Hatte Jesus eine narzisstische Persönlichkeitsstörung?

Die Persönlichkeit Jesu wird von den Evangelisten als extrem gespalten dargestellt. Von der "anderen Wange hinhalten" bis hin zu "Mordwünschen an seinen Feinden" erinnert das Spektrum seiner Handlungen und Handlungsanweisungen an eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Jeder Mensch hat narzisstische Züge. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) zeichnet sich jedoch durch eine stark defizitäre Empathie, eine vollkommene Überschätzung der eigenen Fähigkeiten sowie ein extrem starkes Verlangen nach Anerkennung aus. Unrealistische Ansprüche, Erwartungen und Ideologien sowie Imagepflege, Imponieren, Prahlerei bis hin zur Hochstapelei befriedigen das schwache Selbstwertgefühl. Menschen mit NPS leben mehr im Schein als im Sein. Dies führt nicht nur zu Problemen bei der Anpassung an das Lebensumfeld, sondern führt auch zu einem emotionalen Missbrauch ihrer Mitmenschen, um das Ego auf Kosten anderer zu erhöhen. Neben dem Wechsel zwischen gefühlter Grandiosität bis hin zu suizidalen Selbstzweifeln führt ein solch schwaches Selbst auch zu einer chronisch latenten Wut, die bei geringster Kritik und empfundener Kränkung explodieren kann. Eine NPS beginnt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in vielen Lebensbereichen. Betroffene streben nach Macht und Herrschaft und agieren dabei verführerisch und manipulativ. Als Gotteskomplex bezeichnete der Psychoanalytiker Ernest Jones die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS), da sie sich unter anderem durch Allmacht- und Allwissenheits-Fantasien auszeichnet.

Ob der historisch "reale Wunderheiler" Jesus darunter litt, ist zwar nicht mehr festzustellen, doch die Autoren der Evangelien wollten keinen gewöhnlichen, sondern einen "göttlichen" Menschen beschreiben. Wie konnte dies besser und glaubwürdiger geschehen, als mit den psychologischen Diagnosekriterien, die bereits die Leser in der Antike auf einen Gotteskomplex hinwiesen?

Mangel an Empathie

Ein Hauptkriterium zur Diagnose der NPS ist der Mangel an Empathie. So empfängt der Protagonist der Evangelien nicht nur seine Mutter und Geschwister nicht, als sie ihn besuchen (Mt 12,48, Lk 8,20–21). Seinen Ziehvater, der ihn großgezogen, ernährt und ausgebildet hat, erwähnt er nicht ein einziges Mal. Er hat anscheinend jeden Kontakt zu ihm abgebrochen.

Das Schicksal seines Jüngers Judas hat er als Prophet vorhersehen können, dennoch interessiert ihn dessen Selbstmord nicht (Mt 27,3–5). Auch das weitere Schicksal seiner Apostel und all der Jüngerinnen, die ihn lieben, geht an ihm vorbei. Er lebt in seiner Welt.

Allmachtsfantasien und Selbstüberschätzung

Macht oder Allmachtsfantasien? Fähigkeit oder grenzenlose Selbstüberschätzung? Nein, er kann nicht alle heilen und wird auch nicht von allen als Sohn Gottes akzeptiert (Lk4,28–29). Ganz Narzisst greift er bei seiner Verteidigung allerdings sofort zur Schuldumkehr (Mt 17,20). Die Anderen sind selber schuld, wenn er sie nicht heilen kann. Es liegt an ihrem mangelnden Glauben (Mt 13,53–58). Da alle mitbekommen, dass er in seiner Allmacht scheitert (Lk 4,28–30), prophezeit er Schlechtes für jene voraus, um nicht ganz hilflos dazustehen (Mt 11,20-24; Mt 23,37–39).

Charakteristisch ist auch, dass er es als Narzisst nicht nötig hat, Beweise seines fulminanten Könnens zu liefern. Wenn die Pharisäer nicht auf seine narzisstisch-theologischen Verwirrspiele antworten wollen, dann braucht er ihnen weder zu antworten (Mt 22,41–46) noch irgendetwas an Wundern zu demonstrieren (Mt 16,1–4). Auf die Frage, woher er sich das Recht nimmt, so etwas zu tun und zu behaupten, weicht er mit narzisstischer Arroganz aus (Mt 21,23-27), indem er einfach geht. Auch gelten für den Narzissten keine Regeln wie für alle anderen. Er kann am Sabbat tun, was er will (Mt 12, 1–14) und sich dabei auf Höheres berufen.

Allwissenheit

Wie kann Allwissenheit besser demonstriert werden, als wenn jemand die Zukunft vorhersagt. Kaum aus dem Tempel geworfen, indem er randalierte (Mt 21,12), weiß der Protagonist des Romans, dass vom Tempel in Jerusalem kein Stein auf dem anderen bleiben wird (Mt 24,2), wenn der Blitz (Zeichen der Legio Fulminata) von Ost nach West leuchtet (Mt 24,27), wenn die Geier (Legionsadler) beim Aas erscheinen (Mt 24,28), alle von Krieg hören (Mt 24,6), Hungersnöte und Seuchen sich ausbreiten sowie Reich gegen Reich und Volk gegen Volk kämpft (Mt 24,7). Dass er dies wissen kann, liegt natürlich daran, dass der Roman erst nach diesen Ereignissen – also nach dem Jahr 70 – geschrieben wurde. Dumm waren die Autoren ja nicht, als sie ihn erfanden.

Wenn es nichts zu prophezeien gibt, dann weiß ihr Protagonist in seiner narzisstischen Allwissenheit einfach, dass er Recht hat, alle anderen dumme Kinder sind (Lk 7,32) und mit ihren Meinungen falsch liegen (Mt 12,30). Basta!

Anerkennung

Weiterhin legten die Autoren Wert darauf, dass ihr Protagonist die NSP-typische Anerkennung sucht und seine Mitmenschen ihm seine Einzigartigkeit bestätigen müssen. Die Reihe der Prominenten, die ihn als fulminant erkennen sollen, fängt bei den alten Propheten an, geht über Johannes den Täufer (Mt 3,13–15), über die Bestätigung des Petrus (Mt 16,15–17) und der Apostel (Mt 17,1–9) bis zu den Hohepriestern, die ihm den Titel "Sohn Gottes" in den Mund legen sollen (Lk 22,70). Selbst Pilatus wird darauf hingewiesen, dass er es sei, der ihn König nennt (Lk 23,3). Doch jener erkennt auch, dass er einen Wortverdreher vor sich hat und will ihn freilassen (Mt 27,23). Nur vor dem richtigen König der Judäer, Herodes, schweigt der Protagonist lieber (Lk 23,9), weil ein Narzisst keinen anderen König anerkennen kann.

Neid ist für den Narzissten die ehrlichste Form der Anerkennung. Daher muss der Romanheld auch aus Neid (Mt 27,18) an die Römer ausgeliefert werden.

Stimmungsschwankungen und Meinungswechsel

Ein weiteres Kriterium der NPS sind die extremen Stimmungsschwankungen aufgrund des schwachen Selbstwertgefühls. Was zuerst bei der Lektüre der Evangelien auffällt, ist die Diskrepanz zwischen der geforderten bedingungslosen Nächsten- und Feindesliebe (Mt 5,44; Mt 22,39; Lk 6,27), bei der seine Gläubigen auch die andere Wange hinhalten sollen (Mt 5,39; Lk 6,29) und den Allmachts-, Hass- und Zerstörungsfantasien gegenüber allem, was sich dem Willen des Narzissten entzieht. So predigt der Protagonist Jesus zwar Liebe, lässt aber nicht nur einen Feigenbaum verdorren, der zu dieser Jahreszeit keine Früchte tragen und ihn daher nicht sättigen kann (Mt 21,19). Verärgert darüber, dass ein Blinder seine Heilung Gott zuspricht und nicht ihm als Narzissten (Lk 18,43), sieht sich die Figur Jesus auch als weltlicher König, dessen Jünger jeden seiner Feinde herbeibringen und vor seinen eigenen Augen töten sollen (Lk 19,27). Dieser König ist gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, den Frieden zu nehmen und die Familien zu entzweien (Lk 12,49–53). Ausbleibende Vergöttlichung will der Narzisst durch Vernichtung gerächt wissen.

Lovebombing und Flying Monkeys

Geübte Narzissten erkennen sehr schnell Gedanken, Gefühle und Absichten ihrer Mitmenschen, mit denen sie sie einlullen (lovebombing) und zu Handlangern (Flying Monkeys) machen können. Auch die Romanfigur Jesus erahnt die Absichten der Pharisäer und Sadduzäer (Lk 5,22), kennt die Schwachstellen der Reichen (Lk 18,18–23). Als Protagonist hat er ein untrügliches Gefühl dafür, wer seine Opfer sein könnten und wie er diese um den Finger wickeln kann. So geht Jesus am See Genezareth spazieren und ruft Fischer auf, ihre Netze liegen zu lassen und ihm zu folgen (Mt 4,18–22). Und diese springen sofort. Doch woher weiß dieser Narzisst, mit welchen Wünschen und Hoffnungen er seine Opfer verführen kann? Die Namen verraten es: Yeschua, Petros, Barjonim, Kananäus, Zelotes, Iskariot (Sikarius), Boanerges, Alphaios und Maria sind doppeldeutige Wortspielereien und lassen sich auch übersetzen mit Retter, Leithammel, Aufständischer, Aufrührer, Empörer, Messerstecher, Donnersohn, Deserteur und Kuh. Nomen est Omen. Die Autoren der Evangelien hatten Sinn für Humor. Wer König von Rebellen sein möchte, weiß hier sofort, welche Themen er anschneiden muss, um diese Leute zu Fans und Flying Monkeys zu machen.

Gaslighting und Isolation

Damit aus begeisterten Anhängern fanatische und hörige Jünger werden, müssen sie zuerst desorientiert werden. Die wechselnden Wünsche eines Narzissten sind kaum zu erfüllen, doch wer sich an die Bergpredigt hält, soll selig werden (Mt 5,1–12) und zu seinen Auserwählten gehören (Mt 5,13–16). Aus diesen werden dann privilegierte Mitarbeiter öffentlich ausgewählt (Mt 10,1–4; Lk 6,12–16) und mit besonderen Aufgaben betraut (Mt 10,5–42).

Aufgaben, an denen sie nur scheitern können, denn das Scheitern ist Absicht und erfreut den Narzissten, der sich dadurch erhöht, dass andere erniedrigt werden. Oder wie es die Romanfigur Jesus ausdrückt: wer sich erniedrigt, wird bei ihm erhöht werden und der Kleinste wird der Größte sein (Lk 22,26). Selbstaufgabe ist gefragt (Lk 9,23–24). Dieses Spiel zur Selbsterhöhung durch Erniedrigung anderer erfolgt auch verbal. Im Vergleich zu Jesus sind alle anderen dumm, wenn sie seine Gleichnisse und Reden nicht verstehen (Mt 15,16). Schuldzuweisungen, Vorwürfe und Beleidigungen gehören zum Standardrepertoire, insbesondere wenn seine Wünsche nicht erfüllt werden (Mt 26,40; Mk 14,37–42; Lk 22,45–46). Zudem verteilt er gerne Blechorden, indem er Petrus einerseits zu einem Sektengründer erklärt (Mt 16,18) und ihm diese Anerkennung im nächsten Augenblick wieder entzieht, indem er ihm als Satan beschimpft und von sich jagt (Mt 16,23). Zur Selbsterhöhung dient dem Narzissten auch die öffentliche Demütigung und das Ausspielen durch Andeutungen. Judas wird vor versammelter Mannschaft des Verrates beschuldigt (Lk 22,21) und Petrus wird vor allen Jüngern gesagt, dass er seinen Herrn verleugnen wird (Lk 22,34). Um für immer Boss zu bleiben, disqualifiziert der Protagonist beide als mögliche Nachfolger.

Damit die mit Zuckerbrot, Peitsche und Wahrheitsverdrehungen desorientierten Opfer (Fachbegriff gaslighting) keinen Rat und Hilfe von Außerhalb bekommen, befiehlt der Narzisst zusätzlich die Isolation von Freunden und Familie (Mt 10,37-; Mt 19,27–30; Lk 14,26). Willkommen in der Sekte.

Inszeniertes Ende

Das Selbstwertgefühl eines Narzissten schwankt zwischen gefühlter göttlicher Allmacht und suizidaler Stimmung. Der Protagonist Jesus hat seinen Jüngern das Reich Gottes versprochen und ahnt, dass er es nicht erreichen kann. Seine einzige Chance, um als Narzisst sein Image der unerreichbaren und unsterblichen Grandiosität zu wahren, ist die "sinnvolle" Selbstopferung und das Versprechen auf Auferstehung. Niemand besiegt einen Narzissten, zumindest in seiner Darstellung der Dinge. Will er nicht als lächerlicher Gotteslästerer gesteinigt werden, so muss er sich zum König von Rebellen machen, um stilvoll – von Römern und Hohepriestern gefürchtet – hingerichtet zu werden. Geschickt fragt er daher bei seinen Flying Monkeys nach, ob sie ihre Mäntel für Schwerter tauschen wollen (Lk 22,36), wohl wissend, dass sie welche haben und sie auch benutzen werden (Mt 26,51). Ein abgeschlagenes Ohr – unter dem Hinweis, dass er ja jederzeit spielend einen Krieg gewinnen könnte – reicht ihm bei seiner Verhaftung (Mt 26,52–53). Er will ja nicht sofort niedergemetzelt werden. Der Verrat des Judas war ein Verrat an Judas, damit der Narzisst als Anführer einer bewaffneten Rebellengruppe und "König" verhaftet und hingerichtet wird.

Das Hochgefühl, mit einem richtigen König wie Herodes auf Augenhöhe zu kommunizieren (Lk 23,9), weicht aber schnell wieder der Verzweiflung. Am Kreuz fühlt er sich nicht nur gänzlich von seinem "Gott" verlassen (Mt 27,46).

Der Protagonist mit Gotteskomplex stirbt im Roman für sein Image. Alle, außer ihm, sehen die Realität (Mt 27,39–44; Lk 23,35–39). Er will allen helfen, sich selber kann er nicht helfen. Er will alle heilen, doch seine eigene Erkrankung sieht er nicht. Seine Opfer lässt er ratlos und traumatisiert zurück. Ein Zustand, der von seiner Sekte bis heute aufrechterhalten wird.

Gefahr erkannt ...

Es gibt viele Selbsthilfegruppen und Aufklärungsvideos, in denen sowohl Narzissten als auch Opfer des Missbrauchs lernen können, die toxischen Beziehungen, Abhängigkeiten und Lebenslügen zu durchschauen. Aber vielen Therapeuten ist die Menge und die Tragweite des Missbrauchs in der religiösen und esoterischen Szene noch nicht ganz bewusst. Hier ist wesentlich mehr Aufklärung gewünscht.

Unterstützen Sie uns bei Steady!