Der Wunsch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, findet sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Die meisten Religionen reagieren auf die menschliche Furcht vor dem Ende mit dem Angebot eines ewigen Lebens. Doch wie geht der moderne Mensch, für den Gott längst tot ist, mit der Unausweichlichkeit des eigenen Todes und dem Ableben seiner Nächsten um? Der Philosoph Franz Josef Wetz geht in seinem neuen Buch "Tot ohne Gott" diesen Fragen nach. Der hpd sprach mit ihm über Selbsterhaltung, Tod und Trost.
hpd: Sie beschreiben den Tod als das "Gegenteil einer Chance". Was macht Sie eigentlich so sicher, dass nach dem Tod nichts kommt?
Franz Josef Wetz: Die jahrelange Auseinandersetzung mit Philosophie, Religion, Wissenschaft – und ein reflektiert kritischer gesunder Menschenverstand. Im Buch stehen Nahtoderfahrungen, die verschiedenen Vorstellungen von Unsterblichkeit, Wiedergeburt, Auferstehung sowie die diffuse Seelenesoterik kirchenferner Kreise auf dem Prüfstand. Alle Argumente werden einer fairen, verständigen und zeitgemäßen Untersuchung unterzogen. Dennoch bleiben nichts als verstörende Wahrheiten von trostloser Banalität übrig. Nach dem Endspiel gibt es kein Nachspiel mehr. Milliarden Menschen irren.
Zweifellos klingt eine solche Aussage extrem überheblich. Doch welche Anmaßung ist unbescheidener, schamloser, eitler: der fromme Glaube ans persönliche ewige Leben oder die scheinbar freche Behauptung, dass nicht unseretwegen die Naturgesetze unterbrochen werden. Zudem haben die moderne Kosmologie, Evolutionsbiologie und Neurophysiologie die Plausibilitätsbedingungen der großen Sinn- und Glaubenserzählungen über den Tod längst zerbrochen. "Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben", heißt es in Theodor Fontanes Effi Briest. Die Aussicht auf Unsterblichkeit oder Auferstehung ist so gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass Blitz und Donner, elektromagnetische Entladungen, in letzter Beziehung auf das Grollen von Zeus zurückgehen.
Dann stimmt aber doch die Sentenz von Epikur, dass uns der Tod nicht kümmern sollte, denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn er sich einstellt, sind wir nicht mehr da. Gibt es aus einer Perspektive, die auf eine religiöse Einordnung des Lebens verzichtet, wirklich mehr zum Thema Tod zu sagen?
Wir Naturalisten stützen uns gerne auf diesen Gedanken Epikurs, der über Montaigne bis Wittgenstein und Sartre regelmäßig formuliert wird. Epikurs verblüffend einfache Erkenntnis ist zweifellos richtig, und doch greift sie zu kurz. Heute behaupten zwar viele Menschen, nur Angst vorm Sterben, aber keine Angst vorm Tod zu haben, und zitieren dann gerne Epikur. Doch fällt es leicht, die eigene Vergänglichkeit auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn man mitten im Leben steht. Solchen vergnüglichen Zeitgenossen prophezeie man mal ernsthaft, dass ihre nächste Vorsorgeuntersuchung zu einer infausten Prognose führen wird oder dass sie bereits am 1. Februar 2019 bestattet sein werden. Genügt ihnen jetzt Epikur immer noch?
Im Grunde ist gar nicht das Nichtsein das Problem, sondern das Ende des Lebens. Der Tod beraubt den Einzelnen seines Daseins. Er bedeutet Verlust an Lebenszeit, egal, wie lange man noch zu leben wünscht. Wer am Leben hängt, es sogar liebt und bejaht, hakt es nicht ohne weiteres ab. In erster Linie ist es unser biologisch erklärbares Selbsterhaltungsstreben, verbunden mit unseren Wünschen und Interessen, die uns bei durchschnittlicher Vitalität nicht so leicht mit unserer Vergänglichkeit abfinden lassen. Demnach hat Epikur zwar recht, aber unser Selbsterhaltungsstreben ist gewöhnlich so stark, dass die Todesangst nicht einfach durch rationale Argumente beschwichtigt werden kann.
Wir Naturalisten sollten den Tod nicht deshalb bagatellisieren, weil ihn zu dramatisieren religiösen Sinnversprechen zugutekommen könnte. Denn die berechtigte Abwehr von religiösem Aberglauben führt zu einer falschen Verharmlosung der Todesangst. Die Kehrseite unserer Todesangst ist unser Selbsterhaltungsstreben. Wir sollten nicht verkennen, wie leidensanfällig und trostbedürftig die Menschen im Anbetracht ihrer Sterblichkeit sind. Der Tod ist groß, wie Rainer Maria Rilke betont, unsere Rückkehr ins Nichts die größte Zumutung ans Leben.
Aber der Tod kommt unweigerlich und ist natürlich, Sie schreiben selbst, er sei "eingenäht" in das Leben. Wäre es da nicht das beste, sich an die eigene Vergänglichkeit zu gewöhnen?
Wie soll man sich an etwas gewöhnen können, das man gar nicht kennt. Jeder ist der erste, der stirbt. Zu sterben bedeutet nicht nur, das letzte Mal etwas zum ersten Male tun, sondern auch das letzte Mal etwas zum einzigen Male tun. Trotzdem ist die Kunst des Sterbens ein großes Thema der Philosophie. Die dazugehörige Trostliteratur mit ihren geistreichen Reflexionen wird im Buch sorgfältig dargestellt und ihre Anwendbarkeit aufs Leben überprüft. Aber die umfangreiche Trostliteratur empfiehlt nicht nur rationale und beruhigende Weisheiten, sondern fordert auch zur Arbeit an sich selbst auf. Man soll sich an den Tod gewöhnen, indem man beispielsweise sein ganzes Leben lang der eigenen Sterblichkeit gedenkt, um nur einen Ratschlag zu nennen. Obwohl jedoch das Projekt einer lebenslangen Einübung ins Sterben, der wiederholten Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit sowie der regelmäßigen Verinnerlichung kluger Tröstungen sinnvoll ist, ein vitales Selbst, dem etwas am eigenen Leben liegt, wird sich schwer mit dem Tod abfinden, geschweige denn anfreunden wollen.
Lässt sich aus der Unausweichlichkeit des Todes, wenn wir uns schon nicht daran gewöhnen können, ein existenzieller Mehrwert ziehen?
In der heutigen Jugendkultur gibt es die Devise: "Yolo", und das bedeutet: "you only live once": "Man lebt nur einmal", wie es auch in Goethes Clavigo heißt. Gerade wer mitten im Leben steht, kann dem Bewusstsein eigener Endlichkeit tatsächlich einen existenziellen Mehrwert entlocken. Dazu gehören solche guten Vorsätze wie, künftig bewusster zu leben, mehr über das nachzudenken, was für einen wertvoll und wichtig ist, Ärgerliches leichter zu nehmen oder seine Kräfte nicht unsinnig zu verschwenden. Solche existenziellen Kurskorrekturen kann das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit auslösen, und natürlich sind sie sinnvoll. Jedoch versuche ich im Buch auch zu zeigen, wie sehr der Gedanke an die Einmaligkeit des Lebens die Menschen unter Druck setzen kann. Die Knappheit der Lebenszeit kann immensen Stress hervorrufen. Niemand möchte sein Dasein verpfuschen. Die Angst vorm Verpassen ist ziemlich groß. Dabei ist keineswegs von vornherein klar, worauf es im Leben wirklich ankommt …
Dann ist der Tod wohl im strengen Wortsinn "sinnlos". Inwieweit kann ich mich etwas Sinnlosem rational annähern? Und warum sollte das lohnen?
Wie gerade ausgeführt, kann das Bewusstsein des Todes durchaus sinnvoll sein, der Tod selbst aber ist sinnlos in dem Sinne, dass er nichts Mysteriöses oder Rätselhaftes ist. Gerade seiner Unvorstellbarkeit wegen wirkt er geheimnisvoll. Aber wenn der Tod eintritt, tritt eigentlich gar nichts ein. Das Leben hört einfach nur auf. Der Tod ist der Preis des Lebens, eine Naturtatsache, der Abschluss eines biologischen Prozesses, hervorgerufen durch Krankheit, Unfall oder die Begleiterscheinungen eines hohen Alters. Objektiv gesehen ist der Tod also nicht mehr als nichts, subjektiv für jeden Einzelnen aber nicht weniger als alles: der Abschied von allem Liebgewonnenen, das eigene Leben eingeschlossen, ohne Wiederkehr und Wiedersehen. Denn ist das Leben erst einmal vorüber, so ist es unwiederbringlich dahin, ein für allemal. Jeder von uns stirbt aus!
Darum beschäftigen wir Menschen uns auch nicht so gerne mit diesem Thema. Die Ungewissheit der Todesstunde wiegt uns in der Illusion irdischer Unsterblichkeit. Man weiß natürlich, dass man sterben wird. Aber irgendwann zu sterben heißt, niemals zu sterben. Dennoch ist es sinnvoll, sich hin und wieder mit der eigenen Endlichkeit zu befassen. Irgendwann holt die Realität doch jede Todesverdrängung ein. Schwere Krankheiten, das Alter, der Tod enger Freunde und naher Angehöriger wie überhaupt das eigene Orientierungsbedürfnis und die eigene Nachdenklichkeit suchen nach Klarheit, Trost, Trauerhilfen und Ähnlichem mehr. Früher oder später betreffen diese Fragen jedermann, so dass es schwer fällt, ihnen auszuweichen. Sie gehen jeden von uns an. Dazu ist das Buch geschrieben: Es möchte eine zeitgemäße Aufklärungs- und Trostschrift mit hoher lebenspraktischer Relevanz sein. Wer sich ernsthaft für das Leben interessiert, den interessiert auch der Tod.
Wird der medizinische Fortschritt etwas an unserem Verhältnis zum Tod ändern? Stirbt es sich als 180-Jähriger leichter als mit 80 Jahren?
Die moderne Medizin und Lebensweise der westlichen Zivilisation verschiebt seit Jahrzehnten die Grenzen der Sterblichkeit. Dieser Zugewinn an Lebenszeit kann ein großes Geschenk sein, sofern mit der Lebensverlängerung eine Verlangsamung des Alterungsprozesses und eine Vermeidung typischer Altersleiden einhergehen. Aber wie oft muss für die Lebensverlängerung eine schmerzhafte Multimorbidität und Immobilität in Kauf genommen werden. Dennoch hängen die Menschen am Leben, egal, wie alt sie werden, solange sie noch eine gewisse Vitalität und Daseinsfreude verspüren. Dabei müssen sie das Leben gar nicht übermäßig lieben, um auch morgen noch weiterleben zu wollen.
Nicht die Lebensjahre entscheiden, ob es leichter oder schwerer fällt zu sterben, sondern die Lebenskraft. Wenn der Elan nachlässt, der Lebensstrom versiegt, kann zu leben mit einem Male an Attraktivität verlieren. Das bloße Existieren kann unglaublich anstrengend werden. Schon am frühen Morgen fühlen sich ältere Menschen bisweilen erschöpft. Der Bewegungsradius verkleinert sich immer weiter. Die Botenstoffe und damit verbunden das Selbsterhaltungsstreben gehen zur Neige. Kommen noch Langeweile, Warten auf nichts, immer der gleiche Trott hinzu, kann man durchaus den Geschmack am Ganzen verlieren. Nur die wenigsten scheiden wie gesättigte Gäste von der Lebenstafel. Niemand stirbt ruhig, nur weil er lebenssatt ist, wenn er noch einen starken Lebenswillen besitzt, sondern vielmehr weil er lebensmüde geworden ist, Oft besteht noch eine diffuse Angst vor dem letzten Moment, aber man ist so ausgelaugt und verbraucht, dass man nichts mehr hören und sehen möchte. Dagegen halten alle Übrigen sich noch nicht für reif genug, um zu sterben, und hoffen auf Aufschub, eine Galgenfrist: Sonst jederzeit, nur heute und morgen noch nicht!
Wir haben nun viel über den Tod geredet, aber Ihr Buch behandelt ja auch Phänomene um den Tod herum: das Altwerden, das Sterben, Trauer und Gedenken. Welche Aspekte einer neuen Kultur des Abschieds haben sich hier denn aufgetan?
Ja, im Buch gehe ich ausführlich auch auf das Altern als Vorbote des Todes ein, auf die Frage, warum wir altern, die markanten Lebenseinschnitte, wenn sich die großen Lebensversprechen allmählich im welken Laub verblasster Träume verlieren. Natürlich geht es auch um die Freuden und Chancen des Alters, wenn man – ohne von senilem Ehrgeiz geplagt zu werden – die Gelegenheit zu ergreifen versteht, sich nichts mehr beweisen zu müssen, ja sogar sich unterbieten zu dürfen.
Genauso befasse ich mich eingehend mit den dramatischen Umbrüche der heutigen Sterbe-, Bestattungs- und Trauerkultur. Immer mehr Bürger verabschieden sich von Kirche und Religion. Neue Abschiedsformen werden erfunden, die zum einen der wachsenden Entkirchlichung, zum anderen der wachsenden Individualisierung gerecht werden. Das Recht auf Selbstbestimmung wird mittlerweile nicht nur bis zum Tod, sondern noch darüber hinaus in Anspruch genommen, bleibt aber durch den Gesetzgeber teilweise ungerechtfertigt eingeschränkt. Bestattungen bewegen sich heute zwischen aufwändigem Pomp auf der einen Seite, anonymer Rasenbeisetzung ohne jedes rituelle Beiwerk auf der anderen Seite. Der traditionelle Zusammenhang von Grab, Trauer und Erinnerung löst sich auf. Trauerforen im Internet entstehen. Diese und ähnliche Phänomene der heutigen Zeit werden gründlich analysiert.
Nun ist eines der Leichnam, der verwesliche Rückstand einer gewesenen Person, der bestattet wird; ein anderes ist der Verstorbene, das lebendige Subjekt in der Erinnerung, mit dessen Verlust wir fertig werden müssen. Die Kehrseite der zunehmenden Individualisierung und Säkularisierung ist eine wachsende Sprachlosigkeit. Viele Menschen stehen hilflos dem Tod ihrer Freunde und Angehörigen gegenüber. Jeder ist für seine Trauerarbeit inzwischen selbst verantwortlich, was allerdings zahlreiche Zeitgenossen maßlos überfordert. Trauerselbsthilfegruppen nehmen zu. In der säkularen Moderne wächst der Bedarf nach existenziellen Erleichterungen bei der Bewältigung des Todes. Aber wie ist Trost ohne Gott möglich? Wie kann eine Trauerarbeit ohne Religion gelingen? Was heißt eigentlich Trauerarbeit? Was bedeutet Trost? Wie oben angedeutet, gibt es große Kataloge tröstlicher Weisheiten, deren Kerngedanken im Buch entfaltet werden. Sie alle sind beherzigenswert. Aber wie tragfähig sind solche philosophischen Ratschläge und philosophischen Beschwichtigungen? Warum funktionieren sie oftmals nicht? Welche zusätzlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sie im konkreten Leben wirksam werden können?
Gibt es am Ende, Hand aufs Herz, denn einen wirksamen Trost? Sie sprechen von einem "Arrangement", das zwar nicht mit dem Tod versöhne, aber menschlich sei – wie sieht das aus?
Diese Frage erlaubt eine direkte Anknüpfung an die vorherige Antwort. Damit die nicht religiösen, tröstlichen Weisheiten unserer Kultur zu einem Rüstzeug werden können, mit dessen Hilfe wir besser gegen den Tod gewappnet sind, ist eine Grundhaltung der Bescheidenheit erforderlich. Diese kann aus dem Bewusstsein der Geringfügigkeit des eigenen Daseins in den unermesslichen Weiten des Universums hervorgehen. Einzelheiten zu dieser Stil- und Formbildung unserer Existenz werden im Buch erläutert. Allerdings widerspricht solch unprätentiöser Relativierung unseres Daseins das schon öfter genannte biologisch verankerte Selbsterhaltungsstreben, das sich nicht beliebig ausschalten lässt. Hieraus folgt gewissermaßen eine Kollision zwischen der gefühlten Nichtigkeit und erwünschten Wichtigkeit der eigenen Existenz. Diese Entzweiung lässt sich nicht aufheben oder versöhnen, sondern muss ausgetragen und ausgehalten werden. Bestenfalls kommt es zu einem zeitweiligen Gleichgewicht zwischen Selbstentsagung und Selbstbehauptung. Am Ende läuft tatsächlich alles auf ein Arrangement, und das heißt auf Improvisation und Kompromiss hinaus; jeder andere Vorschlag wäre unrealistisch. Wechselseitiger Beistand, nicht religiöse, also maßvolle Tröstungen und die ihnen angemessene Grundhaltung der Bescheidenheit können die Not zwar lindern, in die uns der Tod stürzt. Sie können aber die wehmütige Trauer nicht beheben, sondern nur dazu beitragen, dass der Einzelne mit der Endlichkeit besser zurechtkommt, ohne daran zu zerbrechen.
Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.
Franz Josef Wetz: Tot ohne Gott. Eine neue Kultur des Abschieds. Aschaffenburg 2018, Alibri Verlag. 309 Seiten, Klappenbroschur, Euro 20.-, ISBN 978-3-86569-249-8
25 Kommentare
Kommentare
Udo Zeitvogel am Permanenter Link
"Solchen vergnüglichen Zeitgenossen prophezeie man mal ernsthaft, dass ihre nächste Vorsorgeuntersuchung zu einer infausten Prognose führen wird oder dass sie bereits am 1. Februar 2019 bestattet sein werden.
Also ich würde mich freuen. Nicht nur dass es mir erlauben würde, meine Ersparnisse in wenigen Wochen rauszuhauen, ohne vor der Obdachlosigkeit stehen zu müssen. Sondern ich würde mich über eine Garantie freuen, nach dem 1. Februar 2019 nie wieder irgendeine Form des Leids oder der Negativität erleben zu müssen, egal was passiert. Im Prinzip hätte ich auch nichts dagegen, heute nacht unerwartet im Schlaf zu sterben. Oder in der nächsten halben Stunde ohne Vorwarnung für immer bewusstlos umzukippen.
Es sind vielmehr die physiologischen und psychologischen Leidensformen, sowie die praktischen und rechtlichen Barrieren gegen den Tod, die ich negativ sehe. Mit der Idee der Nichtexistenz als etwas Neutrales, das immerhin besser ist als alles noch so kleine Negative im Leben, habe ich mich schon lange angefreundet. Und nichts gegen Hedonismus und Lust am Leben, aber als Sinnkonstrukt reicht es schon spätestens dann nicht mehr aus, wenn man das realistisch unvermeidbare kleine und große Leid aggregativ dagegenrechnet.
Werner Helbling am Permanenter Link
Die Natur hat sich über Millionen von Jahren auf recyclieren ausgerichtet.
Rüdiger von Gizycki am Permanenter Link
Das Geborenwordensein wird voll und ganz akzeptiert. Und jeder weiß, das er sterben muss, weiß alles Lebendige.
"Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das leben will."
Albert Schweitzer
Insofern könnte der Tod ohne Furcht bewältigt werden, wenn wir das Leben im Sinne seiner schöpferischen Kraft als das Heilige begreifen. Ein Gott ist dabei nicht erforderlich und sogar kontraproduktiv!
Klaus am Permanenter Link
Ein kluger Kopf hat Albert Schweitzer mal umformuliert: ""Ich bin Leben, das Leben muss, inmitten von Leben, das leben muss." Leben ist immer ein Zwang, von Anfang an, niemand wird gefragt, ob er will.
Thomas R. am Permanenter Link
""Ich bin Leben, das Leben muss, inmitten von Leben, das leben muss.""
-
Das trifft ja nur für Wesen zu, die nicht wissen, daß sie ihr Leben jederzeit beenden können.
-
-
Kinderkriegen ist tatsächlich egoistisch, aber ein "Verbrechen" hauptsächlich in der Hinsicht, daß man neue "Ressourcenfresser" in die Welt setzt, statt sich erstmal um die schwersten Leiden derer zu kümmern, die bereits existieren. Tiervermehrer werden angesichts chronisch überfüllter Notstationen zurecht kritisiert, aber für Menschen gelten - wie so oft - andere Maßstäbe.
-
"Insofern ist erst das Ende des Lebens auch das Ende des Zwangs bzw. der Beginn der wirklichen Freiheit."
-
Der Tod ist doch kein erlebbarer Zustand der Freiheit, sondern einfach Nichtexistenz. Und überhaupt: warum flüchten Sie nicht einfach in diese ach so wunderbare "Freiheit"?
Klaus am Permanenter Link
1. Zwang kann also nur jemand erleben, der weiß, dass er ihn auch beenden könnte? Natürlich nicht. Zwang wird im Gegenteil unerträglich, wenn man die Aussichtslosigkeit der Situation spürt.
2. Kinderkriegen ist natürlich auch ein Verbrechen den Kindern gegenüber, weil sie in ein Leben (und zwangsläufig Leiden) gezwungen wurden, ohne gefragt worden zu sein, ob sie es auch wollen.
3. Freiheit ist also nur "Erlebnis", hat also Event-Charakter? Man könnte diesen Freiheitsbegriff natürlich auch philosophisch definieren, wenn man zu abstraktem Denken bereit ist. Und "flüchten" (wieso ist das Flucht?) deshalb nicht, weil man trotz aller erkannten und zu ertragenden Widrigkeiten durch sein eigenes Verhalten das Leid anderer (z. B. der Tiere) lindern kann. Das reicht doch.
Thomas R. am Permanenter Link
"1. Zwang kann also nur jemand erleben, der weiß, dass er ihn auch beenden könnte?"
-
-
"2. Kinderkriegen ist natürlich auch ein Verbrechen den Kindern gegenüber, weil sie in ein Leben (und zwangsläufig Leiden) gezwungen wurden, ohne gefragt worden zu sein, ob sie es auch wollen."
-
Da es unmöglich ist, noch nicht existierende Wesen zu fragen, ob sie leben wollen werden, kann man auch niemandem vorwerfen, es nicht getan zu haben. Die weitaus meisten Menschen leben (trotz teilweise schweren Leides) immerhin gerne genug, um sich nicht umzubringen, also ist die Unvermeidbarkeit vielen Leides an sich kein Grund dafür, auf Fortpflanzung zu verzichten und letztlich das Aussterben der Menschheit zu betreiben. Um gegen Einschränkungen der Lebensqualität durch VERMEIDBARES Leid vorzugehen, gibt es die Ethik. Es liegt also weitgehend bei uns selbst, wie schrecklich das "Verbrechen" an unseren Nachkommen ausfällt.
-
"3. Freiheit ist also nur "Erlebnis", hat also Event-Charakter?"
-
Unsinn. Ich habe nur festgestellt, daß es absurd ist, den Tod und mit ihm die Nichtexistenz als Zustand der Freiheit zu betrachten.
-
"Und "flüchten" (wieso ist das Flucht?)"
-
Flucht aus einem so furchtbaren Leben, daß Sie Ihre Zeugung als "Verbrechen" bezeichnen.
-
"deshalb nicht, weil man trotz aller erkannten und zu ertragenden Widrigkeiten durch sein eigenes Verhalten das Leid anderer (z. B. der Tiere) lindern kann. Das reicht doch."
-
Na supi. Dann kann ja die "wirkliche Freiheit" noch etwas warten.
Udo Zeitvogel am Permanenter Link
Müssen wir mal wieder so tun, als hätten wir Suizidrechte, obwohl wir faktisch keine haben? Nie die themearelevanten Beiträge auf hpd gelesen?
Thomas R. am Permanenter Link
Um nicht zum Leben "gezwungen" zu sein, braucht man braucht doch kein "Recht" auf Suizid, sondern nur die FÄHIGKEIT dazu.
Udo Zeitvogel am Permanenter Link
Die Verbote der humanen und medizinisch zuverlässigen Mittel wie etwa Barbituraten dienen doch gerade zur Unterdrückung dieser Fähigkeit in der Praxis. Ansonsten wären sie ja irrelevant.
Thomas R. am Permanenter Link
Das hat doch mit meiner Feststellung nichts zu tun. Nur, wer FAKTISCH nicht in der Lage ist, sich (wie "human" oder "inhuman" auch immer!) umzubringen, ist zum Leben gezwungen - Punkt.
Udo Zeitvogel am Permanenter Link
Die Verbote werden doch FAKTISCH (danke für die All-Caps) erzwungen. Mit kleinlicher Wortklauberei brauchen wir da nicht anzufangen.
Thomas R. am Permanenter Link
Meinem Beitrag vom 1.12. ist nichts hinzuzufügen, denn er sagt alles, was es zum Thema "erzwungenes Leben" zu sagen gibt.
Udo Zeitvogel am Permanenter Link
Sehr gut. Dann brauchen wir uns über Definitionen auch nicht zu streiten. Danke für Ihre Unterstützung.
Andreas Lichte am Permanenter Link
Ich möchte dieses Interview als Quell der Freude nur noch mit einem kleinen Jubel-Ruf ergänzen:
"Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der Metzger schon eines und das andere mit den Augen auswählt: denn wir wissen nicht in unseren guten Tagen, welches Unheil eben jetzt das Schicksal uns bereitet - Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung, Wahnsinn, Tod usw."
Arthur Schopenhauer
Thomas R. am Permanenter Link
Bin ich Franz Josef Wetz, ohne es zu wissen? Bekomme ich auch Tantiemen für sein Buch? - Es freut doch immer wieder zu erfahren, daß man mit seinen "abwegigen" Gedanken nicht allein ist.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Muss ich lesen, denke ich.
Emmerich Lakatha am Permanenter Link
Offenkundig hatten Lebewesen, die sich bis zum Letzten gegen das Sterben wehren, evolutionär eine bessere Überlebenschance. Aber auch sie müssen aufgeben, wenn das Sich-Wehren sinnlos geworden ist.
Ich lebe seit Jahresbeginn in einem Seniorenheim. Damit bin ich in der Zielgerade zum Tod. Es ist interessant zu erleben, wie alle von uns versuchen, die Zeit bis zum bitteren Ende zu überbrücken. Einige nehmen an den gebotenen Aktivitäten und Unterhaltungsprogramme teil, andere spielen tagelang Karten oder vertreiben ich mit Gleichgesinnten die Zeit. Es gibt auch Solche, die ständig nur vor sich hersehen und von einer Mahlzeit zur anderen warten. Dann gibt es noch die Bettenstation als Endstation. Am furchtbarsten empfinde ich, dass noch voll in Kraft befindliche Menschen mit 50 Jahren arbeitslos abgeschoben werden. Wenn sie dann schließlich alt und krank sind, wandern sie in Pflegeheime. Immer mehr Pflegepersonal wird gebraucht, ist aber nicht vorhanden, weil nicht genügend Geld zur Verfügung steht.
Ich gründete einen philosophischen Gesprächskreis. In nur 10 Monaten gelang es mir, den Atheismus „gesellschaftsfähig“ zu machen. Während die Katholiken, Protestanten und Zeugen des Jehovas von ihren Seelsorgern laufend betreut werden, hat die gbs Regionalgruppe Österreich überhaupt kein Interesse, sich um die 30 Seniorenheime der Stadt Wien zu kümmern. Welche Wertschätzung erfreuen sich alte Menschen für den Atheismus? Das war einer der wichtigsten Gründe, warum ich gbs verlassen habe. Nun werde ich mir das vorliegende Buch kaufen. Hoffentlich bringt es nicht nur graue Theorie.
Andrea Pirstinger am Permanenter Link
Tod nimmt dem Individuum das Ego (ich).
Das "große Leben" reproduziert sich auf "Teufel komm raus" - ohne Rücksicht auf das "Schicksal" des einzelnen Individuums/Egos.
Unser Ego-Tod ist aus meiner Sicht nicht "die große Zumutung unsererseits ANS Leben" sondern die große Zumutung des großen Lebens an UNS kleine menschliche Tiere.
Ich differenziere weiterhin zwischen den Begriffen/Worten "ich" und "selbst".
Klaus am Permanenter Link
Als Zehnjähriger bekam ich zur Erstkommunion von einer Tante ein Buch geschenkt, dessen Titel lautete: "Fromme Geschichten für kleine Leute".
Krongold am Permanenter Link
Eine schöne Inhaltsangabe des Buches.
Krongold am Permanenter Link
Das kränkende des Todes eines Individuums ist, dass er so trivial ist.
Wie banal ist der Tod eines Tieres, welches gerade auf der Autobahn verendet, wie unberührt lebt es sich weiter, wenn ein Mensch das Zeitliche segnet, wie schnell geht man zur Tagesordnung über?
Den Tod zu verstehen und dessen Sinnhaftigkeit zu begreifen, gelingt meines Erachtens nur, wenn man einen gedanklichen Ansatz verfolgt, der über das Individum hinaus geht, die individuelle Existenz als einen Teil eines übergeordneten "Gemeinwesens" zu begreifen, der sich im Einzelwesen manifestiert, aber nicht identisch mit ihm ist. Sozusagen als Metaebene. Diesen Gedanken habe ich in meinem Roman "Der Tanz der Bienen" in Analogie zum Verhalten eines Bienenvolkes ein wenig in populärer Form ausgestaltet.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Tania Munz "Cogito ergo summ, summ, summ" (to bee or not to bee)
H.Scheunemann am Permanenter Link
"Dann ist der Tod wohl im strengen Wortsinn "sinnlos". "
Tut mir leid, aber der Satz ist schlicht falsch, und es ist für mich überraschend, wie man über Sterben und Tod reden kann, ohne die Deutung aus der Sicht der Evolutionsbiologie mit heranzuziehen.
Ohne den ständigen Anpassungsprozess inm Wechsel der Generationen wäre das Leben längst ausgestorben, nur so konnte die Anpassung an die wechselnen Lebensbedingungen auf er Erde erfolgen. Also: der Tod ist notwendige Voraussetzung für die notwendigen Anpassungen! Also sehr sinnvoll!
Und auch die Angst vor dem Sterben lässt sich sehr einfach erklären: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Eine Tierart, die nmicht versucht, bis zum letzten um das überleben zu kämpfen, ist den anderen unterlegen und stirbt aus. Dieser unbedingte Lebenswillen ist natürlich in allen Lebewesen tief verankert und kann letztlich von dem spät entstandenen Großhirn nicht kontrolliert werden, auch wenn der Verstand während des ganzen Lebens etwas anderes gedacht hat. Man frage die Pflegekräfte in den Hospizen, wie sich die Sterbenden dann doch an die letzten Hoffnungen klammern.
Zu glauben, man könne aus Religion oder Philosophie zu dem Thema ernstzunehmende Erkenntnis gewinnen, heißt nichts anderes als sich an die falsche Adresse zu wenden.
Scheunemann
Thomas R. am Permanenter Link
Herrn Wetz geht es doch um die Frage, wie die Menschen in ihrer psychologischen (!) Beschaffenheit einen nicht-illusionären Umgang mit dem Tod finden können.