Heute kommt ein Film in die Kinos, der in den USA unserer Tage kaum aktueller sein könnte: Nach dem Fall des Grunsatzurteils "Roe v. Wade" ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in Gefahr. Wie es war, bevor der Supreme Court 1973 diese bahnbrechende Entscheidung fällte, zeigt der starbesetzte und an wahren Begebenheiten orientierte Film "Call Jane", der heute in die deutschen Kinos kommt.
"Wir machen alles richtig", stellt Will Griffin fest, "Wie konnte es nur so weit kommen?" Seine Frau Joy ist schwanger. Aufgrund eines seltenen Falls von Herzinsuffizienz, ausgelöst durch die Schwangerschaft, rät der Arzt ihr zur Abtreibung. Sie muss daraufhin vor einem Gremium die Situation darlegen, um eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. In einem Krankenhaus, das in den letzten zehn Jahren nur einen Schwangerschaftsabbruch genehmigt hat. Das überwiegend männliche Gremium lehnt ab. Es sei ein gesundes Baby zu erwarten. "Keine Sorge um die Mutter?", fragt die Protagonistin, die die Herren kaum zur Kenntnis nehmen. Man redet über sie, nicht mit ihr.
Ihr behandelnder Arzt schlägt als Plan B vor, eine Selbstmordgefährdung vorzutäuschen, um die Erlaubnis zum Abbruch doch noch zu erhalten. Jemand anderes rät ihr, eine Treppe hinunterzufallen, was sie auch tatsächlich versucht. Schließlich sucht sie eine illegale Abtreibungspraxis auf, flieht aber aus dem Wartezimmer. In einem Moment der Verzweiflung entdeckt sie an einer Bushaltestelle ein handgemachtes Plakat: "Schwanger? Ängstlich? Hol dir Hilfe! Ruf Jane an!" Das tut Joy. Sie wird abgeholt, soll sich die Augen verbinden und wird an einen geheimen Ort gebracht, an dem illegal Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Der Zuschauer erlebt den Beginn des Eingriffs hautnah mit, ist in "Echtzeit" dabei. Der Arzt erklärt Schritt für Schritt, was er tut, Joy zittert. "Ich habe Angst", sagt sie. "Ich weiß", antwortet der Arzt. Während er die Betäubungsspritze setzt, hört man ein Baby aus der Wohnung darüber schreien. "Sie dürfen kein Geräusch machen, egal, was", fordert er seine Patientin auf.
Zur Nachsorge geht es zu einer Frauengruppe in ein Privathaus. Joy wird eine selbstgehäkelte Decke umgelegt, sie bekommt ein Medikament, es gibt Spaghetti. "Wer von Ihnen ist Jane?", fragt sie. "Niemand ist Jane. Wir sind alle Jane." Hier dargestellt ist das "Jane Collective", eine Untergrundorganisation, die wirklich im Chicago Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre existierte und Frauen illegale, aber sichere Abtreibungen ermöglichte, tausende an der Zahl. Ihrer Familie erzählt Joy später, sie habe das Baby verloren. Es wird deutlich, welch absurde Wege Frauen gehen mussten, um eine Schwangerschaft zu beenden.
Der Film von Regisseurin Phyllis Nagy spielt 1968. Die Hauptfigur Jane Griffin lebt die übliche Hausfrauenrolle ihrer Zeit, sie unterstützt ihren Mann bei seiner Arbeit aus dem Hintergrund, kocht und kümmert sich um die Teenager-Tochter. Unversehens und ihrer ignorierten Weigerung zum Trotz, wird sie selbst Teil des Frauennetzwerks – zu dem auch eine Nonne gehört. Einmal nur soll sie vertretungsweise eine abtreibungswillige Frau abholen, doch dabei bleibt es nicht, zum Missfallen ihres Mannes, dem es nicht schmeckt, dass sich seine Frau außerhalb des Hauses betätigt (vorgeblich bei einem Malkurs). Deren konservative Werte werden wiederum durch ihr neues Ehrenamt auf die Probe gestellt: Mädchen, die ihr erstes Mal vor der Ehe haben, Frauen, die von verheirateten Männern schwanger geworden sind, die anschließend den Abbruch bezahlen. Elizabeth Banks verkörpert die adrett gekleidete Vorstadt-Mutter mit Lockenwicklerfrisur und ihre Empörung über Abweichungen von ihrem Moralkompass sehr überzeugend.
"Wir helfen Frauen. Wir stellen keine Fragen", so die Chefin der Frauengruppe, die kampferprobte Feministin Virginia, gespielt von Sigourney Weaver, die einmal mehr gut in die Rolle der bestimmten, latent kratzbürstigen Gegen-den-Strom-Schwimmerin mit losem Mundwerk passt. Ihre Community bildet den Kontrast zum immer wieder pointiert dargestellten Frauenbild der Zeit, das besonders deutlich wird in der Art und Weise, wie Männer über das weibliche Geschlecht dachten und sprachen. Im Laufe der Geschichte durchläuft die Hauptfigur eine erstaunliche Wandlung, entdeckt ungeahnte Talente an sich und beginnt, die Verhältnisse in Frage zu stellen – bis ihre Familie ihr Geheimnis herausfindet…
Der Film lebt von Situationen und Gesprächen, mit zum Teil nur sehr unterschwelliger Aussage, manchmal etwas abruptem Szenenübergang und vereinzelt etwas klischeehaft überzeichneten Sequenzen, was nicht recht zum restlichen Gesamteindruck passen will. Er atmet das Flair der späten 60er, umrahmt von Brauntönen und neben stillen Momenten auch von Musik dieser Zeit, deren Songtexte manchmal kurios-perfekt zur Szene passen ("Nobody knows about what's going on down there…", zu Deutsch: "Niemand weiß, was da unten los ist…"). Es dauert zu Beginn etwas, bis man weiß, wohin die Reise geht und man die Geschichte richtig einordnen kann. Wer laute, schnelle und offensichtliche Erzählweisen schätzt, könnte den Film langweilig finden.
Er endet mit dem Supreme-Court-Urteil "Roe v. Wade", welches das Recht auf Abtreibung in den USA 1973 grundsätzlich ermöglichte und die "Janes" überflüssig machte – bis zu diesem Sommer, als es nach fast 50 Jahren wieder gekippt wurde. Da sind wir nun also wieder.
"Call Jane" (USA 2022), 121 Minuten, FSK 12. Ab heute im Kino. Ende Oktober wurde der Film bereits auf dem von Terre des Femmes veranstalteten "Filmfest FrauenWelten" gezeigt.