Hongkong schaltet auf Flugmodus

Der chinesische Kongress hat im Eiltempo ein neues Sicherheitsgesetz für die Verwaltungszone Hongkong beschlossen. Das Gesetz sei eine Reaktion auf die seit anderthalb Jahren andauernden Proteste, die die Zusammenarbeit mit China unterminieren sollen, so Peking. Es sei ein Versuch, die justizielle Autonomie und die Bürgerrechte im Gebiet zu untergraben, so die Protestierenden.

Hongkong unterhält ein interessantes, weil beinahe einzigartiges, politisches System. Nachdem das Gebiet 1997 von Großbritannien an China übergeben wurde, sollte das Prinzip "one country, two systems" Hongkongs Autonomie für 50 Jahre sichern. Dieses Regierungsprinzip garantiert eine von Peking unabhängige Justiz, Rede und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit sowie teilweise freie Wahlen – Freiheiten, die Menschen im Rest Chinas nicht zustehen.

Chronologie des Protests

Seit Jahren demonstrieren die Menschen Hongkongs für das Recht, selbst für das höchste Amt des Gebiets kandidieren zu dürfen. Bis heute werden jedoch die Personen, die für das Amt des Chief Executive Officer, des CEO Hongkongs, zur Wahl stehen, von einem chinesischen Komitee vorausgewählt – obwohl Peking zugesichert hatte, das allgemeine Recht auf Kandidatur bis 2017 einzuführen. Im letzten Jahr spitzten sich die Proteste dann nach der Ankündigung eines kontroversen Auslieferungsgesetzes noch einmal zu.

Carrie Lam, Hongkongs amtierende CEO, kündigte im Februar 2019 ein neues Auslieferungsgesetz an. Bis dato bestanden keine Abkommen mit einigen Ländern, darunter Taiwan und auch China selbst. Binnen eines Monats sammelten sich Tausende Protestierende auf den Straßen Hongkongs, die im neuen Gesetz einen Angriff auf das "two systems"-Prinzip witterten. Das Auslieferungsgesetz könne das Ende der Autonomie Hongkongs sein, personae non gratae könnten schlicht nach China überstellt werden, wo unfaire Gerichtsverfahren, Arbeitslager oder Schlimmeres auf sie warten, so zahlreiche Aktivist*innen.

Die Spirale drehte sich weiter, die zunächst stets friedlichen Proteste wurden bisweilen von der Polizei niedergeschlagen und am 9. Juni versammelte sich eine halbe Million auf den Straßen einer Stadt, die nach Fläche zu den kleinsten autonomen Gebieten der Welt gehört und doch eine wirtschaftliche Supermacht darstellt. Während der Protest und die entsprechenden Gegenmaßnahmen weiter eskalierten, bezeichnete CEO Carrie Lam das Gesetz inzwischen als "absoluten Fehlschlag" und bekannte gegenüber Geschäftsleuten, ein "unverzeihliches Chaos" angerichtet zu haben.

Das Auslieferungsgesetz wurde zu den Akten gelegt, doch das reichte nicht. Die Protestierenden forderten nun auch eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt der vergangenen Monate, die sofortige Freilassung der zahlreichen im Rahmen der Proteste Inhaftierten sowie weitere demokratische Freiheiten im Wahlsystem. Auf Veranstaltungen der kommunistischen Partei wurden Protestierende angeschossen, über 1.000 Menschen Ende November verhaftet, nachdem sie einen Campus besetzt hatten.

Pekings Intervention

Covid-19 verlegte den Protest schließlich für längere Zeit ins Netz, vor allem in soziale Medien. Peking kündigte im Mai 2020 ein im Eilverfahren zu beschließendes neues Sicherheitsgesetz an – ein Gesetz, das nach Basic Law, Hongkongs "Mini-Verfassung", bereits von von der Stadt selbst hätte beschlossen werden sollen, aber stets zu großen Protesten führte. 

Carrie Lam wandte sich am 30. Juni, an dem die Gesetzesnovelle in Kraft trat, in einer Ansprache an die Vereinten Nationen: Das neue Sicherheitsgesetz werde das Basic Law nicht unterminieren, sondern schließe vielmehr eine "klaffende Lücke". UN-Menschenrechtssprecher Rupert Colville bemerkte, dass "die Definitionen einiger der im Gesetz enthaltenen Straftatbestände vage und zu weit gefasst sind und nicht angemessen zwischen gewaltsamen und nicht gewaltsamen Handlungen unterscheiden". Hunderte Personen seien noch in der ersten Nacht nach Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes verhaftet worden, wie Reuters berichtet.

Die Vereinten Nationen, wie auch die Bürger*innen Hongkongs, befürchten, dass Peking das neue Sicherheitsgesetz nutzen könnte, um Meinungs- und Pressefreiheit auszuhebeln, Hongkongs unabhängiges Justizsystem auf Parteilinie zu bringen oder ein digitales Überwachungsnetzwerk zu installieren. Nach nicht einmal einer Woche eröffnet nun das erste chinesische Sicherheitsbüro in Hongkong, welches ausschließlich chinesischer Gesetzgebung und Kontrolle untersteht.

Die Spannungen zwischen Hongkongs Regierung, den Bürger*innen und dem Vormarsch Pekings bleiben nicht ohne internationale Folgen: Boris Johnson bietet als Reaktion Millionen Menschen Aussicht auf ein Visum, China reagiert mit der Androhung von Gegenmaßnahmen. Facebook, Twitter und Google pausieren unterdessen die Bearbeitung sämtlicher chinesischen Anfragen zu Nutzerdaten von Menschen aus Hongkong, nachdem am Montag ein Dokument mit Pekings Plänen zur Netzzensur öffentlich geworden war: Die Behörden erwarten volle Kooperation bei der Löschung von Inhalten und der Herausgabe von Daten, andernfalls drohen Beschlagnahmung und Anklage. Das Dokument zeigt auch, dass Überwachungs- und Durchsuchungsmaßnahmen, die zuvor mit Richtervorbehalt belegt waren, nun ohne Beschluss von den Polizeibehörden durchgeführt werden dürfen. Es sieht nicht gut aus für das Fortbestehen der Demokratie in Hongkong.

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