigen, die die meiste Verachtung und die wenigste Dankbarkeit für die Vereinigten Staaten übrig haben, sitzen nicht an der Columbia University und auch nicht in Abschiebehaft. Sie sitzen im Weißen Haus.
Eine solche Regierung für besonders staatsmännische Leistungen auszuzeichnen ist eine Farce, entbehrt aber nicht einer gewissen historischen Konsistenz. Denn es war Joseph Goebbels, der sagte: "Wir werden als die größten Staatsmänner aller Zeiten in die Geschichte eingehen oder als ihre größten Verbrecher."
1 Zit. n. Schmitz-Berning, Cornelia. Vokabular des Nationalsozialismus. Walter de Gruyter, Berlin, Deutschland, 2007, S. 461-462.







2 Kommentare
Kommentare
Rüdiger Kramer am Permanenter Link
J.D.Vance für mich die Bestätigung, dass wir ohne jegliche Religion besser dran wären.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Armes Reiches Amerika, wohin geht dein Weg??