Der Berliner Soziologe Ruud Koopmans fragt in seinem Buch "Das verfallene Haus des Islam", wie sich der Niedergang der islamischen Welt erkläre und sieht dabei die Ursachen in einer fundamentalistischen Deutung des Islam. Der Autor arbeitet mit umfangreichem Datenmaterial und stellt immer wieder internationale Vergleiche an, welche seine Auffassungen anschaulich belegen, wobei gleichzeitig zur sachlichen Kritik eingeladen wird.
Warum gingen die Demokratisierungswellen im 20. Jahrhundert weitgehend an der islamischen Welt vorbei? Warum ist das Ausmaß der Frauendiskriminierung und Homosexuellenverfolgung in derart geprägten Ländern besonders hoch? Warum hinkt die ökonomische und technische Entwicklung seit Jahrzehnten der des Westens und auch der nicht-westlichen Welt hinterher? Diese Fragen können mit guten Gründen gestellt werden.
Es gibt auch Antworten: Dabei wird auf den Imperialismus und Kolonialismus, "Islamophobie" und "Orientalismus", Israel und die USA verwiesen. Und mitunter kann man dann auch hören: "Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun."
Ganz anderer Auffassung ist da der Berliner Soziologe Ruud Koopmans, der als Professor für Migrationsforschung an der Humboldt-Universität lehrt. In seinem Buch "Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt" verweist er auf die Religion beziehungsweise ein besonderes Verständnis. Der fundamentalistische Islam sei die eigentliche Ursache.
Der Autor argumentiert dabei nicht so monokausal, wie das auf den ersten Blick erscheint. "Der Hauptgrund dafür", so lautet die Kernthese, "dass die islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren an fast allen Fronten stagniert hat oder in einigen Fällen sogar in die Barbarei zurückgefallen ist, ist der Aufstieg des islamischen religiösen Fundamentalismus" (S. 23).
Koopmans betont außerdem, er wolle sich nicht mit der Essenz des Islam, sondern mit seiner Wirklichkeit beschäftigen. Nicht eine Idealvorstellung von der Religion, sondern deren Realität in der Welt stünde im Zentrum. Für seine Analyse stützt der Autor sich auf breites Datenmaterial, das Ländervergleiche verdeutlicht. Andersdenkende fordert er dazu auf, auf der Basis von Fakten eine anderslautende Ursachenanalyse vorzunehmen. Der Soziologe nimmt sich häufig zwei Länder vor, welche in sozioökonomischer Hinsicht einen ähnlichen Status haben und mal islamisch und dann mal nicht-islamisch geprägt sind. Dann vergleicht er deren Entwicklung wiederum mit der von anderen Ländern bezogen auf ein Thema.
Dabei lassen sich immer wieder Besonderheiten ausmachen: Bei der Demokratieentwicklung liege man zurück, die Frauendiskriminierung sei dort besonders stark ausgeprägt, die Freiheitsrechte wären unterentwickelter, Homosexuelle lebten besonders gefährdet, religiöse Minderheiten würden stärker verfolgt, das Wirtschaftswachstum sei unterdurchschnittlich entwickelt. All dies belegen die Daten von internationalen Forschungseinrichtungen. Der Autor fragt aber auch immer wieder, ob es nicht doch an anderen Gründen liegen könne, seien es die Folgen des Kolonialismus oder die Interdependenz mit dem Westen. Er kann bei all diesen Betrachtungen immer wieder aufzeigen, dass bei gleichen Ausgangsbedingungen in nicht-muslimischen Ländern die Situation eine bessere sei. Die Bedingungsfaktoren bestünden in drei Schlüsselproblemen: "der fehlenden Trennung von Religion und Staat, der Benachteiligung der Frauen und der Geringschätzung von säkularem Wissen" (S. 228 f.)
Sicherlich dürften diese Auffassungen empörte Reaktionen auslösen. Zur Klarstellung heißt es bereits im zweiten Satz: "Dieses Buch ist islamkritisch, aber nicht islamfeindlich" (S. 9). Dem ist auch so, wird doch mit Fakten und nicht mit Vorurteilen operiert. Wenn es andere Bedingungsfaktoren für das Gemeinte gibt, dann können sie als Erklärungsansätze zum besseren Verständnis vorgetragen werden. Die vielen Belege und Vergleiche machen aber schon auf nachvollziehbare Zusammenhänge aufmerksam.
Koopmans thematisiert auch die Konsequenzen für muslimische Migranten, würden diese doch mehrheitlich anders als nicht-muslimische Migranten dastehen. Denn hier gebe es die "Probleme der islamischen Welt im Kleinformat" (S. 189). Demgegenüber setzt er auf eine "Reformbewegung im Islam" (S. 250). Bei all dem hätte noch die Auffassung zum Fundamentalismus-Islam-Verhältnis und das inhaltlich Problematische an der Religion erläutert werden können. Dies schmälert aber in der Bilanz nicht die innere Überzeugungskraft dieses reflexionswürdigen Werks.
Ruud Koopmans, Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020 (C. H. Beck-Verlag), 288 S., 22,00 Euro (Hardcover), 16,99 Euro (eBook)
7 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Ruud Koopmans hat Mut, heutzutage solch ein Buch zu schreiben. Es ist ein Klatsche für alle Kulturrelativisten.
In meinen Augen ist die "Geringschätzung säkularen Wissens" der Grund, warum die islamische Welt gegenüber anderen Weltreligionen technisch und wirtschaftlich zurück gefallen ist.
In Deutschland zeigt sich die "Geringschätzung säkularen Wissens" seitens vieler muslimischer Familien exemplarisch in den Schulen.
CnndrBrbr am Permanenter Link
In Deutschland zeigt sich die "Geringschätzung säkularen Wissens" auch von anderen Seiten: Impfgegnern und anderen Esoterikern.
David Z am Permanenter Link
Sie versuchen zu relativieren. Die Menge macht den Unterschied. Oder glauben Sie wirklich, an gewissen Schulen sei alles super?
Mit dieser Ignoranz kommen wir nicht voran und können erst recht nicht den betroffenen Migranten helfen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Warum gingen die Demokratisierungswellen im 20. Jahrhundert weitgehend" nicht nur an der islamischen Welt, sondern auch z.B. an der RKK vorbei?
Norbert Schnitzler am Permanenter Link
Gingen sie nicht. Das 2. Vatikanische Konzil war im 20. Jahrhundert.
1950 warnte Papst Pius XII. in seiner Enzyklika "Humani generis" vor der Evolutionstheorie, vor Existentialismus und Idealismus. Themen wie Ökumene oder das Verhältnis zu nichtchristlichen Religionen waren schlicht tabu. Dafür war der Papst vom "Monogenismus" überzeugt, also der Theorie, dass die Menschheit von einem einzigen Paar abstammt. Alle Teilnehmer hatte bei ihrer Weihe den Antimodernisteneid abgelegt, der Lehren, die als Modernismus bezeichnet werden und bereits 1864 im Syllabus errorum des Papstes Pius IX. verurteilt wurden, verbot.
Beleg für den großen Wandel, für die Demokratisierungswelle ist nicht zuletzt die Abspaltung von Kritikern wie der Piusbruderschaft, und die Beschreibung der heutigen Kirche als "V2-Sekte" durch die Anhänger der vorherigen Zustände.
Man kann sich weitere Demokratisierungen denken, was auch weitere Spaltungen bedeuten würde. Nicht alle Ansichten, die hier von einer Mehrheit geteilt werden, finden woanders auch eine Mehrheit. So könnte ich mir eine extrem heteronormative Nachfolgekirche denken, die deutlich feindlicher zu Homosexuellen ist, aber Priester heiraten lässt. Das wäre wohl nicht das deutsche oder EU-Modell, aber vielleicht das afrikanische.
Demokratie bedeutet auch Einfluss von Moden, ein Lehramt ist langsam und läuft der Zeit manchmal so hinterher, dass es fast wieder von neuen Moden eingeholt wird.
Mein Problem soll das nicht sein, aber ähnlich wie beim Islam geht es ja nicht darum, ob die innere Ordnung demokratisch ist, sondern wie eine Religionsgemeinschaft mit einer demokratischen Staatsordnung zurecht kommt. Do habe ich jedenfalls die Buchbesprechung verstanden.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Na ja, päpstliche Enzykliken wie "Humani generis" in einem Satz oder Absatz mit Demokratisierungswellen zu nennen, ist mir dann doch etwas zu gewagt.
Nichts für ungut.
Topeka am Permanenter Link
Auch Unterschiede innerhalb von Laendern wo es sowohl Muslime als auch Andersglaeubige gibt passen gut zu Koopmans These.