Kommentar

Evolution – Nein danke?

Der Evolutionsweg, der Besuchern die faszinierende Entwicklung des Lebens näherbringt, kommt nicht! Das setzten religiöse Eiferer durch. Nicht in den USA, wo man solches eher verortet. Die Westerwalder Ortsgemeinde Hellenhahn-Schellenberg hat es getroffen wie eine biblische Plage. Nein, das steht nicht in deren Dorfchronik aus einer Zeit vor der Aufklärung. Es geschah jetzt, mitten unter uns. Ein sehr persönlicher Kommentar aus dem Bauch von Bernd Kammermeier. Achtung! Dieser Text kann Spuren von Satire enthalten.

Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? In den letzten Tagen haben viele verdutzt auf ihren Kalender geschaut. Hat unbemerkt ein Wurmloch Deutschland überflogen und für eine Zeitverschiebung gesorgt? Irgendwas muss passiert sein. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der Wissenschaft, Vorreiter der Vernunft, hat doch kein Problem damit, die Entwicklung des Lebens auf der Erde durch Evolution zu erkennen. Selbst der Vatikan hat mittlerweile diese fundierte Lehre anerkannt.

Sie ist ja fast ein alter Hut. Jean-Baptiste de Lamarck errichtete bereits 1809 ein erstes Theoriegebäude, um den Wandel der Arten zu erklären. Heute – so stellen es die Religionsgemeinschaften gerne selbst dar – hat doch kein Gläubiger Probleme damit. Warum auch? Darwin, Wallace und viele tausend Paläontologen, Biologen und Genetiker haben diese Theorie ausgebaut und mit Millionen Belegen untermauert. Wer sieht sich heute nicht als Teil des Tierreichs, als Säugetier, als Trockennasenaffe? Es ist schließlich bestens belegter Fakt. Oder …? Mir bricht der kalte Schweiß aus. Gibt es da noch so ein gallisches Dorf der Unbelehrbaren, die wacker den Schöpfungsmythos am Leben erhalten? Wo Weißnix und Lerntnix wohnen?

Ich schaue zur Sicherheit noch mal auf den Kalender. Da steht es. Schwarz auf Weiß: 2020! Puh! Doch am Sonntag, den 25. Oktober geschah das Unfassbare: eine Anomalie, als habe Akte X im Westerwald eine neue Folge gedreht. Dort sollte einer unserer Evolutionswege installiert werden. Inzwischen fast Routine.

Doch der Reihe nach

Vor einigen Jahren haben Mitglieder der Säkularen Humanisten Rhein-Neckar ein Projekt aus der Taufe gehoben: Die Idee eines Lehrpfades zum Thema "Evolution". Ich durfte dabei die Grafiken für zwanzig Schilder produzieren (handgemalt!), die auf einer circa 1,2 Kilometer langen Wegstrecke die Entwicklung des Lebens erklären. Unsere Experten haben Texte entwickelt, redigiert, Layouts erstellt, eine Homepage mit weitergehenden Informationen gestaltet. Teamwork, wie es effektiver nicht sein kann. Dort steckt viel unprätentiöses Ehrenamt drin, viel ehrliches Knowhow und fachkundige Recherche. Das alles mit dem motivierenden Ziel, Wissbegierige die Evolution erwandern zu lassen. Sie mit den wichtigsten Stationen des Lebens bekannt zu machen. Reine Wissenschaft, reine Aufklärung. Also das, was zentrale Aufgabe der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) ist. Religionskritik kommt in dem ganzen Projekt mit keiner Silbe vor. Zur Erklärung der Welt braucht es keinen Gott.

Das wird ein Selbstläufer. Da waren wir uns sicher. Die Kosten niedrig, der Nutzen für Städte und Kommunen enorm. Eine Attraktion, die Wissen, Wandern und Wundern zu einem Event schmiedet. Doch es gab immer wieder unerklärliche Widerstände von Seiten Gläubiger in den angefragten Städten. Warum nur? Wir zeigen doch lediglich, was Stand der Forschung ist. Der eine oder andere Weg zerplatzte wie eine Seifenblase, weil evangelikale Stimmen immer noch sehr laut sind. Nicht nur in den USA. Rolle rückwärts ins Mittelalter?

Jetzt erlebte dieser Widerstand einen neuen Höhepunkt, der mich zweifeln ließ, ob der Zeitstrom im Westerwald noch dem Kalender folgt. In Hellenhahn-Schellenberg engagierte sich Ortsbürgermeisterin Birgit Schmidt für dieses Freiluftmuseum. Der Ortsgemeinderat stimmte mehrheitlich zu, die Finanzierung sollte aus Mitteln der Ortsgemeinde kommen. Alles in trockenen Tüchern. Alles?

Stopp! Die Zeitverschiebung schlug erbarmungslos zu. Es gab in Hellenhahn-Schellenberg einige Mitmenschen, die sich damit nicht einverstanden erklärten. Wurden sie von den sieben Prozent Biologielehrern in Deutschland unterrichtet, die nicht von der Evolutionstheorie überzeugt sind? Oder verwirrten sie paranormale Phänomene? Mulder und Scully werden dieses Rätsel nicht mehr lösen. Auf jeden Fall erwirkten die Evolutionsleugner, dass die 1.001 Wahlberechtigten in einem Bürgerentscheid darüber abstimmen sollten, ob der Evolutionsweg die kleine Westerwald-Gemeinde bereichern darf oder nicht.

Gut, sollen sie. Niemand sah darin einen Stolperstein für den Weg. Wir hatten inzwischen gelernt: Es gibt immer Sonderlinge, die die Zeichen der Zeit nicht sehen. Sie wollen nicht akzeptieren, dass Glaube und Wissen keine echte Schnittmenge haben. Speziell im Fall der Evolution geht es ausschließlich um Wissen oder Nichtwissen, da der biblische Schöpfungsmythos kein Konkurrent auf Augenhöhe ist. Aber warum sollte nicht darüber abgestimmt werden? Wir sind schließlich Demokraten. Evolution selbst konnte übrigens nicht abgewählt werden, genauso wenig wie die Schwerkraft. Beides war also nicht in Gefahr, egal wie der Bürgerentscheid ausgehen sollte.

Die Wogen gehen hoch

Schwere Geschütze wurden aufgefahren, die für die jeweilige Position warben. Der Evolutionsweg sprach quasi für sich selbst, unterstützt durch einige Aktivisten aus der Region. Die Evolutions(weg)-Gegner operierten mit dreisten Behauptungen (zum Beispiel die gbs sei eine umstrittene Stiftung und religionsfeindlich) und dem Faktum, dass die Kosten des Weges (im niedrigen vierstelligen Bereich) aus dem Steuersäckel der Ortsgemeinde bezahlt werden sollten. Bildung also, die aus Steuermitteln bezahlt wird? Welch verwegener, welch kurioser Gedanke! Dass Kirchen – deren Weltanschauung nicht auf Fels, sondern auf Sand gebaut ist – auch von säkularen Steuerzahlern unvermeidbar in Multimilliardenhöhe mitfinanziert werden, sahen die Gegner nicht.

Der Weg muss weg! Dazu waren alle Mittel Recht, auch sozialer Unfriede, wie Betroffene berichten. Zitat aus einem Flyer, der von den Gegnern fleißig verteilt wurde (mit dem Angebot eines Fahrdienstes zum Abstimmungsort, damit möglichst alle Schäfchen gegen den Weg votieren konnten): "Die Giordano-Bruno-Stiftung, der Vertragspartner der Ortsgemeinde, sagt […], es gibt keinen Gott, dafür gibt es den Urknall. Wir Christinnen und Christen glauben daran, dass es einen Schöpfergott gibt. […] Gott ist der Urgrund aller Dinge."

Medien wurden auf diesen kuriosen Streit aufmerksam. Der SWR berichtete und – unvermeidbar – auch das satirische Magazin "extra 3" (NDR) mischte sich mit einem Filmbeitrag ein. Dort wird regelmäßig der Irrsinn der Woche aufgespießt. Das, was sich in Hellenhahn-Schellenberg tat, war sogar ein Irrsinn der Extraklasse.

Dieser "extra 3"-Film entstand noch vor der Abstimmung und wurde auf YouTube mittlerweile von rund 150.000 Personen angeschaut, führte zu 1.600 Kommentaren und über 5.000 Likes. Nur 200 fanden den Beitrag nicht gut. Entsprechend fiel das Verhältnis bei den Kommentatoren aus: Die überwiegende Mehrheit schüttelte fassungslos den Kopf. 2020? In Deutschland? Unfassbar!

Hier zeigt sich der tiefe Graben, den religiöser Dualismus in jede Gesellschaft schneidet: Während Rationalität klaren Regeln der Erkenntnis folgt – und entsprechend flexibel sein muss – besteht Religion auf ihren überkommenen Vorstellungen. Dass Menschen der Bronzezeit nichts von Evolution wissen konnten, sei ihnen verziehen. Sie wollten die Welt erklären und erfanden einen Gott, der ihnen dabei helfen möge. Doch genauso wenig, wie wir noch heute mit dem Pferd unterwegs sind oder als Seefahrer den Rand der Welt fürchten, verharrte die Wissenschaft auf vormodernen Mutmaßungen. Wir können heute alles besser als unsere Vorfahren, die in bester Absicht handelten: Medizin, Rechtsprechung, Gesellschaftsmodell, Erkenntnisse über Mikro- und Makrokosmos – alles ist heute dem Menschen gerechter, ehrlicher, fundierter.

Die alte Religion, diese Kinderkrankheit der Zivilisationsevolution, leidet heute im Wesentlichen daran, dass sie die Erklärungskrücke "Gott" nicht aufgeben will. So verneigt sie sich mit Gottesdiensten noch immer vor einem imaginierten Gott. Der moderne, evolutionäre Humanismus wendet sich indes dem Menschen und seiner realen Welt zu. Deshalb erleidet Religion heute einen Erklärungsnotstand, den immer mehr Menschen erkennen und auch deshalb dieses Konstrukt verlassen. Allerdings – das sehen wir in Hellenhahn-Schellenberg wie durch ein Brennglas – wollen die Vorgestrigen nicht aufgeben. Überall auf der Welt versuchen sie einen Roll-back, um ihren einst gewaltigen Einfluss auf die Gesellschaft zurückzuerobern.

Fazit

Mir ist klar geworden, dass der Evolutionsweg diesen Graben in der Gesellschaft sichtbar macht. Viele Kommentatoren auf YouTube haben das mit Erschrecken festgestellt. Religion ist zum echten Wandel nicht fähig oder willens. Sie wehrt sich mit allen Mitteln gegen die Moderne. Und sie hat noch immer Erfolg damit. In der Politik schafft sie Mehrheiten, die in der Gesellschaft längst verloren gingen. So können noch immer Gesetze religiös beeinflusst werden, mit schwerwiegenden Folgen für Bürger (einige Stichworte: Sterbehilfe, Genitalverstümmelung, Abtreibung, Gotteslästerung, Staatsleistungen etc.). Und in Hellenhahn-Schellenberg mobilisierten sie ihre katholischen Mitbürger, die mit 339 Stimmen gegen den Weg votierten, während leider nur 250 Bürger dafür stimmten.

Ich hoffe, dass die Wunden dieser Niederlage der Vernünftigen geleckt sind und dass geprüft wird, ob der Evolutionsweg mit Spendengeldern doch noch errichtet werden kann. Evolutionsgegner können den Weg ja meiden wie der Teufel das Weihwasser. Doch er würde eine Attraktion für die kleine Ortsgemeinde im Westerwald werden, wie es inzwischen an anderen Orten der Fall ist.

Die Erkenntnis, dass wir alle das Ergebnis eines universellen evolutionären Prozesses sind, begonnen beim Sternenstaub, lässt sich nicht mehr auslöschen. Ich wünsche Ortsbürgermeisterin Schmidt und ihrem Ortsgemeinderat viel Kraft und Durchhaltevermögen, damit sich die Anomalie im Westerwald in Wohlgefallen auflöst. Meine erste Wut ist inzwischen verraucht. Die Zukunft liegt vor uns.

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