Über die evolutionären Wurzeln religiöser (und esoterischer) Gläubigkeit

Warum wir glauben

OSTERWITZ (AT). (hpd) Ob Religion oder Esoterik, die meisten Menschen hängen einem Glauben an, selbst Atheisten sind nicht selten von der Kraft der Homöopathie, der Macht der Astrologie oder von alternativen Heilmethoden in Form diverser “Wunderkuren” überzeugt. Kann es sein, dass wir Menschen, wie manche Evolutionsbiologen und Erkenntnistheoretiker meinen, zum Glauben programmiert (verdammt) sind?

Woher rührt das Bedürfnis nach einem religiösen Weltbild, warum ist es so tief in der menschlichen Psyche verankert? Nach den Kriterien der evolutionären Selektion haben sich nur Eigenschaften durchgesetzt, die von Nutzen sind – was nützt Homo sapiens der Glaube an das Unbeweisbare, das oftmals völlig Absurde und warum hat die Evolution ein so kostspieliges Phänomen wie Religion überhaupt hervorgebracht und am Leben erhalten? Rätsel, die die Wissenschaft im Zusammenhang mit Glauben seit langem beschäftigen; dazu auch die Frage, ob Religiosität und bestimmte Formen von Esoterik genetisch bedingt sind, oder auf religiösen Memen (Ideen), die sich erfolgreich vermehrt haben, beruhen.

Der Begriff “Glaube” ist mehrdeutig; im Alltagsgebrauch und auch in der Wissenschaft verstehen wir darunter Wahrscheinlichkeitsannahmen, bzw. Theorien, die grundsätzlich falsifizierbar sind. Religiöser Glaube unterscheidet sich davon durch die Postulierung absoluter, nicht falsifizierbarer “Wahrheiten”, die durch Offenbarungen, “heilige” Bücher oder auch “besondere” Menschen kundgetan wurden.

Esoteriken verstehen sich als elitäre - intuitive - “Vernunftmodelle” für Auserwählte, die “das Wahre” schauen können; sie bilden zudem einen Sammelbegriff für Praktiken, Techniken und “Denkrichtungen”, die weder empirisch noch rational überprüfbar sind.

Die Erforschung von Glaubensvorstellungen mit wissenschaftlichen Methoden (Anthropologie, Erkenntnistheorie, Evolutions- und Hirnforschung, Psychologie, Ethnologie usw.) richtet sich auf Gründe und Bedingungen religiöser Glaubensentstehung sowie auf deren Erscheinungsformen und Ausprägungen. Die Grenzen zwischen Religionen und esoterischen Praktiken sind dabei fließend, Religionen beinhalten meist staatlich anerkannte und geförderte, Esoterik dagegen staatlich nicht anerkannte, nicht geförderte, Glaubensvorstellungen (wenn eine esoterische Lehre genügend Anhänger findet, kann daraus sehr leicht eine Religion entstehen – siehe Scientology).

Die Frage nach den Gründen für die Entstehung von Religionen beschäftigte Denker von der Antike bis zur Neuzeit, die (säkulare) Antwort bestand bis vor wenigen Jahren überwiegend darin, dass es sich bei religiöser Gläubigkeit um ein kulturell bedingtes Phänomen handle. Der Mensch sei, als sich Selbstwahrnehmung und Bewusstsein hinreichend entwickelt hatten, aus der Erkenntnis seines Ausgeliefertseins, seiner Sterblichkeit und im Hinblick auf die ihn umgebenden unzähligen – oftmals bedrohlichen - Rätsel und Notlagen seiner Existenz zur Erkenntnis gelangt, dass es „höhere Mächte“ geben müsse, die man ansprechen könne und um deren Wohlwollen man sich bemühen muss. Die zu dieser Annahme noch hinzukommenden unbezweifelbaren Vorteile - z.B. in Bezug auf Gruppenbildung mit gruppenspezifischer Kooperation - haben zusätzlich beigetragen, Religionen zu entwickeln: Als soziale Systeme, deren Mitglieder sich zum Glauben an übernatürliche Akteure bekennen und ihre Anhänger mit Symbolen, Werten, Ritualen und geistigen, oftmals auch weltlichen, Führern versorgen.

Neben diesen zweifellos richtigen und wichtigen Gründen für die Entwicklung von Religiosität vermitteln neuere Erkenntnisse einschlägiger Forschung, dass die evolutionären Wurzeln für religiöses (und esoterisches) Denken stammesgeschichtlich wesentlich tiefer liegen; entsprechende Untersuchungen zeigen, dass sie sogar bei höher entwickelten Tieren ansatzweise zu finden sind. Die nachstehenden Ausführungen versuchen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den derzeitigen Erkenntnisstand darzulegen:

Evolutionäre Wurzeln für die Entwicklung religiöser (esoterischer) Gläubigkeit

Kausalität, als Bedingtheit des menschlichen Denkens und Fühlens in “Ursache und Wirkung” sowie Zufall, als kausal nicht erklärbares Ergebnis einer bestimmten Ausgangssituation, prägen unsere Weltsicht. Die Idee des Zufalls ist jedoch evolutionär sehr jung und bei Naturvölkern auch heute noch nicht zu finden: Alle Ereignisse und Erscheinungen besitzen für sie Bedeutung, allen werden Verursacher zugeschrieben (die Wahrnehmung von Zufall bedingt eine Grundfähigkeit zur Wahrscheinlichkeitseinschätzung, wobei die Entdeckung des Zufalls eine größere Menschenzahl erfordert, die bei Frühmenschen, die in kleinen Gruppen auf großen Flächen lebten, noch nicht vorhanden war).

Akteurschaftsannahmen:
Menschen wie Tiere unterliegen einem leicht auslösbaren – evolutionär fürs Überleben in einer gefährlichen Umwelt notwendigen - Instinkt, allem, was sich bewegt, was Geräusche hervorruft, was kompliziert ist, einen Akteur mit ganz bestimmten Absichten (in Form von Annahmen, Wünschen und psychischen Zuständen) zuzuschreiben; die Annahme, es geschehe etwas ohne besonderen Grund, widerstrebt unserer Natur zutiefst. (Selbsttest: Nachtwanderung in einem unbekannten dichten Wald mit vielerlei unbekannten Geräuschen).

Intentionalitätsannahmen:
Die den unbekannten/unsichtbaren “Akteuren” zugeschriebenen Absichten muss man zu erkennen versuchen, um dafür oder dagegen rationale Verhaltensweisen (Listen, Gegenlisten, Finten usw.) entwickeln zu können. Intentionalitätsannahmen entstanden, bzw. entstehen auf verschiedenen Kognitionsstufen: Zuunterst im Bemühen um Erkenntnis und Befriedigung eigener Bedürfnisse (bei allen höher entwickelten Säugetieren) bis zum (auf einer höheren Kognitionsstufe liegenden) Wunsch, die Bedürfnisse und Absichten anderer Wesen (auch von Ahnen, Geistern und Göttern) zu verstehen - eine “Theory of Mind” zu entwickeln - und dabei zu versuchen, diese zu beeinflussen. In den noch höher entwickelten Kognitionsstufen (“ich denke, dass du denkst, dass ich denke, dass du denkst…”) entsteht der Wille, auch göttliche Absichten zu erkennen und zu beeinflussen, wobei für diesen Zweck u.a. Rituale geschaffen werden. Die höchste Stufe der Intentionalitätsannahme kreiert komplexe Sozialsysteme und Strukturen und ist in religiöser Hinsicht vom Wunsch bestimmt, den Willen der Götter mit menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu versöhnen.

Alle höher entwickelten Lebewesen leben permanent mit intentionalen Annahmen, wobei die Hirnforschung zeigt, dass das Gehirnvolumen mit dem Intentionalitätsannahmevermögen korreliert; nichtintentionales, bzw. nichtteleologisches Denken fällt sehr schwer.

Filter und Voreinstellungen im Nervensystem:
Unser Gehirn besitzt aus guten Gründen Vorlieben für Anomalien, Ausnahmen und Rätselhaftes. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, eine selektive Wahrnehmung ist deshalb für unser geistiges Aufnahme- und Erinnerungsvermögen überlebenswichtig.

Hypothesenbildung und Mustererkennung:
Gehirnforscher bezeichnen das menschliche Gehirn als Fiktionserzeugungsapparat. Akteurs- und Intentionalitätsannahmen gemeinsam mit der Vorliebe unseres Gehirns für Anomalien und Rätselhaftes führen zu Hypothesen, wobei es nahe liegt – und entwicklungsgeschichtlich sinnvoll war - alle Rätsel unsichtbaren Kräften zuzuschreiben. Gleichzeitig produziert das Gehirn auch automatisch Wiederholungen seiner Zuschreibungen und Vorlieben, wodurch die Wirkung von Annahmen und bestimmten Eindrücken ganz wesentlich verstärkt wird.