Ein denkwürdiger Abend mit Prof. Rainer Mausfeld

Erziehung und Neoliberalismus

Die Regionalgruppe Hamburg der Giordano-Bruno-Stiftung nimmt sich in einer 4-teiligen Vortragsreihe des Themas "Erziehung und Lernen" an. Nach dem fulminanten Eröffnungsvortrag von Michael Schmidt-Salomon ("Mein Kopf gehört mir") folgte nun ein nicht minder fulminanter Abend mit Prof. Rainer Mausfeld: "Demokratie und Erziehung – Von den Leitidealen der Aufklärung zur neoliberalen Indoktrination".

Bereits das Abstract des Vortrages ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In überzeugender Weise wurde herausgearbeitet, dass eine demokratische Gesellschaft darauf angewiesen ist "Entwicklungsbedingungen bereitzustellen, unter denen sich die natürlichen intellektuellen und moralischen Befähigungen des Menschen, insbesondere Freiheit, Solidarität und Kreativität als psychische Grunddimensionen menschlicher Existenz, in angemessener Weise entfalten können".

Prof. Mausfeld griff in seinem Vortrag auf Erkenntnisse aus Philosophie, Psychologie und Kognitionsforschung zurück und forderte die Zuhörer durch eine ebenso engagierte wie nüchterne Durchdringung komplexer Sachverhalte heraus.

Einleitend stellte Prof. Mausfeld fest, dass wir uns gern mit herausragenden Beispielen unserer positiven Eigenschaften und Fähigkeiten schmücken, während wir die ebenso vorhandenen negativen Eigenschaften nicht so gern in den Blick nehmen. Es zeichnet aber den Menschen – vor allen Tieren – ein unendliches Potential in beide Richtungen aus. Das wussten – auf phänomenologischem Wege – schon die alten Griechen. Die Geschichte zeigt es und die modernen Naturwissenschaften können es auf ihre Ursprünge zurückführen.

Die Ambivalenzen, in denen der Mensch lebt, erklären sich aus der unendlichen Komplexität des menschlichen Gehirns. Deren zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Bereiche kommunizieren unentwegt – liegen aber gleichzeitig in Konkurrenz. Wir müssen handeln und können nur eine Entscheidung treffen – spätere Korrekturen unbenommen. In dieser Situation erweist sich der später entstandene kognitive präfrontale Kortex den älteren Anteilen als zu langsam und unterlegen. Beispiele der alltäglichen "Unvernunft" erleben wir im Kleinen wie im Großen. Die Geschichte der Menschheit durchzieht eine gewaltige Blutspur, die es im Tierreich nicht gibt. Nach epochalen Katastrophen fassen wir erschüttert den festen Entschluss, "so" nicht weiter sein zu wollen, woraus z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstanden ist. Als handlungsleitendes Motiv im täglichen Geschäft verliert der Entschluss aber nach einigen Jahren deutlich an Strahlkraft, droht aus dem Blickfeld zu geraten.

Das Gehirn kann als ein "Möglichkeitsorgan" bezeichnet werden, das aus begrenzten biologischen Gegebenheiten unendliche Möglichkeiten macht – einzigartig in der Tierwelt. Die Formel vom nackten Affen erweist sich als unzureichend. Das subjektive Gefühl einer fest umrissenen Persönlichkeit ist nicht haltbar; der Boden des alltäglichen Selbstverständnisses gerät nachhaltig ins Wanken, was jenseits aller Theorie in persönlichen Krisensituationen sofort evident wird.

Die intrapsychischen Spannungszustände, resultierend aus dem beschriebenen Wettstreit, müssen abgebaut werden. Der Weg der Bonobos – Sex in allen erdenklichen Varianten und zu jeder Zeit – ist uns nicht beschieden. Wir liegen auf der Linie der Schimpansen – und das bedeutet Aggressivität.

Das Spannungsverhältnis könnte nicht deutlicher zum Ausdruck kommen als in der Feststellung, dass neuere Forschungen bereits bei Säuglingen ein Potential zu Moral und Perspektivübernahme belegen. Damit – so ein wichtiges Zwischenfazit – hat Erziehung eine ganz besondere "Hebammenfunktion". Dass Angst, Hass und Neid "Seelengifte" sind, weiß man seit der Antike. Wie ihnen wirkungsvoll begegnen, wenn niemand ihnen den endgültigen Garaus machen kann?

Der Versuch, das Dilemma mittels metaphysischer Spekulationen in Gestalt der Religionen zu überwinden, muss naturgemäß scheitern. Es führt nicht zu einem Ziel, sondern in die Irre. Abgesehen davon finden die Kirchen als total anti-demokratische Organisationen vor den Augen von Prof. Mausfeld auch sonst keine Gnade.

Mausfeld definiert die Demokratie als eine Plattform, einen Schutzbalken des Menschen gegen seine eigenen destruktiven Potentiale und gegen negative soziale Dynamiken. Institutionalisierte Verfahren müssen für eine gegenseitige Kontrolle und Ausgleich der Interessen sorgen. Eine schonungslose Auseinandersetzung aller Beteiligten unter Aufdeckung aller Sachverhalte ist die Voraussetzung. Eine funktionierende Demokratie ist deshalb in der Definition von Prof. Mausfeld eine äußerst harte Einhegung von Partikularinteressen und Ungleichgewichten. Damit ist die Illusion einer Konsens-Demokratie dahin. Und die Möglichkeit eines demokratischen Ringens auf der Ebene einer sich immer weiter emporrankenden Repräsentations-Ebene erscheint kaum effizient möglich.

So nüchtern und kritisch Mausfeld den Menschen und die Demokratie in den Blick nimmt, so beurteilt er auch "den Markt". Es gibt ihn nicht im Sinne eines Naturgesetzes. Er ist zwar hochgradig komplex, wird aber "gemacht" und muss im Interesse aller Beteiligten gestaltet werden – also demokratisch.

Damit nähern wir uns einem weiteren zentralen Punkt des Abends: dem Menschenbild und der gezielten, aber intransparenten Beeinflussung des menschlichen Selbstverständnisses im Rahmen des Neoliberalismus. Man ist versucht zu sagen: aus niederen Beweggründen. Es war jedenfalls schockierend, Einzelheiten zu der Rolle von B. F. Skinner zu erfahren, dem Begründer der sehr erfolgreichen Verhaltenstherapie. Mausfeld zitierte Skinner mit der Definition des Menschen als: "just a bunch of neurons". Das erscheint schon auf den ersten Blick als ebenso unterkomplex wie zynisch. Prof. Mausfeld brachte weitere Belege für diese Position, die hier nicht alle wiedergegeben werden können.

Unabhängig davon, ob sich die Verhaltenstherapie seit Skinner weiterentwickelt hat oder nicht: Das zu Grunde liegende destruktive Menschenbild geht eine innige Verbindung ein mit einer um sich greifenden Manipulations- und Verwertungslogik, dem Wesenskern des Neoliberalismus. Diese schwer zu überwindende Prägung findet ihren Ausdruck in Intelligenztests, deren Sinn Prof. Mausfeld mit fast heiterer Zielsicherheit widerlegte. Weiterhin in den auf Konkurrenz ausgelegten Leistungsnachweisen von Schulen und Universitäten, an denen diese inhaltlich förmlich zu ersticken drohen, und an den länderübergreifenden Vergleichstests, deren Sinnhaftigkeit auf breite Kritik stößt.

Das Gift der Angst, ein nach Prof. Mausfeld zentrales Steuerungselement im Neoliberalismus, wirft seinen Schatten auf das gesamte Bildungssystem. Abzulesen auch an der latenten Sorge der Eltern um eine frühzeitige Förderung ihres Nachwuchses mit dem Ziel der späteren Wettbewerbsfähigkeit.

All das geht Hand in Hand mit einer frühen Prägung auf Konsum und die Identifizierung mit Produkten und Marken. Noch nachhaltiger aber wirkt die Prägung des Selbstverständnisses durch das Denken in Kategorien der Eigenvermarktung (der Ich-AG) – auch ausgedrückt in "Kompetenzen" der unterschiedlichsten Art, die aus der der Persönlichkeit gewissermaßen herausgelöst werden. In diesem Zusammenhang dürfte so manchem ein Humboldt-Zitat in die Glieder gefahren sein:

"Wenn aber ein Mensch lediglich auf fremde Forderungen und Anweisungen handelt, so mögen wir bewundern, was er tut, aber wir verachten, was er ist."

Das Gegengift sieht Prof. Mausfeld in den Konzepten der Aufklärung und des Humanismus. Epikur und Lukrez kamen in den Blick. Eine Selbstverantwortung, die sich nicht gegen die eigene Natur wendet, diese aber zu zügeln und in konstruktive Richtung zu entwickeln bemüht ist. Was in Bezug auf die Schule nur heißen kann, die ungeheure Neugier, mit der ausgestattet die Kinder in die Schule eintreten, nicht mit Verunsicherung, unsinnigen Tests und den Ausflüssen neoliberaler Moral zu erschlagen.

Man kann Prof. Mausfeld nur zustimmen, dass das Thema "Erziehung und Lernen" unendlich komplex ist und weiterer Ausleuchtung bedarf. Und auch darin muss man Prof. Mausfeld Recht geben: es bedarf eines Druckes in Form eines "revolutionären Umdenkens", zu dem jeder aufgerufen ist und jeder in seinem Wirkungskreis entsprechend seinen Möglichkeiten beitragen kann. Verzagen gilt nicht angesichts der Tatsache, dass Veränderungen letztlich immer durch eine anfängliche Minderheit initiiert wurden. Mausfeld schloss mit der zeitlosen Mahnung: "Demokratie ist immer massiv bedroht, und wir müssen heute so kämpfen, als hätten wir sie nicht, und zwar täglich."

So sahen das auch die Zuhörer, die Prof. Mausfeld teilweise Beifall auf offener Szene spendeten.

Foto: © GBS Hamburg
Foto: © gbs Hamburg


Zwei weitere Grundsatz-Vorträge hat die gbs Hamburg geplant, die weiteren Zündstoff für die Betrachtung des Themas versprechen:

  • 8.11.2018 – Prof. Dr. Dipl.-Ing. Birgit Spies: "Bildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Was brauchen und was können wir"
  • 6.12.2018 – Dipl. Ing., Psychotherapeut und Managementberater Heinz Becker: "Fit fürs Leben – Wie hilfreicher Einfluss möglich ist"