BERLIN. (hpd) Zwei renommierte Gerichtsmediziner haben sich entschieden, in die Öffentlichkeit zu gehen, um das übliche Schweigen zu beenden. Ihr Thema ist die Vielzahl der misshandelten Kinder in Deutschland. Ihre Berichte aus dem Berufsalltag sind erschreckend.
Das Buch zu dem Vortrag ist in der Sachbuchreihe bei Droemer Knaur erschienen und avancierte zum Bestseller. Autoren sind Michael Tsokos und Saskia Guddat, Ärzte und Kollegen am Institut für Rechtsmedizin an der Charité in Berlin.
Die Veranstaltung fand in der Adenauer Stiftung Berlin statt, anwesend waren mehr als 100 Gäste. Im Rahmen der “Akademie-Lesung” leitete der Gastgeber Christian Schleicher den Vortrag ein, stellt die Wissenschaftler vor, denen in ihrem Arbeitsalltag Säuglinge, Kinder und Jugendliche vorgestellt werden, die misshandelt wurden. Die einen haben die Gewalt der Erwachsenen überlebt, andere sind daran zu Tode gekommen. Tritte, herausgerissene Haarbüschel, Setzen auf heiße Herdplatten, Schläge, Bisse, Verbrühungen oder lang anhaltendes, kräftiges Schütteln, das beispielsweise erst einmal unsichtbar ist, während dem unwiederbringliche Schäden durch das Brechen der sogenannten Brückenvenen wahrscheinlich sind.
“Wenn man wirklich wissen will, was passiert, muss man erst einmal die Situation beschreiben und die Missstände zeigen.” In dieser Aussage kamen die beiden Ärzte überein, übliches Schweigen zu brechen und aus ihrer rechtsmedizinischen Praxis die dramatischen Gewalterfahrungen von Kindern in ihren Familien zu schildern.
Michael Tsokos
Darauf aufbauend bieten sie Vorschläge, wie das deutsche Kinder- und Jugendschutzsystem verbessert werden kann, um das gesetzlich verankerte Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung zu sichern. Vor allem aber fordern sie beherztes Einschreiten gegen Kindesmisshandler – und gegen all jene, die die alltägliche Misshandlung von Kindern durch Wegschauen, Verharmlosen und Tabuisieren begünstigen.
Das Buch entstand. Personen- und Ortsnamen sowie Nebenumstände wurden zur Wahrung des Persönlichkeitsrechts der Beteiligten verfremdet.
Zur Grössenordnung
Die Kriminal-Statistik der Polizei zeigt durchschnittlich 160 zu Tode misshandelte Kinder, insgesamt ca. 200.000 Kinder, die in Deutschland Opfer von Misshandlungen durch Erwachsene werden. Andere Kinderrechtsorganisationen, so berichtete Michael Tsokos, halten die Zahl der Säuglinge, die von ihren Eltern oder den Lebenspartnern getötet werden, erheblich höher und führen jeden zweiten Knochenbruch bei Kindern auf Misshandlungen zurück.
Aufzeichnung der Missstände durch Beschreibung
“Ein Klaps hat noch niemanden geschadet” oder “so was macht doch heutzutage niemand in Deutschland mehr”, diese Worte kennen wird alle. “Doch dieser Niemand lebt hunderttausendfach mitten unter uns und der ‘Klaps’ ist soweit von Kindesmisshandlungen entfernt wie eine Schreckschusspistole von einer Kalaschnikow”, dieses bieten die Autoren in der Einleitung gegen übliche Bagatellisierung an.
Kindesmisshandlungen sind etwas anderes:
- aktive Vernachlässigung, d. h. Verweigerung von Pflege und Nahrung oder - passive Vernachlässigung – seelische Grausamkeit,
- sexueller Missbrauch
- Kinderprostitution
- körperliche Gewalt durch heftiges Schütteln am Brustkorb, Extremitäten oder Schultern - als Folge: Schütteltrauma,
- Battered Child Syndrom mit den möglichen Folgen eines Hirnödems, Hirnschäden, Blutungen an der Augen-Netzhaut, die Sehstörungen und Blindheit nach sich ziehen, sowie Nervenschäden mit der Folge körperlicher oder geistiger Behinderung.
Das Buch zeichnet Fälle. Jessika als Beispiel für die akute Vernachlässigung an einem 7-jährigen Mädchen, das schließlich nach einem Notruf durch die Eltern in einem verdunkelten Raum verhungert aufgefunden wurde. Die Rechtsmediziner fanden die Todesursache und die vorangegangenen Erniedrigungen. Das war zum einen die Vernachlässigung von Pflege und ein dauernde und chronische Unterernährung. Das Kind wurde in dem Entwicklungsstand einer 3-jährigen gefunden. Jessika war an einem Schütteltrauma erstickt. Festgestellt wurde auch, dass viele Monate vor ihrem Tod keine aufrechte Fortbewegung mehr war. Nachweise wurden erbracht. Nach dem Gutachten kam es zur Verurteilung des Vaters wie auch der Mutter.
Oder der sechs Wochen alt Junge, der plötzlich im Arm seines Vaters ohnmächtig wird und der gerufene Notarzt nur noch den Tod feststellen kann. Die Rechtsmediziner stellen ein Hirnödem fest, Einblutung der Netzhäute beider Augen. Bewusstlosigkeit und Tod des Kindes war herbeigeführt durch Schütteln. Auch hier kam es zu einem Prozess, Verurteilung und Haftstrafe.
Saskia Guddat
Battered-Child-Syndrom
Die häufigste Art, die Kinder durch Erwachsene hinnehmen müssen ist die Einwirkung von Gewalt mit stumpfen Gegenständen, Tritte, Zerren, Verdrehen von Extremitäten, Quetschen, Kneifen, Beißen, Ohren ziehen, Verbrühungen, Verbrennungen.
Immer wieder sehen Ärzte Kinder mit massiven Schädigungen als Folgen von Misshandlungen, die den Kindern erst einmal nicht anzusehen sind. Es gibt eine Statistik: Das Schütteltraume führt beispielsweise 20 % der Kinder in den Tod.
Folgen, die sich später zeigen
- 45,3 % Sprachschwierigkeiten
- 25 % moderate Behinderungen
- 14,8 % Blindheit
- 38,4 % Intellektuelle/kognitive Defizite
- 38,2 % motorische Defizite.
Lösungsansätze
„Wir haben eine Streitschrift geschrieben“, stellt Michael Toskos diesem Kapitel voran. Hier ihre Vorschläge zu Lösungsansätzen in Stichorten.
-
Kontrolleure für die Kontrolleure, Fachaufsicht über Jugendämter, Evaluation der derzeitigen Maßnahmen, Reduktion der Fallzahlen pro Mitarbeiter, finanzielle Abhängigkeit der Jugendhilfe revidieren, Qualitätsstandards, Qualitätskontrollen, bundesweit einheitliche Standards.
-
Misshandlungen als solche erkennen, Rechtsmedizinische Schulung aller Beteiligten und Verantwortlichen, Kinderschutz-Ambulanzen einführen, professionelle Leichenschau-Pflicht bei minderjährig Verstorbenen.
Respekt vor den Autoren, die hoffentlich viel Gehör finden! “Schuldig macht sich jeder, der wegsieht!”
Evelin Frerk
Inhaltsverzeichnis zum Buch und Leseprobe, Zahlen und Statisik in der Einleitung
Anmerkungen:
Michael Tsokos leitet das Institut für Rechtsmedizin an der Charité sowie das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit.
Saskia Guddat ist Fachärztin am Institut für Rechtsmedizin der Charité. Sie berät Berliner Kinderkliniken, den Berner Kinder- und Jugendgesundheitsdienst sowie die Ermittlungsbehörden, Gerichte und Jugendämter. Saskia Guddat, jetzt Saskia Etzold hat ihren Familiennamen verändert, die Redaktion des Buches hatte Andras Gössling.
Birgit Zeller, Vorsitzende der Landesjugendämter nennt das Buch “ärgerlich” und stellt die Frage: “Wer ist zuständig für den Kinderschutz” und bemängelt, die Autoren zeigten “….keinerlei Verständnis für das Handeln der Fachkräfte und keinerlei Einfühlung in Familien und ihre Kinder.”