Interview mit Franz Josef Wetz

"Ein vitales Selbst wird sich schwer mit dem Tod abfinden"

Der Wunsch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, findet sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Die meisten Religionen reagieren auf die menschliche Furcht vor dem Ende mit dem Angebot eines ewigen Lebens. Doch wie geht der moderne Mensch, für den Gott längst tot ist, mit der Unausweichlichkeit des eigenen Todes und dem Ableben seiner Nächsten um? Der Philosoph Franz Josef Wetz geht in seinem neuen Buch "Tot ohne Gott" diesen Fragen nach. Der hpd sprach mit ihm über Selbsterhaltung, Tod und Trost.

hpd: Sie beschreiben den Tod als das "Gegenteil einer Chance". Was macht Sie eigentlich so sicher, dass nach dem Tod nichts kommt?

Franz Josef Wetz: Die jahrelange Auseinandersetzung mit Philosophie, Religion, Wissenschaft – und ein reflektiert kritischer gesunder Menschenverstand. Im Buch stehen Nahtoderfahrungen, die verschiedenen Vorstellungen von Unsterblichkeit, Wiedergeburt, Auferstehung sowie die diffuse Seelenesoterik kirchenferner Kreise auf dem Prüfstand. Alle Argumente werden einer fairen, verständigen und zeitgemäßen Untersuchung unterzogen. Dennoch bleiben nichts als verstörende Wahrheiten von trostloser Banalität übrig. Nach dem Endspiel gibt es kein Nachspiel mehr. Milliarden Menschen irren.

Zweifellos klingt eine solche Aussage extrem überheblich. Doch welche Anmaßung ist unbescheidener, schamloser, eitler: der fromme Glaube ans persönliche ewige Leben oder die scheinbar freche Behauptung, dass nicht unseretwegen die Naturgesetze unterbrochen werden. Zudem haben die moderne Kosmologie, Evolutionsbiologie und Neurophysiologie die Plausibilitätsbedingungen der großen Sinn- und Glaubenserzählungen über den Tod längst zerbrochen. "Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben", heißt es in Theodor Fontanes Effi Briest. Die Aussicht auf Unsterblichkeit oder Auferstehung ist so gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass Blitz und Donner, elektromagnetische Entladungen, in letzter Beziehung auf das Grollen von Zeus zurückgehen.

Dann stimmt aber doch die Sentenz von Epikur, dass uns der Tod nicht kümmern sollte, denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn er sich einstellt, sind wir nicht mehr da. Gibt es aus einer Perspektive, die auf eine religiöse Einordnung des Lebens verzichtet, wirklich mehr zum Thema Tod zu sagen?

Wir Naturalisten stützen uns gerne auf diesen Gedanken Epikurs, der über Montaigne bis Wittgenstein und Sartre regelmäßig formuliert wird. Epikurs verblüffend einfache Erkenntnis ist zweifellos richtig, und doch greift sie zu kurz. Heute behaupten zwar viele Menschen, nur Angst vorm Sterben, aber keine Angst vorm Tod zu haben, und zitieren dann gerne Epikur. Doch fällt es leicht, die eigene Vergänglichkeit auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn man mitten im Leben steht. Solchen vergnüglichen Zeitgenossen prophezeie man mal ernsthaft, dass ihre nächste Vorsorgeuntersuchung zu einer infausten Prognose führen wird oder dass sie bereits am 1. Februar 2019 bestattet sein werden. Genügt ihnen jetzt Epikur immer noch?

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Im Grunde ist gar nicht das Nichtsein das Problem, sondern das Ende des Lebens. Der Tod beraubt den Einzelnen seines Daseins. Er bedeutet Verlust an Lebenszeit, egal, wie lange man noch zu leben wünscht. Wer am Leben hängt, es sogar liebt und bejaht, hakt es nicht ohne weiteres ab. In erster Linie ist es unser biologisch erklärbares Selbsterhaltungsstreben, verbunden mit unseren Wünschen und Interessen, die uns bei durchschnittlicher Vitalität nicht so leicht mit unserer Vergänglichkeit abfinden lassen. Demnach hat Epikur zwar recht, aber unser Selbsterhaltungsstreben ist gewöhnlich so stark, dass die Todesangst nicht einfach durch rationale Argumente beschwichtigt werden kann.

Wir Naturalisten sollten den Tod nicht deshalb bagatellisieren, weil ihn zu dramatisieren religiösen Sinnversprechen zugutekommen könnte. Denn die berechtigte Abwehr von religiösem Aberglauben führt zu einer falschen Verharmlosung der Todesangst. Die Kehrseite unserer Todesangst ist unser Selbsterhaltungsstreben. Wir sollten nicht verkennen, wie leidensanfällig und trostbedürftig die Menschen im Anbetracht ihrer Sterblichkeit sind. Der Tod ist groß, wie Rainer Maria Rilke betont, unsere Rückkehr ins Nichts die größte Zumutung ans Leben.

Aber der Tod kommt unweigerlich und ist natürlich, Sie schreiben selbst, er sei "eingenäht" in das Leben. Wäre es da nicht das beste, sich an die eigene Vergänglichkeit zu gewöhnen?

Wie soll man sich an etwas gewöhnen können, das man gar nicht kennt. Jeder ist der erste, der stirbt. Zu sterben bedeutet nicht nur, das letzte Mal etwas zum ersten Male tun, sondern auch das letzte Mal etwas zum einzigen Male tun. Trotzdem ist die Kunst des Sterbens ein großes Thema der Philosophie. Die dazugehörige Trostliteratur mit ihren geistreichen Reflexionen wird im Buch sorgfältig dargestellt und ihre Anwendbarkeit aufs Leben überprüft. Aber die umfangreiche Trostliteratur empfiehlt nicht nur rationale und beruhigende Weisheiten, sondern fordert auch zur Arbeit an sich selbst auf. Man soll sich an den Tod gewöhnen, indem man beispielsweise sein ganzes Leben lang der eigenen Sterblichkeit gedenkt, um nur einen Ratschlag zu nennen. Obwohl jedoch das Projekt einer lebenslangen Einübung ins Sterben, der wiederholten Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit sowie der regelmäßigen Verinnerlichung kluger Tröstungen sinnvoll ist, ein vitales Selbst, dem etwas am eigenen Leben liegt, wird sich schwer mit dem Tod abfinden, geschweige denn anfreunden wollen.

Lässt sich aus der Unausweichlichkeit des Todes, wenn wir uns schon nicht daran gewöhnen können, ein existenzieller Mehrwert ziehen?

In der heutigen Jugendkultur gibt es die Devise: "Yolo", und das bedeutet: "you only live once": "Man lebt nur einmal", wie es auch in Goethes Clavigo heißt. Gerade wer mitten im Leben steht, kann dem Bewusstsein eigener Endlichkeit tatsächlich einen existenziellen Mehrwert entlocken. Dazu gehören solche guten Vorsätze wie, künftig bewusster zu leben, mehr über das nachzudenken, was für einen wertvoll und wichtig ist, Ärgerliches leichter zu nehmen oder seine Kräfte nicht unsinnig zu verschwenden. Solche existenziellen Kurskorrekturen kann das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit auslösen, und natürlich sind sie sinnvoll. Jedoch versuche ich im Buch auch zu zeigen, wie sehr der Gedanke an die Einmaligkeit des Lebens die Menschen unter Druck setzen kann. Die Knappheit der Lebenszeit kann immensen Stress hervorrufen. Niemand möchte sein Dasein verpfuschen. Die Angst vorm Verpassen ist ziemlich groß. Dabei ist keineswegs von vornherein klar, worauf es im Leben wirklich ankommt …

Dann ist der Tod wohl im strengen Wortsinn "sinnlos". Inwieweit kann ich mich etwas Sinnlosem rational annähern? Und warum sollte das lohnen?

Wie gerade ausgeführt, kann das Bewusstsein des Todes durchaus sinnvoll sein, der Tod selbst aber ist sinnlos in dem Sinne, dass er nichts Mysteriöses oder Rätselhaftes ist. Gerade seiner Unvorstellbarkeit wegen wirkt er geheimnisvoll. Aber wenn der Tod eintritt, tritt eigentlich gar nichts ein. Das Leben hört einfach nur auf. Der Tod ist der Preis des Lebens, eine Naturtatsache, der Abschluss eines biologischen Prozesses, hervorgerufen durch Krankheit, Unfall oder die Begleiterscheinungen eines hohen Alters. Objektiv gesehen ist der Tod also nicht mehr als nichts, subjektiv für jeden Einzelnen aber nicht weniger als alles: der Abschied von allem Liebgewonnenen, das eigene Leben eingeschlossen, ohne Wiederkehr und Wiedersehen. Denn ist das Leben erst einmal vorüber, so ist es unwiederbringlich dahin, ein für allemal. Jeder von uns stirbt aus!

Darum beschäftigen wir Menschen uns auch nicht so gerne mit diesem Thema. Die Ungewissheit der Todesstunde wiegt uns in der Illusion irdischer Unsterblichkeit. Man weiß natürlich, dass man sterben wird. Aber irgendwann zu sterben heißt, niemals zu sterben. Dennoch ist es sinnvoll, sich hin und wieder mit der eigenen Endlichkeit zu befassen. Irgendwann holt die Realität doch jede Todesverdrängung ein. Schwere Krankheiten, das Alter, der Tod enger Freunde und naher Angehöriger wie überhaupt das eigene Orientierungsbedürfnis und die eigene Nachdenklichkeit suchen nach Klarheit, Trost, Trauerhilfen und Ähnlichem mehr. Früher oder später betreffen diese Fragen jedermann, so dass es schwer fällt, ihnen auszuweichen. Sie gehen jeden von uns an. Dazu ist das Buch geschrieben: Es möchte eine zeitgemäße Aufklärungs- und Trostschrift mit hoher lebenspraktischer Relevanz sein. Wer sich ernsthaft für das Leben interessiert, den interessiert auch der Tod.

Wird der medizinische Fortschritt etwas an unserem Verhältnis zum Tod ändern? Stirbt es sich als 180-Jähriger leichter als mit 80 Jahren?

Die moderne Medizin und Lebensweise der westlichen Zivilisation verschiebt seit Jahrzehnten die Grenzen der Sterblichkeit. Dieser Zugewinn an Lebenszeit kann ein großes Geschenk sein, sofern mit der Lebensverlängerung eine Verlangsamung des Alterungsprozesses und eine Vermeidung typischer Altersleiden einhergehen. Aber wie oft muss für die Lebensverlängerung eine schmerzhafte Multimorbidität und Immobilität in Kauf genommen werden. Dennoch hängen die Menschen am Leben, egal, wie alt sie werden, solange sie noch eine gewisse Vitalität und Daseinsfreude verspüren. Dabei müssen sie das Leben gar nicht übermäßig lieben, um auch morgen noch weiterleben zu wollen.

Nicht die Lebensjahre entscheiden, ob es leichter oder schwerer fällt zu sterben, sondern die Lebenskraft. Wenn der Elan nachlässt, der Lebensstrom versiegt, kann zu leben mit einem Male an Attraktivität verlieren. Das bloße Existieren kann unglaublich anstrengend werden. Schon am frühen Morgen fühlen sich ältere Menschen bisweilen erschöpft. Der Bewegungsradius verkleinert sich immer weiter. Die Botenstoffe und damit verbunden das Selbsterhaltungsstreben gehen zur Neige. Kommen noch Langeweile, Warten auf nichts, immer der gleiche Trott hinzu, kann man durchaus den Geschmack am Ganzen verlieren. Nur die wenigsten scheiden wie gesättigte Gäste von der Lebenstafel. Niemand stirbt ruhig, nur weil er lebenssatt ist, wenn er noch einen starken Lebenswillen besitzt, sondern vielmehr weil er lebensmüde geworden ist, Oft besteht noch eine diffuse Angst vor dem letzten Moment, aber man ist so ausgelaugt und verbraucht, dass man nichts mehr hören und sehen möchte. Dagegen halten alle Übrigen sich noch nicht für reif genug, um zu sterben, und hoffen auf Aufschub, eine Galgenfrist: Sonst jederzeit, nur heute und morgen noch nicht!

Wir haben nun viel über den Tod geredet, aber Ihr Buch behandelt ja auch Phänomene um den Tod herum: das Altwerden, das Sterben, Trauer und Gedenken. Welche Aspekte einer neuen Kultur des Abschieds haben sich hier denn aufgetan?

Ja, im Buch gehe ich ausführlich auch auf das Altern als Vorbote des Todes ein, auf die Frage, warum wir altern, die markanten Lebenseinschnitte, wenn sich die großen Lebensversprechen allmählich im welken Laub verblasster Träume verlieren. Natürlich geht es auch um die Freuden und Chancen des Alters, wenn man – ohne von senilem Ehrgeiz geplagt zu werden – die Gelegenheit zu ergreifen versteht, sich nichts mehr beweisen zu müssen, ja sogar sich unterbieten zu dürfen.

Genauso befasse ich mich eingehend mit den dramatischen Umbrüche der heutigen Sterbe-, Bestattungs- und Trauerkultur. Immer mehr Bürger verabschieden sich von Kirche und Religion. Neue Abschiedsformen werden erfunden, die zum einen der wachsenden Entkirchlichung, zum anderen der wachsenden Individualisierung gerecht werden. Das Recht auf Selbstbestimmung wird mittlerweile nicht nur bis zum Tod, sondern noch darüber hinaus in Anspruch genommen, bleibt aber durch den Gesetzgeber teilweise ungerechtfertigt eingeschränkt. Bestattungen bewegen sich heute zwischen aufwändigem Pomp auf der einen Seite, anonymer Rasenbeisetzung ohne jedes rituelle Beiwerk auf der anderen Seite. Der traditionelle Zusammenhang von Grab, Trauer und Erinnerung löst sich auf. Trauerforen im Internet entstehen. Diese und ähnliche Phänomene der heutigen Zeit werden gründlich analysiert.

Nun ist eines der Leichnam, der verwesliche Rückstand einer gewesenen Person, der bestattet wird; ein anderes ist der Verstorbene, das lebendige Subjekt in der Erinnerung, mit dessen Verlust wir fertig werden müssen. Die Kehrseite der zunehmenden Individualisierung und Säkularisierung ist eine wachsende Sprachlosigkeit. Viele Menschen stehen hilflos dem Tod ihrer Freunde und Angehörigen gegenüber. Jeder ist für seine Trauerarbeit inzwischen selbst verantwortlich, was allerdings zahlreiche Zeitgenossen maßlos überfordert. Trauerselbsthilfegruppen nehmen zu. In der säkularen Moderne wächst der Bedarf nach existenziellen Erleichterungen bei der Bewältigung des Todes. Aber wie ist Trost ohne Gott möglich? Wie kann eine Trauerarbeit ohne Religion gelingen? Was heißt eigentlich Trauerarbeit? Was bedeutet Trost? Wie oben angedeutet, gibt es große Kataloge tröstlicher Weisheiten, deren Kerngedanken im Buch entfaltet werden. Sie alle sind beherzigenswert. Aber wie tragfähig sind solche philosophischen Ratschläge und philosophischen Beschwichtigungen? Warum funktionieren sie oftmals nicht? Welche zusätzlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sie im konkreten Leben wirksam werden können?

Gibt es am Ende, Hand aufs Herz, denn einen wirksamen Trost? Sie sprechen von einem "Arrangement", das zwar nicht mit dem Tod versöhne, aber menschlich sei – wie sieht das aus?

Diese Frage erlaubt eine direkte Anknüpfung an die vorherige Antwort. Damit die nicht religiösen, tröstlichen Weisheiten unserer Kultur zu einem Rüstzeug werden können, mit dessen Hilfe wir besser gegen den Tod gewappnet sind, ist eine Grundhaltung der Bescheidenheit erforderlich. Diese kann aus dem Bewusstsein der Geringfügigkeit des eigenen Daseins in den unermesslichen Weiten des Universums hervorgehen. Einzelheiten zu dieser Stil- und Formbildung unserer Existenz werden im Buch erläutert. Allerdings widerspricht solch unprätentiöser Relativierung unseres Daseins das schon öfter genannte biologisch verankerte Selbsterhaltungsstreben, das sich nicht beliebig ausschalten lässt. Hieraus folgt gewissermaßen eine Kollision zwischen der gefühlten Nichtigkeit und erwünschten Wichtigkeit der eigenen Existenz. Diese Entzweiung lässt sich nicht aufheben oder versöhnen, sondern muss ausgetragen und ausgehalten werden. Bestenfalls kommt es zu einem zeitweiligen Gleichgewicht zwischen Selbstentsagung und Selbstbehauptung. Am Ende läuft tatsächlich alles auf ein Arrangement, und das heißt auf Improvisation und Kompromiss hinaus; jeder andere Vorschlag wäre unrealistisch. Wechselseitiger Beistand, nicht religiöse, also maßvolle Tröstungen und die ihnen angemessene Grundhaltung der Bescheidenheit können die Not zwar lindern, in die uns der Tod stürzt. Sie können aber die wehmütige Trauer nicht beheben, sondern nur dazu beitragen, dass der Einzelne mit der Endlichkeit besser zurechtkommt, ohne daran zu zerbrechen.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Franz Josef Wetz: Tot ohne Gott. Eine neue Kultur des Abschieds. Aschaffenburg 2018, Alibri Verlag. 309 Seiten, Klappenbroschur, Euro 20.-, ISBN 978-3-86569-249-8