Trotz abnehmender religiöser Bindung in der deutschen Gesellschaft ist Religion allgegenwärtig. Der Staat ist zur Gleichbehandlung verpflichtet und sollte religiöse Privilegien abschaffen, statt ausweiten, meint unsere Kommentatorin. Denn gegen Rücksichtnahme auf die religiösen Ansichten des Einen lässt sich zwar nichts einwenden, sie darf in einer aufgeklärten, pluralistischen Gesellschaft aber nicht die Rechte des Anderen beschränken.
In Deutschland sind nach einer Auswertung von fowid (Stand 31.12.2023) lediglich 5 Prozent der Bevölkerung (aller Religionen) "praktizierende Gläubige". Der Alltag vermittelt gleichwohl einen gänzlich anderen Eindruck: Allenthalben Kirchengeläut, konfessioneller Religionsunterricht statt konfessionsfreier Ethikunterricht, sogenannte "stille" Feiertage wie zum Beispiel Karfreitag, an denen immer wieder – trotz entgegenstehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Tanzveranstaltungen abgelehnt werden. Zum Kirchengeläut gesellt sich seit einigen Jahren auch der Muezzin-Ruf, etwa in Köln. In Nordrhein-Westfalen wird inzwischen Religionsunterricht in sieben (!) Bekenntnissen angeboten, in Bayern gilt immer noch der sogenannte "Kreuzerlass" und 2012 hat der Bundestag mit Paragraf 1631d BGB ein zwar neutral formuliertes, aber religiös motiviertes Gesetz eingeführt, dass es Eltern erlaubt, in die medizinisch nicht indizierte Abtrennung der gesunden Penisvorhaut ihres minderjährigen Kindes einzuwilligen (sog. Knabenbeschneidung). Letzteres ist nach Ansicht zahlreicher renommierter Rechtswissenschaftler*innen klar verfassungswidrig.
Diese Woche unterbrach der Schiedsrichter des Champions-League-Spiels Lille gegen Dortmund nach acht Minuten kurz die Fußballpartie, damit die wegen Ramadan fastenden Spieler Nahrung und Getränke aufnehmen können. In Deutschland kam es im Frühjahr 2022 bei dem Spiel FC Augsburg gegen Mainz 05 zu einer ersten derartigen Unterbrechung in der Bundesliga, weitere Beispiele folgten. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) scheint das zwar zu unterstützen, weist aber dennoch darauf hin, dass nach Auskunft des Zentralrats der Muslime die Verschiebung der Fastenzeit für körperlich stark beanspruchte Muslime im Beruf möglich sei. Eine "kreative" Lösung des "Problems" fand Übrigens der tunesische Torhüter Mouez Hassen, er täuschte 2018 "während mehrere[r] Länderspiele Verletzungen vor, um seinen Mannschaftskollegen nach Sonnenuntergang Zeit zur Nahrungsaufnahme zu verschaffen."
Gegen Rücksichtnahme lässt sich allgemein nichts einwenden. Nur: Die Rücksichtnahme auf die religiösen Ansichten des Einen darf in einer aufgeklärten, pluralistischen Gesellschaft nicht die Rechte des Anderen beschränken.
Freilich hält sich die Beeinträchtigung anderer durch eine kurze Trinkpause stark in Grenzen. Ganz anders verhält es sich hingegen etwa mit der irreversiblen Beschneidung der Vorhaut bei minderjährigen Jungen.
Das Problem der Ramadan-Zeit liegt gesellschaftlich gesehen nicht bei einer kurzen Unterbrechung eines Fußballspiels, sondern ist vielmehr darin zu erblicken, dass es aufgrund der fehlenden Flüssigkeitszufuhr – es darf zwischen Tagesanbruch und Sonnenuntergang nichts getrunken werden – zu Leistungseinbußen (Schwindel, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme) kommt. Muss eine Arbeitgeberin das hinnehmen? Wird eine Ärztin oder ein Lehrer ihrer*seiner Verantwortung gerecht, wenn sie*er sich bewusst in einen Zustand versetzt, in dem die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist? Statt "Ramadan-Tipps" zu geben (z.B. hier und hier) und darum zu werben, Verständnis für Schwankungen im Hinblick auf Energie und Konzentration aufzubringen, sollte den Worten des Religionssoziologen Rauf Ceylan mehr Gehör verschafft werden: "Fasten ist eine individuelle Entscheidung, die nicht auf Kosten anderer Kollegen oder des Betriebes ausgetragen werden darf". Diskutiert werden sollte an der Stelle daher, dass es mit den religiösen Lehren ausdrücklich vereinbar ist, die Fastenzeit etwa in die Urlaubszeit zu verschieben, um Beeinträchtigungen des Arbeitsalltags zu vermeiden. Verständnis für Einschränkungen ist daher fehl am Platz, da – wie es der DFB formuliert – ein "Kompromiss" in Form der Verschiebung des Fastenmonats möglich ist und auch erwartet werden kann.
Religion muss im säkularen Staat Privatsache sein
Obwohl die Gesellschaft zunehmend säkularer wird, gewinnt Religion im öffentlichen Raum immer mehr an Präsenz. Da der Staat zur Gleichbehandlung verpflichtet ist, könnte das langfristig etwa dazu führen, dass es nicht nur ein kirchliches Sonderarbeitsrecht gibt, sondern auch ein islamisches Arbeitsrecht – sofern dem katholischen und evangelischen Arbeitsrecht nicht endlich ein Riegel vorgeschoben wird. Denn der Staat darf keine Religionsgemeinschaft bevorzugen. Statt die Privilegien der Religionsgemeinschaften zurückzunehmen, um die gebotene Äquidistanz zu wahren, geht der Staat derzeit jedoch in die entgegengesetzte Richtung und weitet diese aus. Ein Beispiel dafür ist die fortschreitende Ausdehnung des Religionsunterrichts.
Dabei liegt auf der Hand: Religion muss im säkularen Staat Privatsache sein.
Ein gläubiger Christ darf sich freilich entscheiden, am Karfreitag keine Tanzveranstaltung zu besuchen und den Tag in innerer Einkehr zu verbringen. Der Staat darf aber nicht Mitbürger*innen, die das anderes sehen, verbieten, an dem Tag ein Rockkonzert zu besuchen. Ein erwachsener Mann darf sich in einem liberalen Rechtsstaat für eine nicht medizinisch bedingte Zirkumzision entscheiden, nicht jedoch dürfen religiöse Eltern dies für (oder besser: gegen) ihre Kinder tun. Die Intimsphäre des Kindes ist unverfügbar. Erwachsenen und religionsmündigen Jugendlichen ist es unbenommen, an Ramadan zu fasten. Allerdings ist von ihnen sicherzustellen, dass nur sie die Konsequenzen davon tragen. Und: Selbstverständlich verstoßen verpflichtende Schulveranstaltungen zum gemeinsamen Fastenbrechen – wie sie eine Neuköllner Schule durchzusetzen gedachte – gegen das Neutralitätsgebot des Staates.
Es ist an der Zeit, staatlicherseits die Rechtsrealität einer säkularen Bevölkerung anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Es ist an der Zeit, eine "religionspolitische Zeitenwende" einzuläuten, zu der Philipp Möller vom Zentralrat der Konfessionsfreien jüngst aufrief. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass die Unterwerfung unter religiöse Glaubenssätze dem freiheitlichen, liberalen Rechtsstaat wesensfremd ist. Außerdem ist es Zeit, selbstbewusst für die Werte des Grundgesetzes einzustehen. Dazu gehört insbesondere, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und niemand aufgrund seiner Art zu leben, zu lieben oder zu denken benachteiligt werden darf. Die Grenzen der Toleranz sind dort erreicht, wo diese Werte negiert werden. Wer ernsthaft die Frage aufwirft: "Ist Eisessen im Freien obszön?", überschreitet übrigens diese Grenze. Erst recht gilt dies für die von der katholischen Kirche praktizierte Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen, denen Gleichbehandlung und Respekt vorenthalten werden.

8 Kommentare
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Kommentare
Gerhard Lein am Permanenter Link
Kleine Randbemerkung: In Hessen werden sogar Religionsunterrichte in 11 verschiedenen Bekenntnissen gegeben.
Werner Helbling am Permanenter Link
Fundamentalismus – Fanatismus – Ideologien in Religion und Politik führen weltweit zu den Zuständen., wie wir sie tagtäglich via den Medien übermittelt und vorgeführt bekommen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Genau diese Tatsachen prangere ich hier seit Jahren an, aber es ändert sich nichts, im Gegenteil es wird immer mehr Aufgerüstet, jetzt auch in der BRD, nach dem Motto wer den Frieden will der rüste zum Krieg, wie dumm
Da sich immer wieder einzelne Menschen an Machtgier berauschen (Trump, Putin, Xi, u.s.w.) und damit die gesamte Welt in Angst und Schrecken halten, wird es bis zum Ende der Erde
so weitergehen, wenn nicht ein Wunder der Erkenntnis dieser Tatsachen geschieht und der
einzig richtige Weg für alle gefunden wird.
Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Helene am Permanenter Link
Weil ja das Genitalverstümmlungsgesetz nicht der Verfassung entspricht: hat der Humanistische Verband eigentlich schon einmal überlegt eine Verfassungsbeschwerde durchzuführen?
Thomas Spickmann am Permanenter Link
Das wäre zwar wünschenswert, aber nicht einfach, sondern mit sehr viel Aufwand verbunden, langwierig und vielleicht nicht erfolgreich. Von religiöser Seite gäbe es massiven Widerstand.
Petra Pausch am Permanenter Link
Klagen dürfen nur Betroffene bzw. Betroffenenverbände. Und das ist der HVD nicht. Diese Frage wurde lange und ausführlich diskutiert. Siehe dazu auch: https://pro-kinderrechte.de/
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Richtig!
Aber inzwischen sind die ersten in jüdisch-gläubige Familien hineingeborenen Knaben nach Beschluss des 1631d BGB im Bundestag (am 12.12.12) 13 Jahre alt (bei Muslimen können sie sogar deutlich älter sein). Spätestens nächstes Jahr kommen die ersten in ein Alter, in dem sie (Religionsmündigkeit) frei entscheiden könnten, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehören wollen und wenn ja welcher.
Man müsste einen nach dem Erlass des Gesetzes beschnittenen Knaben finden (am einfachsten einen am achten Tag verstümmelten, weil der garantiert noch nicht einsichtsfähig war), der nach dem 14. Geburtstag den zwangsverordneten Glauben seiner Familie ablegen will. Dies wird formal kein Problem sein, doch die Markierung (amputierte Vorhaut) wird er durch einen Verwaltungsakt nicht los.
Aus meiner Sicht müsste dieser Knabe nun gegen den Staat klagen, da der sein Recht auf Würde (Art. 1 GG) und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) sowie sein Recht auf Religionsfreiheit (Art. 4 GG) nicht schützte und durch den 1631d BGB sogar den Eindruck erweckt, diese Grundgesetzartikel seien bei Kindern nicht anzuwenden. Auch nicht Art. 140 GG, der Zwang zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen untersagt. Ein acht Tage altes Baby wird kaum in die religiöse Veranstaltung der Genitalverstümmelung eingewilligt haben.
Der Vorteil wäre nun, dass das Kind nicht gegen seine Eltern klagen müsste (was psychologisch sicher schwierig wäre), sondern ausschließlich gegen den Gesetzgeber, da die Eltern ja im guten Glauben der Rechtmäßigkeit des Handelns agierten.
Ich hoffe, dass sich bereits Juristen um ein solches Opfer der MGM kümmern, damit nach dem 14. Geburtstag des betroffenen Jungen die Klage vor dem Verfassungsgericht eingereicht werden kann...
Lachmann am Permanenter Link
Aus einem Artikel des Spiegel zu einer Talkshow mit Maybrit Illner:
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Wie das mit der Religion als Lösung geht, beim Primat der Vernunft und Menschenwürde, habe ich noch nicht verstanden. Mir fehlt es da wohl an Intelligenz.