Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration

"Die Welt verträgt mehr Migration"

Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands. In seinem aktuellen Buch "Über Grenzen denken" diskutiert er verschiedene Fragen der Migration unter ethischen Gesichtspunkten. Warum müssen wir über die Steuerung der Migration gerade jetzt nachdenken? Wieso ist eine großzügige Aufnahmepolitik ebenso naiv wie das Schließen der Grenzen? Wie können Ethik und Realpolitik wieder miteinander versöhnt werden. Ein Gespräch mit dem Münchener Professor für Philosophie und politische Theorie.

hpd: Herr Nida-Rümelin, die Flüchtlingssituation entspannt sich, Normalität kehrt in den bundesdeutschen Alltag ein, die einwanderungskritische AfD verliert an Zustimmung. Warum sollen wir jetzt über die ethischen Aspekte der Migration nachdenken?

Ich glaube, dass Sie mit Ihrer Einschätzung falsch liegen. Die AfD gerät gegenwärtig in eine – hoffentlich anhaltende – Krise, die damit zusammenhängt, dass die beiden großen Parteien wieder miteinander streiten. Es geht um eine Richtungsentscheidung im Herbst. Politische Auseinandersetzung tut der Demokratie gut, ihr Ausbleiben schadet ihr. Das sieht man aktuell in Österreich, wo die rechtspopulistische FPÖ Zulauf erhält, während die große Koalition weiterregiert. Aber auch in der EU, wo eine All-Parteien- und All-Staaten-Regierung in der Kommission regiert und eine echte Opposition im Parlament fehlt. In Deutschland entsteht derzeit wieder eine Spannung und prompt dünnt es an den Rändern sofort aus.

Das Ausdünnen an den Rändern hat also nichts mit dem nachlassenden Einwanderungsdruck zu tun?

Hier muss man genau hinschauen. Wenn es im Augenblick relativ wenig Zuwanderung nach Deutschland gibt, dann hängt das mit Entscheidungen zusammen, die Deutschland gar nicht getroffen hat. Die Visegrád-Staaten haben die Schließung der Balkan-Route beschlossen und den Flüchtlingsstrom quasi im Alleingang fast zum Erliegen gebracht. Wohlgemerkt fast, denn es sind allein im vergangenen Jahr immer noch über 200.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Aber erst diese Entscheidung der Visegrád-Länder und keineswegs die Politik der Bundesregierung hat den Flüchtlingsdeal mit der Türkei möglich gemacht. Ich persönlich erwarte künftig nur noch geringfügig Zuwanderung aus den Bürgerkriegsregionen, also aus Syrien, Irak oder Libyen. Das subsaharische Afrika ist meines Erachtens der Hauptquell der Migration der Zukunft. Darauf ist jedoch niemand vorbereitet.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch die ethischen Aspekte der Migration je nach Wanderungsform. Warum ist die ethische Bewertung von Armuts-, Kriegs- und Wirtschaftsmigration wichtig?

Zunächst einmal ist es wichtig, einzuräumen, dass die Übergänge, etwa zwischen Armuts- und Wirtschaftsmigration, in der Praxis fließend sind. Dennoch ist die Differenzierung wichtig. Denn wir haben weltweit ein Armuts- und Elendsproblem gewaltigen Ausmaßes. Bei 720 Millionen Menschen, die chronisch unterernährt sind, bei über 600 Millionen Menschen ohne Zugang zu Trinkwasser, bei 1,56 Milliarden Menschen, die im letzten Jahr von weniger als 2 US-Dollar Kaufkraft am Tag lebten – stellen Sie sich das einmal vor, das sind 1.500 Millionen Menschen – darf man sich nicht mit Sonntagsreden beruhigen. Bei solchen Dimensionen kann kein Mensch mit Verstand ernsthaft die Strategie verfolgen, das Elend der Welt durch eine großzügige Aufnahme von Flüchtlingen zu lindern. So beliebt dieses Mittel auch ist, es scheitert an den Realitäten.

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Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. 220 Seiten. 20,- Euro.

Inwiefern?

Man muss es nur einmal durchrechnen. Selbst wenn die reichsten Länder der Welt einen sprunghaften Bevölkerungszuwachs von zehn Prozent akzeptieren würden, dann wären wir bei einer Größenordnung von 80 bis 100 Millionen Menschen. Das ist aber immer noch nur ein Bruchteil der im Weltelend feststeckenden Menschen. Dazu kommt, dass die Kosten einer solchen Strategie mutmaßlich sehr hoch sind und Rechtspopulisten diese Verhältnisse für ihre Zwecke nutzen würden. Das heißt, die Antwort auf das Weltelend kann nicht "Grenzöffnung" oder "Aufnahme von Flüchtlingen" heißen. Das ist also ein völlig illusorisches Programm und scheitert an den Quantitäten und Realitäten.

Wirtschaftsmigration halten Sie wiederum für machbar? Warum dieser Unterschied?

Es gibt hier ein Interesse der Industriestaaten, die Fehler, die sie gemacht haben, durch Migration ausgleichen wollen. In Deutschland fehlen beispielsweise Krankenschwestern und Pflegekräfte, weil eine zu massive Verschiebung in den akademischen Bereich stattgefunden hat. Dazu kommen die Folgen des demografischen Wandels, eine überalterte Gesellschaft. Mit diesen Herausforderungen haben auch andere Staaten zu kämpfen. Sie haben ein großes Interesse an einer gesteuerten, an den eigenen Bedürfnissen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgerichteten Zuwanderung. Und es gibt sehr viele, hochqualifizierte Menschen im so genannten globalen Süden, in Südostasien, Südamerika und teilweise auch in Afrika, die eine solche Chance, wenn sie denn besteht, für sich nutzen würden. Diese Wirtschaftsmigration hat für die Herkunftsländer allerdings eine zum Teil katastrophale Folge. Sie verlieren ihre fähigsten Köpfe, man spricht deshalb vom Braindrain. Die besten der dort Ausgebildeten sehen zu, dass sie möglichst schnell nach Amerika oder Westeuropa kommen. Und weil sie dort gebraucht werden, freut man sich dort, dass sie kommen. Anders wäre das System schon jetzt kaum mehr aufrechtzuerhalten.

Sie appellieren in Ihrem Buch an die Verantwortung der aufnehmenden Staaten.

Das ist richtig. Wir können doch nicht die Entwicklungsanstrengungen dieser Länder kaputtmachen, indem wir die Sahne abschöpfen und uns achselzuckend über die Folgen in den Herkunftsregionen hinwegsetzen. Deshalb bin ich der Ansicht, dass wir eine Steuerung der Migration benötigen. Viele westliche Staaten brauchen Einwanderung, dazu zählt auch Deutschland. Aber dann bitte so, dass die Länder, aus denen diese Menschen kommen, darunter nicht leiden müssen. Es muss also Kompensationszahlungen oder Ähnliches geben, um mindestens die Ausbildungskosten und die Verluste durch den Weggang dieser Menschen auszugleichen. Aber hier versagt Deutschland bis heute, weil insbesondere die Konservativen immer noch abstreiten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und deshalb einem längst überfälligen Einwanderungsgesetz ihre Zustimmung verweigern.

Das klingt alles recht wirtschaftsorientiert. Wir haben doch aber nicht nur ein Eigeninteresse, sondern auch eine humanitäre Verantwortung.

Für Bürgerkriegsflüchtlinge gibt es einen völkerrechtlichen Rahmen, die Genfer Flüchtlingskonvention. Wir gehören dieser Konvention an und haben uns daran zu halten. Der Geist dieser Konvention besagt, dass die unterzeichnenden Staaten verpflichtet sind, Menschen, die vor Bürgerkrieg und Krieg fliehen, Schutz zu geben, und zwar so, dass nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen eine Rückkehr in die Region problemlos möglich ist. Das wiederum spricht für eine regionale Unterbringung, so wie es aktuell in Jordanien, Libanon und der Türkei gehandhabt wird. Die Türkei hat über drei Millionen syrische Flüchtlinge gegenwärtig im Land. Aber die Weltgesellschaft muss bereit sein, die Kosten, die eine solche grenznahe Unterbringung verursacht, wenigstens zu einem großen Teil zu tragen. Das war sie lange Zeit nicht. Das war der eigentliche Auslöser der Flüchtlingsdrucks gewesen, wie er 2014 und 2015 auch hier zu spüren war.

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Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin | Foto: Stephan Röhl

Haben Sie den Eindruck, dass sich, was die Verantwortungsbereitschaft der Weltgesellschaft betrifft, gerade etwas ändert? Zurückblickend bin ich skeptisch, denn sowohl die Gesinnungs- als auch die Verantwortungsethik scheinen mir in der Krise zu stecken. Zumindest kann ich weder ein besonderes Verantwortungsbewusstsein der europäischen Institutionen noch eine moralische Festigkeit in den europäischen Gesellschaften erkennen.

Man muss hier unterscheiden. Der öffentliche Diskurs über die Flüchtlingsthematik ist schlichtweg entgleist, er wurde von rechts erfolgreich instrumentalisiert. Aber auch der so genannte links-liberale Mainstream litt an einem gewissen Maß an Realitätsverweigerung. Es ist deshalb zunächst notwendig, mehr Rationalität in die Diskussion zu bringen. Nur so werden Ressentiments vermieden und verhindert, dass die Rechtspopulisten mit diesem Thema ihr Süppchen kochen. Und weil sich die Situation etwas entspannt hat – wie im Sommer die Lage im Mittelmeer ist, wird sich erst noch zeigen –, ist jetzt der beste Moment, um darüber nachzudenken, wie wir Migration steuern wollen. Ist es ein vernünftiges Konzept, alle Grenzen zu öffnen? Oder ethnisch und kulturell homogene Staaten zu schaffen, wie es Orban in Ungarn probiert? Das sind doch beides keine tragfähigen Modelle. Mein Buch versteht sich als Versuch, hier einen vernünftigen Mittelweg zu finden. Quasi ein klärender Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Wo verläuft denn der goldene Mittelweg zwischen pauschaler Grenzschließung und allgemeiner Grenzöffnung?

Wir leben gegenwärtig in einer Welt weitgehend geschlossener Grenzen. Der September 2015 und die Wochen danach waren eine absolute Ausnahme. Nicht einmal die USA sind ein Staat, der die Grenzen geöffnet hat. Unter der Präsidentschaft von Barack Obama wurden jährlich zwischen 200.000 und 400.000 Menschen nach Mexiko abgeschoben. Unter Trump wird sich das noch einmal massiv verschärfen. Ich bin deshalb der Meinung, dass die Welt eher mehr als weniger Migration verträgt, aber diese Migration muss nach den Interessen der Herkunftsländer, der Migrierenden und der aufnehmenden Gesellschaften politisch gesteuert sein.

Welches Steuerungsinteresse können die aufnehmenden Länder jenseits des demografischen Wandels und der Arbeitsmarktpolitik noch haben?

Ein soziales! Es kann doch nicht sein, dass diese Gesellschaften eine Spaltung zwischen unten und oben einfach so hinnehmen. Momentan erleben wir, dass diejenigen am unteren Ende der Einkommenspyramide die negativen Folgen der Einwanderung zu spüren bekommen, weil sich ihre Viertel verändern oder ihre ohnehin schon niedrigen Löhne durch die billige Konkurrenz noch weiter sinken, während sich die Mittelschicht und die Vermögenden über günstige Haushaltskräfte und Kindermädchen freuen und sich die anderen Folgen aber weitgehend vom Hals halten. Mir scheint das aber wirtschaftlich so gewollt. Mir erzählt niemand ernsthaft, dass die USA nicht in der Lage wäre, über zehn Millionen unangemeldete Einwanderer zu registrieren. So schlecht kann die öffentliche Verwaltung gar nicht sein. Ich vermute eher, dass das beabsichtigt ist, um einen Billigstlohnsektor zu kreieren.

Ethik und Realpolitik stehen sich aktuell geradezu konträr gegenüber, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei macht dies besonders deutlich. Welche Grundlagen müssten geschaffen werden, um eine Versöhnung beider Sphären möglich zu machen?

Ich glaube, wir müssen einen Paradigmenwechsel erreichen. Die nötige Zusammenarbeit für eine gerechtere Welt kann nicht zu einem wesentlichen Teil durch Migration erfolgen. Statt einer Entwicklungspolitik der offenen Türen braucht es fairere Welthandelsbeziehungen in einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Das wird teuer, vor allem für die Industrieländer. Denn momentan schottet sich der EU-Agrarmarkt beispielsweise ab und unterdrückt jegliche Konkurrenz aus den Entwicklungsstaaten. Das muss sich ändern, wollen wir das Problem der globalen Ungerechtigkeit ernsthaft einer Lösung entgegenführen.

Erfahren Sie im zweiten Teil unseres Interviews, welche Botschaften in der Debatte zur Flüchtlingszuwanderung gefährlich waren, worin das echte ethische Dilemma im Umgang mit der weltweiten Wanderung besteht und warum der freie Weltmarkt die bestehenden Ungerechtigkeiten gleich in doppelter Hinsicht manifestiert.