Michael Schmidt-Salomon in Hamburg

Mein Kopf gehört mir!

mss_in_hamburg.png

Was wissen wir heute über emotionale und kognitive Prozesse von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen? Setzen wir das in KITA, Schule und weiterführenden Ausbildungs-Institutionen um? Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon machte den Auftakt einer spannenden Vortragsreihe der Giordano-Bruno-Stiftung Hamburg zum Thema "Erziehung und lernen" und gleichzeitig einer Kampagne der Giordano-Bruno-Stiftung für die Rechte von Kindern.

"Mein Kopf gehört mir – Warum Kinder ein Recht auf vorurteilsfreie Bildung haben", so lautete der Titel des Vortrages, den Dr. Schmidt-Salomon mit einem knackigen Freud-Zitat einleitete, der vor 90 Jahren meinte: "Wer sich einmal dazu gebracht hat, all die Absurditäten, die die religiösen Lehren ihm zutragen, ohne Kritik hinzunehmen, dessen Denkschwäche braucht uns nicht arg zu wundern."

Von einer Erziehung zur Realität sind wir auch heute noch meilenweit entfernt.

Als Beleg für diese Aussage weist er beispielhaft auf die Auditkriterien der Kindertageseinrichtungen im Bistum Trier hin, wonach die Verantwortlichen aufgefordert sind, den Kindern die Botschaft Jesu erfahrbar zu machen, die heilige Schrift zu vermitteln, biblische Erzählungen mit Lebenssituationen der Kinder zu verknüpfen und Jesus sowie weitere vorbildhafte Figuren der Kirchengeschichte als Vorbild darzustellen.

Tatsächlich wird den Kindern die Schöpfungsgeschichte nähergebracht und diese kreationistischen Vorstellungen müssen später im Evolutionsunterricht mühevoll aufgebrochen werden.

Ist dies die Aufgabe von Bildungseinrichtungen? Warum wird dies öffentlich finanziert? Darf ein weltanschaulich neutraler Staat es zulassen, dass Bildungseinrichtungen, die öffentlich finanziert werden, Glaubensmissionierung durchführen und evidente Tatsachen leugnen?

Seine Antwort darauf lautet wenig überraschend nein!

Kinder haben ein Anrecht, vorurteilsfrei in die Welt eingeführt zu werden, die Tatsachen des Lebens zu erfahren und verschiedene Perspektiven kennenzulernen, mit deren Hilfe sie später ihre eigene Sicht der Dinge entwickeln können, ohne von vorneherein ideologisch in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden.

Warum ist das bisher so? Kinder werden offenbar nicht als eigenständige Individuen gesehen, sondern als Teil einer Familienidentität.

"Es gibt katholische, protestantische, sunnitische oder schiitische Kinder genauso wenig wie christdemokratische, liberale, sozialdemokratische oder grüne Kinder", so lautet eine mittlerweile sehr bekannte wie zutreffende Formulierung von Dr. Schmidt-Salomon.

Der Staat hat die Aufgabe, Kindern im Sinne der Chancengleichheit Zugang zu Wissensquellen zu verschaffen, die ihnen in ihrem Elternhaus verschlossen bleiben. Dies muss rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral erfolgen.

In Deutschland liegt hier einiges im Argen. Am Beispiel des Evokids-Projektes macht Schmidt-Salomon deutlich, dass es dringend erforderlich ist, Kindern schon sehr früh zu vermitteln, woher der Mensch kommt und dass er mit allen anderen Lebewesen verwandt ist. Auch im Hinblick auf die Integration ist es vorteilhaft, Kenntnis darüber zu erlangen, dass uns Menschen untereinander sehr viel mehr verbindet als trennt. Die Evolutionstheorie ist für unser modernes Weltbild von größter Bedeutung. Die Verengung auf die eigene Gruppe ist eines der herausragenden Probleme in der heutigen Welt.

Die Evolutionstheorie stellt nicht notwendigerweise einen Widerspruch zur Religion dar. Ein Widerspruch besteht zu veralteten, ideologisierten Formen der Religion, die leider sehr verbreitet sind.

Auch im Religionsunterricht werden die Schüler in einer künstlichen Filterblase gehalten. Pädagogische Argumente für die Erteilung eines konfessionsgebundenen Religionsunterrichtes bestehen nicht. Das Argument dafür ist lediglich der Art. 7 des Grundgesetzes. Hier wird allerdings übersehen, dass dieser Artikel den Religionsunterricht in Bekenntnisschulen regelt. Für bekenntnisfreie Schulen gibt es keine Pflicht zur Erteilung von Religionsunterricht.

Erstaunlicherweise existieren in ganz Deutschland keine bekenntnisfreien Schulen, da die länderspezifischen Schulgesetze diese Schulform nicht kennen, sondern wie z. B. in Nordrhein-Westfalen die "Ehrfurcht vor Gott" sogar als Ziel für die Bildung im Schulgesetz vorsehen.

Gerade Schüler muslimischer Eltern sind geprägt durch patriarchalische Stereotypen oder Angst vor der Hölle.

Michael Schmidt-Salomon weist in diesem Zusammenhang auf das Buch von Susanne Wiesinger "Kulturkampf im Klassenzimmer" hin, die sagt: "Oft denke ich: Die haben gewonnen und wir haben verloren. In Wirklichkeit haben die Kinder verloren."

Hier kommt den Bildungseinrichtungen eine besondere Rolle bei der Förderung der offenen Gesellschaft zu. Eine Reform ist schwierig, aber nötig.

Es ist an der Zeit, die Rechte der Kinder zu stärken. Es ist Unrecht, Kinder weltanschaulich derart zu manipulieren.

Michael Schmidt-Salomon stellte dann die Forderungen der Giordano-Bruno-Stiftung vor:

  1. Öffentliche Bildungsinstitutionen müssen die Grundprinzipien (Liberalität, Egalität, Säkularität, Individualität) der offenen Gesellschaft sehr viel entschiedener vermitteln und verteidigen.
  2. Das Bildungssystem muss rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral ausgerichtet sein, "Fake News" und Glaubensmissionierung haben in öffentlich geförderten Bildungseinrichtungen nichts zu suchen.
  3. Kitas sind weder Kinderverwahrstationen noch Orte der Glaubensmission, sondern öffentlich geförderte Bildungsinstitutionen, die entsprechende Qualitätsanforderungen erfüllen müssen. (80 % der 18–34-jährigen Deutschen misstrauen religiösen Institutionen, aber mehr als die Hälfte der Kitas sind kirchlich!)
  4. Öffentliche Schulen sollten in "bekenntnisfreie Schulen" umgewandelt werden, die statt des Religionsunterrichtes einen für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen religions- und weltanschauungskundlichen Philosophie- und Ethikunterricht anbieten.
  5. Die öffentlichen Bildungssysteme (insbesondere Kitas und Schulen) müssen sehr viel besser ausgestattet werden, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
  6. Das Berliner Neutralitätsgesetz müsste auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt werden, da sich die weltanschauliche Neutralität des Staates im Auftreten seiner Repräsentanten widerspiegeln sollte. (In erster Linie haben sich muslimische Organisationen dagegen gewehrt: Kopftücher sollten auch in Schulen getragen werden dürfen.)
  7. Als Gegenmaßnahme zur religiösen Indoktrinierung und patriarchalen Freiheitsberaubung in vielen Familien sollte in öffentlichen Bildungseinrichtungen ein Kopftuchverbot für Mädchen gelten. (Hinweis auf Petition von Terre des Femmes: Kopftuchverbot in öffentlichen Gebäuden und bei Kindern)
  8. Der Staat muss seine Rechtsnormen konsequent durchsetzen – auch dann, wenn er dabei auf religiöse oder kulturelle Widerstände stößt. (Ahmad Mansour: Jugendämter legen keine gleichen Maßstäbe bei muslimischen Familien an, auch bei regelmäßiger Gewalt gegenüber Kindern unterbleiben Konsequenzen!)
  9. Die Rechte der Kinder müssen ins Grundgesetz aufgenommen werden, damit sie als eigenständige Individuen anerkannt und ihre Interessen geschützt werden. (Die elterliche Sorge wird höher gewichtet als die Rechte der Kinder. Beispiel Beschneidungsgesetz: Archaische Glaubensvorschriften haben höheres Gewicht als das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder!)

Unterrichten wir unsere Kinder nicht evident und rational, dann profitieren davon religiöse Extremisten und nationale Chauvinisten, deren Geschäftsmodell auf kollektiver Denkschwäche gründet, frei nach dem Motto "Auf hohlen Köpfen ist gut trommeln!"

Abschließend stellte Michael Schmidt-Salomon klar, dass es zur Verteidigung der offenen Gesellschaft kaum bessere Optionen gibt als die Stärkung der Kinderrechte und die Verbesserung der Bildungssysteme.

In der anschließenden traditionellen Fragerunde vermochte Dr. Schmidt-Salomon der anwesenden säkularen "Gemeinde" einen eher optimistischen Blick in die Zukunft in das nicht vorhandene Gebetsbuch zu schreiben.

Er wies darauf hin, dass er im Zuge der Gründung des Deutschen Kitaverbandes mit allen familienpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen gesprochen habe. Auch die Sprecher der SPD und CDU, die sich als kirchentreu geoutet hätten, sagten, dass die Kirchenprivilegien in absehbarer Zeit fallen müssen.

Er machte deutlich, dass es zukünftig nicht mehr möglich sein wird, gegen konfessionsfreie Menschen Politik zu machen.

Die Bewegung, die weltweit am stärksten wächst, ist die säkulare. Auch im Iran oder Saudi-Arabien ist dies zu beobachten. Die religiöse Gegenbewegung ist eine Reaktion darauf.

Wer letztlich die Oberhand behält, kann zum heutigen Zeitpunkt nicht gesagt werden.

"Wenn man das Immunsystem der Vernunft schon in der frühen Kindheitsphase lahmlegt und unempfindlich macht für logische und empirische Widersprüche, dann hat das fatale Konsequenzen", so der Vortragende.

Genau darauf bauen Populisten und höhlen den Wahrheitsbegriff zu einer Art Meinung aus, die unterschiedlich sein kann.

Auch die säkulare Szene sollte sich immer bewusst machen, dass ein alter, weißer Mann im Recht sein kann und eine schwarze, behinderte Lesbe im Unrecht. Die Güte eines Argumentes ist unabhängig davon, wer es äußert.

Mit einer kleinen Anekdote zur Jahresendfeier im Hause Schmidt-Salomon (nach demokratischer Wahl bringt das Mandarinenmännchen die Geschenke) endete die spannende Veranstaltung.

Die Vortragsreihe geht weiter, jeweils um 19 Uhr in den Räumlichkeiten der GLS-Bank in der Düsternstr. 10 in Hamburg mit folgenden Referenten:
25.10.2018 Prof. Dr. Mausfeld "Demokratie und Erziehung"
08.11.2018 Prof. Dr. Dipl.-Ing. Birgit Spies "Bildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit"
06.12.2018 Heinz Becker "Fit fürs Leben?"

Mehr dazu auf der Website der gbs Hamburg.