Interview

"Mein Ansatz ist die Lebenswirklichkeit"

Die SPD-Fraktion im Bundestag hat erstmals eine Sprecherin für Säkularität und Humanismus benannt: Kathrin Michel, Abgeordnete aus Bautzen, die auch die Schirmherrin des Parlamentarischen Abends ist, den der Zentralrat der Konfessionsfreien in dieser Woche veranstaltet. Der hpd sprach mit ihr über ihre künftige Rolle, über weltanschaulich neutrale Politik und ihren Ansatz, wie sie Dinge voranbringen will.

hpd: Frau Michel, Sie sind Sprecherin für Säkularität und Humanismus der SPD-Bundestagsfraktion, ein Novum, eine solche Position gab es bisher nicht. Wie kam es dazu?

Kathrin Michel: Das stimmt – als ich mit dem Vorschlag konfrontiert wurde, merkte ich, dass auch ich noch nie etwas davon gehört hatte. Ich habe mich dann etwas zu den Hintergründen umgehört: Warum hatten wir das bisher nicht? Es war eine gewisse Mischung aus "Wir haben bislang nicht die/den Richtige/n gefunden" und vielleicht auch "Wir wollten das nicht so unbedingt". Ich bin dann von einigen Genossinnen und Genossen gefragt worden. Ich bin auch die Co-Landessprecherin der Landesgruppe Ost und es ist ja kein Geheimnis, dass im Osten die Menschen eher konfessionslos sind, so sind wir ins Gespräch gekommen. Ich habe überlegt, was das für mich bedeuten könnte und habe dann erklärt, dass ich es mir gut vorstellen könnte, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich bin auch in Gespräche mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen gegangen, habe mich unter anderem mit Lars Castellucci, dem ehemaligen religionspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, lange und ausgiebig unterhalten und auch er hat mich gefragt, ob wir das unbedingt bräuchten. Aber irgendwann hat er mich dann angeguckt und gesagt: "Aber, wenn wir eine Sprecherin haben sollten, dann wärst du perfekt dafür".

Bisher sind konfessionsfreie Menschen in der Politik unterrepräsentiert. Kann Ihre Position daran etwas ändern?

Zumindest habe ich es mir fest vorgenommen. Wir können uns jetzt über philosophische Ansätze unterhalten, mein Ansatz ist eher die Lebenswirklichkeit. Ich orientiere mich an der Frage, wie wir Menschen in ihrer Realität unterstützen können. Und grundsätzlich erstmal einen Weg finden, über das Thema zu sprechen. Ich will nicht sagen, nur, weil wir keine Sprecherin hatten, haben wir darüber nicht gesprochen, aber dieses neue Amt könnte dazu beitragen, die Themen häufiger auf die Tagesordnung zu bringen und für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen.

Wie bewerten Sie das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates?

Das ist völlig in Ordnung und das ist auch mein Ansatz. Aber säkulare Politik bedeutet für mich nicht die Ablehnung von Religion, sondern die Anerkennung der Vielfalt. Das ist dort enthalten. Dass wir es in Gänze vielleicht nicht immer umsetzen, das steht auf einem anderen Blatt Papier, aber unser Grundgesetz sagt unter anderem, dass die ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird. Genauso gewährleistet ist allerdings auch die sogenannte negative Religionsfreiheit, dass es also ebenso die Freiheit gibt, seinen Glauben selbst zu bestimmen und gegebenenfalls auch keinem Glauben zu folgen. Mir ist sehr daran gelegen, das zu übersetzen: Was bedeutet das vor Ort? Was bedeutet das für bestimmte Vereine? Was bedeutet das für die Menschen? Wird berücksichtigt, dass fast 50 Prozent der Menschen in Deutschland weder der katholischen noch der evangelischen Kirche angehören? Ist es angemessen, wenn ich immer von einer christlichen Mehrheit spreche?

Was bedeuten Säkularität und Humanismus für Sie persönlich?

Für mich bedeutet es Gleichwertigkeit. Sicherzustellen, dass niemand bevorteilt, aber auch keiner benachteiligt wird. Egal, an welche Weltanschauung er oder sie glaubt, oder warum er/sie gerade nicht glaubt oder alles ablehnt – das gehört für mich alles dazu. Es klingt zwar ein bisschen platt, aber ich sage das ganz oft: Man darf natürlich das, was man selber glaubt oder nicht glaubt dem Nächsten nicht aufzwingen wollen. Und das legt auch unser Grundgesetz fest, es sagt: Jeder kann frei entscheiden, und mir ist daran gelegen, dass wir nicht nur sehen, dass es andere Bedürfnisse gibt, sondern auch überlegen, wie man damit umgehen kann.

In meiner eigenen Familie ist es so: Ich habe drei erwachsene Töchter, die sind konfessionslos, genau wie mein Mann und ich. Mein einer Schwiegersohn ist liberaler Jude, der zweite ist praktizierender Katholik, der dritte ist ebenfalls konfessionslos. Dass es uns in dieser Gemeinschaft wohlwollend gibt und jeder den anderen wertschätzt und dabei mit Unterschiedlichkeiten umgehen kann, das stelle ich mir auch für die Gesellschaft vor. Einen Staat, in dem wir nicht zuerst überlegen, was können wir dem anderen wegnehmen, sondern eher, wie können wir miteinander umgehen, damit wir alle gleichbehandelt werden können.

"Man darf natürlich das, was man selber glaubt oder nicht glaubt dem Nächsten nicht aufzwingen wollen. Und das legt auch unser Grundgesetz fest, es sagt: Jeder kann frei entscheiden"
Kathrin Michel, MdB

Was sind die größten Baustellen der Bundespolitik in Bezug auf Säkularität und Humanismus?

Ich bin jetzt ganz am Anfang. Ich schaue erstmal ganz genau hin. Ich werde in den nächsten Wochen und Monaten sehr viele Gespräche führen, Menschen kennenlernen und schauen, mit welchen Ansinnen sie kommen. Und ich bin mir bewusst, dass einige davon sicherlich fordernd sein werden, was ihre Vorstellung von Staat betrifft. Natürlich haben wir viele Bereiche, die per se vielleicht unsere christlichen Kirchen bevorzugen, das ist zum Beispiel der Einzug der Kirchensteuer. Auch das kirchliche Arbeitsrecht hat mir als Gewerkschafterin schon gewisse Bauchschmerzen bereitet. Das sind aber Sachen, die ich nicht prioritär ansehen wollen würde. Ich bin in meiner Entscheidung noch nicht festgelegt, was ich am meisten vorantreiben möchte. Ich bin niemand, der die Dinge nur philosophisch betrachten möchte, ich möchte nah bei den Menschen sein und schauen, was braucht es denn wirklich, und danach setzen wir die Prioritäten fest.

Mit dem Zentralrat der Konfessionsfreien stehen Sie bereits im Austausch – hatten Sie auch schon Kontakt mit anderen säkularen beziehungsweise humanistischen Organisationen?

Nein, tatsächlich nicht. Wenn Sie schauen, wie kurz eigentlich die Spanne ist, seitdem ich ernannt worden bin, dann unsere immense Arbeitsbelastung durch den Haushalt, die Sommerpause – das geht tatsächlich jetzt erst los. Das richtige Kennenlernen muss erst noch kommen, denn dazu gehört, dass man auch Einzelgespräche führt und in intensive Klausuren geht. Das steht noch an. Das ist vielleicht auch das Gute, wenn man das erste Mal so einen Posten antreten darf: Ich kann ihn auslegen, wie ich es gern möchte. Und das werde ich mir auch rausnehmen. Ich bin nicht gewillt, dass jemand sagt: "Jetzt haben wir sie und jetzt macht Frau Michel das, was wir wollen" – ich habe da meine eigene Geschichte.

Eine erste Gelegenheit für so einen Austausch könnte ja der Parlamentarische Abend des Zentralrats der Konfessionsfreien sein, der morgen unter dem Titel "Säkulare Politik mit Schwarz-Rot" stattfindet. Sie sind die Schirmherrin der Veranstaltung. Was erwarten Sie sich von diesem Abend?

Ich bin unheimlich gespannt auf die Diskussion, ich bin natürlich auch gespannt, wie mein Grußwort aufgenommen wird (lacht). Es gilt ja das, was ich über die vielfältigen Kontakte sage – die ich persönlich ja noch nicht haben kann – auch für die anderen. Dass wir also das erste Mal die Gelegenheit haben, nicht nur uns persönlich kennenzulernen, sondern natürlich auch auf einem Panel mit unterschiedlichen Menschen diskutieren zu können. Da werden die Herangehensweisen durchaus unterschiedlich sein. Es ist das erste Mal, dass ich in so geballter Form damit konfrontiert werde. Und man sieht es ja auch am Programm, welche unterschiedlichen Leute wir auf dem Panel haben werden, vom Rechtsphilosophen bis zum Vorsitzenden der Kurdischen Gemeinde. Ich hoffe, dass das ein erster Auftakt sein kann. Darauf freue ich mich sehr.

"Ich bin nicht gewillt, dass jemand sagt: 'Jetzt haben wir sie und jetzt macht Frau Michel das, was wir wollen'"
Kathrin Michel, MdB

Die Union tut sich naturgemäß schwer damit, Privilegien, die derzeit vor allem die christlichen Kirchen genießen, zu hinterfragen und religiös motivierte Gesetze zu überarbeiten, Stichwort: Schwangerschaftsabbruch. Sehen Sie trotzdem Chancen für säkulare Politik in dieser Legislatur?

Norbert Altenkamp von der CDU, der auf dem Podium sitzen wird, habe ich auch noch nicht persönlich kennenlernen können, da gibt es viel zu bereden. Und ja, mir ist durchaus bewusst, dass die Verhinderungsmechanismen in der CDU/CSU entsprechend hoch sein werden, und deshalb glaube ich schon, dass man über die Herangehensweise, die ich gerne wählen würde – dass man miteinander gut ins Gespräch kommt und nicht über die ideologische Einfallstür diskutiert, sondern anhand der Lebenswirklichkeit der Menschen, die es betrifft –, gemeinsam etwas erreichen kann. Aber das wird auch sehr von den handelnden Personen abhängig sein. Und es wird kein Sprint, es wird eher ein Marathonlauf, dessen bin ich mir voll bewusst.

Ich hätte es sehr begrüßt, wenn wir in der vergangenen Legislaturperiode das Abtreibungsrecht noch hätten reformieren können. Leider stand bei Paragraph 218 Strafgesetzbuch immer mehr das Trennende im Raum. Jeder versuchte den anderen zu überzeugen, wer denn jetzt der bessere Mensch ist. Ich sage immer zu meinen jungen Genossinnen: Ich komme aus einem Land, in dem der Schwangerschaftsabbruch legal war: der DDR. Ich merke, das war und ist vielen so nicht bewusst. Das sind Themen, die ich sehr gerne vorantreiben möchte. Es geht mir also nicht darum, abzuschaffen, was ich schon immer mal abschaffen wollte, sondern zu überlegen, was ist wirklich wichtig, was hilft uns und was hilft unserer Gesellschaft.

Gibt es etwas, das Sie abschließend noch sagen möchten?

Ich selber bezeichne mich als Brückenbauerin, ich habe auch einen Podcast, der so heißt. Ich beschreibe dort in vielen Folgen, in welchen Bereichen ich Brücken schlagen möchte, denn in unserer jetzigen Gesellschaft braucht es mehr Brückenbauerinnen und weniger Brückenabreißer. Deswegen konnte ich mir auch die Rolle der Sprecherin gut vorstellen, weil ich glaube, ich hätte keine Sprecherin haben wollen, die sofort auf Konfrontation geht und alles, was besteht, abschaffen möchte. Das ist meiner Einschätzung nach auch die Hoffnung derjenigen, die im Vorfeld Bedenken bei der Institutionalisierung so einer Sprecherinnenstelle hatten. Ich suche in erster Linie das Verbindende, in dem Fall zwischen Menschen, die glauben, Menschen, die unsicher sind und Menschen, die konfessionslos sind. Das ist mein Ansatz. Ich werde versuchen, das mit ganzer Kraft einzubringen.

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