75 Jahre Grundgesetz

Säkulare Verfassung? Denkste.

Das Grundgesetz wird in diesen Tagen gefeiert. Zu Recht. Die "Hausordnung" unseres Staates, die heute 75 Jahre alt wird, hat der Bundesrepublik den Rahmen für eine außerordentliche Stabilität als Basis für Wohlstand gegeben. Und: Wir leben in einem säkularen Staat, den das Grundgesetz garantiert. Schön wär's. Die Kirchen haben nämlich einen verfassungsrechtlich gesicherten Einfluss, der so gar nicht mehr ihrem Gewicht in der Bevölkerung entspricht.

Immerhin sind nach Zahlen der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) 44 Prozent der Menschen in Deutschland konfessionsfrei. Der katholischen Kirche fühlen sich 25 Prozent und der evangelischen Kirche 23 Prozent zugehörig. Die Zahlen gelten für das Jahr 2022 und verschieben sich infolge von Kirchenaustritten weiter zugunsten der Konfessionsfreien. Dennoch hält das Grundgesetz Privilegien für die Kirchen bereit, die von allen, also auch von den konfessionsfreien Menschen, mitgetragen und -bezahlt werden müssen.

Ewiges Leben

Vorweg: Das Grundgesetz hat eine hübsche Gemeinsamkeit mit dem christlichen Glauben. So wie Christen an das ewige Leben glauben, so gibt es auch im Grundgesetz eine sogenannte Ewigkeitsklausel. In Artikel 79 Absatz 3 heißt es: "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Achtung der Menschenwürde, Demokratieprinzip, Gewaltenteilung – all das ist verbindlich auf ewig, jedenfalls so lange das Grundgesetz gilt. Diese Ewigkeit kann zwar nicht mit religiösen Maßstäben mithalten, aber auch sie dauert nun immerhin schon 75 Jahre.

Gottesbezug in der Präambel

Doch zurück zum Laizismus, dem Prinzip der Trennung von Religion und Staat. Ist das eingehalten? Zweifel kommen bereits bei Lektüre der Präambel, dem Vorwort des Grundgesetzes, auf. Da heißt es: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."

Dieser Gottesbezug schon ganz am Anfang, noch vor den Grundrechten, sät Zweifel an einer strikt säkularen Verfassung. Einem Grundgesetz, das doch neutral sein sollte gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern – unabhängig von der religiösen Überzeugung oder Weltanschauung.

Religions- und Weltanschauungsfreiheit

Immerhin scheinen die Formulierungen der Grundrechte der Artikel 3 und 4 diese Zweifel zu zerstreuen. Dort heißt es: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" (Art. 3). Und: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." (Art. 4) Dieses Grundrecht der Religionsfreiheit heißt auch negative Religionsfreiheit: die Freiheit, einen religiösen Glauben nicht haben zu müssen, nicht an religiösen Riten teilnehmen zu müssen. Schlicht: das Recht, mit all dem in Ruhe gelassen zu werden.

Und doch ist der deutsche Staat nach seiner Verfassung nicht religiös neutral. So heißt es in Artikel 7 Absatz 3: "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt." Staatlicher, also von allen Steuerzahlern finanzierter Religionsunterricht. Und die Gelegenheit für die Missionierung von Kindern und deren Erziehung "in Ehrfurcht vor Gott", wie es etwa im nordrhein-westfälischen Schulgesetz heißt. Eine Verfassung, die Anspruch darauf erhebt, säkular zu sein, sollte statt des Religionsunterrichts einen weltanschaulich neutralen Ethikunterricht fördern.

Den größten Sprengstoff, wenn es um Zweifel an der Säkularität des Grundgesetzes geht, enthält indes ein im Hinterzimmer der Verfassung versteckter Artikel, dem man diese Brisanz nun gar nicht ansieht, der aber doch weitreichende Folgen hat. In Artikel 140 heißt es: "Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes." Die Weimarer Reichsverfassung – da sind wir wieder beim Stichwort "ewig" – lebt also weiter. Und damit eine Reihe von kirchlichen Privilegien, die mit einer säkularen Verfassung nicht vereinbar sind: nämlich das damit garantierte kirchliche Arbeitsrecht, die Kirchensteuerpflicht und die immer noch an die Kirchen gezahlten Staatsleistungen – jährlich sind das Hunderte Millionen Euro.

Kirchliches Arbeitsrecht

Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung regelte und regelt über den Querverweis im Grundgesetz immer noch: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes."

Diese Vorschrift über die "kirchliche Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten" kann gewaltige diskriminierende Folgen haben. Die Kirchen haben sie immer wieder zum Anlass genommen, sich bis in die intimsten Angelegenheiten ihrer Angestellten einzumischen. Die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonie sind besonders große Arbeitgeber. Mehr als 1,2 Millionen Beschäftigte dort und bei den Kirchen wurden und werden indirekt zur Kirchenmitgliedschaft gezwungen. Ohne eine solche hatte man lange Zeit in vielen Bereichen kaum eine Chance auf eine Anstellung. Und lässt sich jemand scheiden, will danach erneut heiraten oder tritt aus der Kirche aus, bekommt er oder sie es schnell mit dem Arbeitgeber zu tun, muss gar mit der Kündigung rechnen. Immerhin zeigen Gerichtsverfahren und öffentlicher Widerspruch hier mittlerweile eine gewisse Wirkung. So heißt es auf der Internetseite der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Die Mitarbeit in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie öffnet sich stärker für Menschen, die andersgläubig oder nicht gläubig sind. Auch in der katholischen Kirche unterliegen private Entscheidungen der Mitarbeitenden, wie ihr Beziehungsleben, keiner arbeitsrechtlichen Sanktionierung mehr." Aber Absichtserklärungen und geübte rechtliche Praxis sind natürlich nicht dasselbe. So liegt aktuell der Fall einer Sozialpädagogin vor dem Bundesarbeitsgericht, die gegen ihre nach ihrem Kirchenaustritt erfolgte Kündigung der Caritas klagt.

Und dann ist da noch das sogenannte kollektive Arbeitsrecht: betriebliche Mitbestimmung, Streiks etc. Der sich auf den alten Artikel der Weimarer Verfassung stützende Paragraf 118 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes lautet: "Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform." Keine Betriebsräte, keine betriebliche Mitbestimmung, Restriktionen beim Streikrecht sind die Folge. Und all das, obwohl etwa Krankenhäuser, Schulen oder Kitas zum weit überwiegenden Teil staatlich finanziert werden, die Träger aber dennoch eine arbeitsrechtliche Sonderstellung für sich reklamieren. Und so formuliert Caritas Deutschland auf seiner Internetseite: "Arbeitskämpfe, Aussperrungen und Streiks passen ebenso wenig zum Selbstverständnis des kirchlichen Dienstes wie das einseitige Festlegen von Arbeitsbedingungen durch die Leitung. Deshalb hat die katholische Kirche in Deutschland ein eigenes Arbeitsrechtssystem geschaffen, das als Dritter Weg bezeichnet wird. Die tariflichen Arbeitsbedingungen wie Vergütung, Arbeitszeit oder Urlaub, werden in einer gemeinsamen, paritätisch besetzten Kommission festgelegt." Rechtliche Verbindlichkeit über gesetzliche Regelungen werden gewissermaßen ersetzt durch ein gönnerhaftes Versprechen gegenüber den Beschäftigten: Wir regeln das schon zur eurem Besten.

Kirchensteuer

In 137 Absatz 6 der Weimarer Reichsverfassung heißt es: "Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben."

Was in der rechtlichen Praxis dazu führt, dass der Staat als Inkassounternehmen für die Kirchen die Kirchensteuer einzieht. Warum eigentlich müssen sie das nicht selbst tun? Wie jeder andere Verein auch. Dann würden Arbeitnehmer auch nicht länger dazu gezwungen, für den Eintrag auf der Lohnsteuerkarte ihre Konfession (oder Nicht-Mitgliedschaft in einer Kirche) anzugeben.

Nach Zahlen des Zentralrats der Konfessionsfreien zog der Staat im Jahr 2021 für die Kirchen über 12 Milliarden Euro an Mitgliedsbeiträgen ein. Durch die Möglichkeit des Abzugs dieser Beiträge als Sonderausgabe entgingen dem Staat jedes Jahr Steuereinnahmen von mehr als 4 Milliarden Euro.

Staatsleistungen

Hier geht es nicht "nur" um staatliche Inkassohilfe, sondern um einen jährlichen Griff in die Staatskasse – auf Kosten der Steuerzahler, zugunsten der Kirchen. Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung sagt: "Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst." Doch nichts passiert. Seit Jahrzehnten. Mit der Folge: Pro Jahr überweisen die Bundesländer Steuergeld in Höhe von 500 bis zuletzt über 600 Millionen Euro an die Kirchen. Basierend auf Verträgen von Anfang des 19. Jahrhunderts aufgrund damals erfolgter Enteignungen kirchlicher Ländereien. Der seit 1919 bestehende Verfassungsauftrag, die Zahlungen endlich abzulösen, wird aber ignoriert. Allein seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland flossen so fast 20 Milliarden Euro an die Kirchen. Diese verlangen eine Ablösesumme in Milliardenhöhe, doch weil die Bundesländer das nicht stemmen können, wird immer und immer weiter gezahlt. Aus dem Steuergeld auch aller Konfessionsfreien. Dabei ließe sich auch argumentieren, dass angesichts bisher erfolgter Zahlungen die Schuld längst beglichen ist – einer Ablösezahlung bedürfte es nicht.

Steuervorteile

Weil die Kirchen nach Artikel 137 Absatz 5 der insoweit immer noch geltenden Weimarer Reichsverfassung Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, sparen sie jede Menge Geld. Ingrid Matthäus Meier, Beirätin der Giordano-Bruno-Stiftung, Juristin und frühere Bundestagsabgeordnete, fasst die Konsequenzen in ihrem Aufsatz "Staatskirche oder Rechtsstaat?" so zusammen: "Die Kirchen sind befreit von der Körperschaftsteuer, der Erbschaftsteuer und der Grundsteuer. Allein durch die Befreiung bei der Grundsteuer, die auch für die Wohnungen der Bischöfe und Priester gilt, sowie für den riesigen Grundbesitz bis hin zu den verpachteten Gaststätten entgehen dem Staat nach Schätzungen etwa 850 Millionen Euro."

Man sieht: Der so unscheinbar daherkommende Artikel 140 des Grundgesetzes mit seinem Verweis auf die Weitergeltung einiger Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung hat weitreichende Konsequenzen – zum Vorteil der Kirchen. Privilegien, die zum nächsten Jubiläum der längst noch nicht säkularen Verfassung hoffentlich Stück für Stück abgebaut sein werden.

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