Der Klimawandel aus Sicht des evolutionären Humanismus

Warum wir nicht "klimaneutral" sein sollten

Das entscheidende Problem besteht heute nicht mehr in fehlendem Wissen. Es besteht vor allem darin, dass die Menschheit nicht als ein entschlossenes Kollektiv handelt, welches sich seiner planetaren Verantwortung stellt, sondern dass sie in einzelne, sich gegenseitig bekämpfende Interessengruppen zerfällt, die noch immer meinen, ihre jeweils eigenen nationalen, kulturellen oder religiösen Borniertheiten pflegen zu müssen. Was uns also fehlt, ist ein globaler Orientierungsrahmen, eine planetare Perspektive, welche die zukunftstauglichen Traditionen, die sich im Verlauf der kulturellen Evolution entwickelt haben, in sich vereint und die zugleich die zerstörerischen Traditionen ausschließt, die einer produktiven Weiterentwicklung unserer Spezies im Wege stehen – und genau an diesem Punkt kommt der evolutionäre Humanismus ins Spiel.

Ein globaler Orientierungsrahmen

Als Julian Huxley 1945 seinen Posten als erster Generaldirektor der UNESCO antrat, sah die Lage der Menschheit finster aus: Der zweite Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten war gerade zu Ende gegangen, die unfassbaren Menschheitsverbrechen, die Nazi-Deutschland begangen hatte, traten allmählich erst ins öffentliche Bewusstsein, zudem spitzte sich der Ost-West-Konflikt immer weiter zu, der die Menschheit in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrmals an den Rand der atomaren Vernichtung bringen sollte. Wie, bitteschön, sollte angesichts dieser dramatischen Ausgangslage das Programm einer Weltorganisation für Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Kultur aussehen? War der Auftrag der UNESCO nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Julian Huxley verfasste 1945 eine 60-seitige Schrift, in der er nicht nur die zentralen Funktionen beschrieb, welche die neu geschaffene UNESCO erfüllen müsse, sondern in der er auch nachdrücklich darauf hinwies, dass dies nur auf der Basis eines sowohl wissenschaftlichen als auch humanistischen Rahmenkonzepts gelingen könne. Die UNESCO, so Huxley, dürfe sich in ihrer Arbeit nicht auf die sich gegenseitig ausschließenden und hartnäckig bekämpfenden Religionen, philosophischen Denkschulen oder politischen Ideologien stützen, sondern müsse eine kosmopolitische Perspektive entwickeln, einen "wissenschaftlichen Welt-Humanismus" , wie er es nannte, der die Gräben zwischen den Traditionen auf der Basis einer vereinheitlichenden, evolutionären Sicht auf die menschliche Natur und Kultur überwindet.

Für diese klare Positionierung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und humanistischen Grundwerten erntete Julian Huxley keineswegs nur Beifall, sondern auch heftige Kritik, insbesondere von Seiten konservativer Religionsvertreter. Aber dies brachte ihn nicht davon ab, weiter in diese Richtung zu denken, was 1961 in die Veröffentlichung eines Sammelbandes zum "Evolutionären Humanismus" mündete.

Was unterscheidet diesen neuen, evolutionären Humanismus von vorangegangenen Humanismus-Varianten? Um es kurz zu machen: Der evolutionäre Humanismus ist strikt evidenzbasiert, sein Weltbild stützt sich also konsequent auf wissenschaftliche Befunde. Daher begreift er den Menschen auch nicht als "Krone der Schöpfung", sondern als unbeabsichtigtes Produkt der natürlichen Evolution. Zudem ist der evolutionäre Humanismus – wie die Wissenschaft – notwendigerweise ergebnisoffen: Er darf nicht statisch bleiben, sondern muss sich parallel zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt weiterentwickeln. Deshalb gibt es für ihn keine absoluten Dogmen, keine "heiligen" (unantastbaren) Schriften und auch keine unfehlbaren Propheten, welche "die Wahrheit" für sich gepachtet hätten, stattdessen unterliegt alles der Kontinuität des Wandels (was selbstverständlich auch für die Stichhaltigkeit der Argumentationsweise des vorliegenden Textbeitrags gilt, der keinerlei Anspruch auf "Unfehlbarkeit" erhebt).

Wie andere Humanist*innen glauben auch evolutionäre Humanist*innen "an den Menschen", allerdings bedeutet dies unter evolutionärem Vorzeichen keineswegs, dass sie die heute lebenden Menschen glorifizieren würden. Sie glauben vielmehr "an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen", das heißt an das besondere Potenzial unserer Spezies, über sich selbst hinauszuwachsen – ein Glaube, den man, wie ich in meinen Buch "Hoffnung Mensch" gezeigt habe, anhand vielfältiger Belege rational begründen kann.

Evolutionäre Humanist*innen sind dabei weder Pessimist*innen, die meinen, dass die Welt ohnehin nicht mehr zu retten ist, noch Optimist*innen, die glauben, dass alles schon irgendwie gut gehen wird. Sie sind Possibilist*innen, die wissen, dass die Entwicklung unserer Spezies unterschiedlichste Richtungen einschlagen kann und dass das Wohlergehen künftiger Generationen nicht zuletzt auch von den Entscheidungen abhängt, die wir selbst in unserem Leben treffen werden. Kennzeichnend für evolutionäre Humanist*innen ist also, dass sie zwar mit dem Schlimmsten rechnen, aber auf das Beste hoffen.

Auf dem Weg zu einem planetaren Bewusstsein?

Wie wir gesehen haben, ist die Menschheit vor wenigen Jahrhunderten nur mit unverschämtem Glück der ökologischen Katastrophe einer glazialen Kaltzeit entkommen. Auf ein solches Glück können wir uns heute ganz gewiss nicht mehr verlassen. Immerhin: Man kann es durchaus als eine glückliche Fügung begreifen, dass wir die Folgen der Klimaerwärmung erst jetzt zu spüren bekommen – und dass dies nicht schon vor 100 oder 200 Jahren passiert ist. Denn damals hätten wir weder über das Wissen noch über die Technologie verfügt, um wirksame Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Zudem steht uns mit dem Internet erst heute eine weltweite Kommunikationsplattform zur Verfügung, die das Wissen über den Klimawandel wie auch das Wissen über die wissenschaftliche Tatsache der Evolution rund um den Globus verbreiten kann.

Für die Hüter des Status quo ergibt sich aus dieser digitalen Verbreitung des Wissens allerdings ein ernsthaftes Problem. Warum? Weil die allermeisten religiösen oder politisch-ideologischen Vorstellungen im Lichte der Evolution keinen Sinn mehr ergeben! Ihre Verteidiger können heute zum Schutz des althergebrachten Weltbildes im Grunde nur noch Eines tun: Sie müssen versuchen, die kulturellen Schotten möglichst geschlossen zu halten, was im digitalen Zeitalter aber zunehmend schwieriger wird. Und genau hier liegt ein möglicher Selektionsvorteil des evolutionären Humanismus, denn er ist das bislang einzige Weltanschauungssystem, das die großen Fragen der Menschheit (Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was sollen wir tun? Worauf dürfen wir hoffen?) konsequent im Lichte der Evolution beantwortet.

Die Zeichen stehen daher gar nicht einmal so schlecht, dass sich die evolutionär-humanistische Sicht der Welt weiter ausbreiten wird. Damit meine ich nicht, dass die Menschen sich mehrheitlich als "evolutionäre Humanist*innen" verstehen werden – nicht einmal, dass sie wissen, was der Begriff des "evolutionären Humanismus" bedeutet. Ich meine aber sehr wohl, dass sie (ganz im Sinne dieses Rahmenkonzepts) zunehmend davon ablassen werden, die Welt aus der limitierten Perspektive des eigenen Stammes, des eigenen Volkes, der eigenen Nation oder der eigenen Religion zu begreifen. Natürlich werden diejenigen, deren Macht auf der identitären Abgrenzung der eigenen Gruppe von "den Anderen" beruht, nichts unversucht lassen, um diesen evolutionären Schritt hin zu einem neuen planetaren Bewusstsein entgegenzuwirken. Allerdings erhält dieses planetare Bewusstsein gerade heute durch die aktuellen Debatten um den Klimawandel neuen Aufschwung, insbesondere bei den Mitgliedern der jüngeren Generation.

Mit einer relativen Sicherheit (von sagen wir einmal: 50,001 Prozent) gehe ich daher davon aus, dass sich die "Internationale der Nationalisten", die momentan noch sehr erfolgreich nationalen Chauvinismus mit reaktionären religiösen Dogmen verrührt, sich mit ihrer überkommenen Sicht der Welt nicht dauerhaft durchsetzen wird. Stattdessen werden unsere Artgenossen zunehmend erkennen, dass "Völker", "Nationen", "Religionen" bloß vorübergehende Konstrukte sind, die eine fundamentale Tatsache des Lebens allzu oft verdecken, nämlich dass uns Menschen untereinander sehr viel mehr verbindet als trennt.

Kurzum: Ich wage die Prognose, dass sich die Menschen künftig immer weniger als Amerikaner, Russen, Türken, Chinesen, Inder, Tschechen, Polen oder Deutsche und auch immer weniger als Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten oder Atheisten verstehen werden, sondern vielmehr als gleichberechtigte Mitglieder einer aufrechtgehenden Primatenspezies, die mit sich und ihrem kleinen blauen Planeten sehr viel behutsamer umgehen sollte, als sie es in der Vergangenheit getan hat. Warum ich das vermute? Ganz einfach: Weil die Menschheit im Zuge ihrer kulturellen Evolution summa summarum bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat – und es angesichts dieser Entwicklung zwar möglich, aber nicht sonderlich wahrscheinlich ist, dass die nachkommenden Generationen dümmer und rückschrittlicher sein werden als wir. (Auch wenn es den einen oder anderen vielleicht schmerzen mag: Wir Heutigen bilden wohl nicht den Höhepunkt der menschlichen Kulturentwicklung …)

Abschied vom Zynismus

Im Menschen ist sich die Evolution erstmalig ihrer selbst bewusst geworden – erstmalig zumindest auf diesem Planeten, möglicherweise sogar in der gesamten Milchstraße. Dieses Bewusstsein macht uns gewiss nicht zu den "Herrschern der Erde" – das sind sehr viel eher die Mikroben, die lange vor uns existiert haben und auch noch lange nach uns existieren werden. Jedoch: Das Wissen um den evolutionären Wandel könnte uns sehr wohl in die Lage versetzen, einige Veränderungen bewusst zu steuern – nicht bloß in unserem eigenen Interesse, sondern auch im Interesse anderer empfindungsfähiger Lebewesen.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass unsere Spezies trotz des aktuellen Artensterbens, das wesentlich auf unser Konto geht, die einzige Garantie dafür ist, dass höher entwickelte Lebensformen etwas länger auf diesem Planeten existieren werden, da nur wir das Potenzial haben, globale Katastrophen abzuwehren. Und damit meine ich keineswegs nur den Klimawandel: Denn der nächste Kometeneinschlag kommt bestimmt – sofern wir Menschen nichts dagegen unternehmen – und dieser Einschlag könnte noch gravierendere Folgen haben als der Impact vor 66 Millionen Jahren, der den Untergang der Dinosaurier einleitete.

Aus diesem Grund sollten wir damit aufhören, die Menschheit schlecht zu reden oder sie gar als "Krebsgeschwür der Erde" zu betrachten, wie man es heute so häufig hört. Vermutlich ist vielen Ökologiebewegten gar nicht bewusst, wie sehr sie mit solchen hypermoralischen Sprachbildern antihumanistische Vorstellungen bedienen, die letztlich nur reaktionären Kräften in die Hände spielen. Daher sollten wir (gerade auch in der gegenwärtigen Klimadebatte) nicht vergessen, worauf sich der rationale Glaube an unsere Spezies gründet: Der Mensch ist – trotz seiner grauenvollen Geschichte und trotz der momentan besonders auffälligen "weltumspannenden Riesenblödheit", die ich in "Keine Macht den Doofen" beschrieben habe – das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste und humorvollste Tier, das sich auf diesem Planeten entwickelt hat.

Auch wenn wir uns von anderen irdischen Lebensformen nur graduell unterscheiden, so sind wir doch eine Spezies mit einem ganz besonderen biologischen Potenzial: Die Evolution hat Jahrmilliarden gebraucht, um ein Wesen hervorzubringen, das in der Lage ist, den evolutionären Prozess zu durchschauen. Schon allein deshalb wäre es schade um uns, würden wir vorzeitig von der Bühne des Lebens abtreten …

Unterstützen Sie uns bei Steady!

Der vorliegende Text wurde mit Blick auf den Internationalen Aktionstag der "Fridays for Future"-Bewegung am 29.11.2019 verfasst. Wesentliche Teile greifen auf einen längeren Vortrag zurück, den Michael Schmidt-Salomon Anfang November 2019 bei den "Evokids-Tagen" in Düsseldorf sowie an der TU Liberec (Tschechien) gehalten hat.