Warum ich nicht zur katholischen Hochzeit gehen kann

"Evolutionsbiologen gehen nicht mehr davon aus, dass Instinktmuster auf ein Ziel hin orientiert sind. […] Nicht einmal unbewusst muss der Träger eines bestimmten Verhaltensmusters die Fortpflanzung intendieren, es genügt, dass er dem 'Lust-Signal' […] folgt. Das Ziel des Individuums ist Lust; wenn diese zur Nachkommenschaft führt, wird sich das entsprechende 'Lust-Findeprogramm' verbreiten und eine nächste Generation wird es wieder anwenden" (Berner 2005: 161). Dieser Betrachtung liegt die Unterscheidung von Zweckursache und Wirkursache zugrunde und ist sehr bedeutsam für ein naturalistisches Weltverständnis (vgl. Rovelli 2014: 39).

Nun hat die katholische Kirche in der westlichen Welt längst den Großteil ihres Einflusses auf das Sexualleben der Menschen verloren: Sexualkontakte vor der Ehe sind die Regel, jede zweite Ehe zerbricht, Geschiedene begehen ohne Schuldgefühl die Sünde der Wiederheirat, über dreißig Prozent der Kinder werden unehelich geboren, Verhütungsmittel sind selbstverständlich, Pornographiekonsum alltäglich, Masturbation wird von Urologen als gesundheitsfördernd empfohlen.

Dennoch hat die Paarbeziehung für die Mehrzahl der Menschen einen hohen Stellenwert für das persönliche Glück. Aber nicht mehr im "Format der katholischen Ehe" sondern eher im Format der "reinen Beziehung" wie sie von Anthony Giddens beschrieben wird (vgl. Lewandowski 2004: 30–47). "Die reine Beziehung wird nicht durch materiale Grundlagen oder Institutionen gestützt, sie wird nur um ihrer selbst willen eingegangen; sie hat nur sich selbst und besteht nur, solange sich beide darin wohl fühlen, solange beide einen emotionalen 'Wohlfahrtsgewinn' haben" (Schmidt 2014: 22).

Die gleichgeschlechtliche Ehe ist für die katholische Kirche von besonderer symbolischer Bedeutung, da in ihr die "reine Beziehung" besonders klar in Erscheinung tritt, und weil sie sich als Bedrohung für das im Untergang befindliche traditionelle Sexualitäts- und Ehemodell stilisieren lässt. Wenn in Frankreich hunderttausende Demonstranten gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare mit dem Slogan "Mama – Papa – Kind" durch die Straßen ziehen, beschwören sie damit vor allem die Rückkehr von Modellen, nach denen sie selber nicht mehr leben. So hat ironischerweise gerade die Diskussion um die gleichgeschlechtliche Ehe die Ehe aufgewertet.

Ein realistisches Verständnis menschlicher Sexualität auf der Basis des Katholizismus zu erlangen, ist in etwa so, als müssten wir den Kosmos auf der Basis des geozentrischen Weltbildes erforschen (der Vorstellung, dass die Erde das Zentrum des Universums ist, um die alle anderen Planeten kreisen).

Was die katholische Kirche als "Sünde wider die Natur" verteufelt, ist tatsächlich Ausdruck der faszinierenden Vielgestaltigkeit menschlicher Sexualität, die wir wertschätzen sollten: "Dass alle Menschen, unabhängig vom körperlichen Geschlecht, erotisch und sexuell aufeinander und miteinander reagieren können, ist ein menschliches Vermögen. […] Im Grunde sind unsere Erotik und unsere Sexualität Kunstwerke" (Sigusch 2011: 95).

Sexualwissenschaft liefert uns spannende Ansätze zum Verständnis menschlicher Sexualität wie z. B. Gagnon und Simons "Theorie sexueller Skripte". Sie zeigt, wie sehr Sexualität im Kontext sozialer Beziehungen, Wahrnehmungsweisen und Interpretationsmuster verankert ist. Das Geschlecht des begehrten "Objekts" ist für die Auslösung sexueller Erregung keineswegs der informativste Aspekt sondern höchstens eine Minimalvoraussetzung, die für die meisten Individuen meist erfüllt sein muss (vgl. Simon 1990: 110; Simon und Gagnon 1987; Lewandowski 2004: 47–56). Deutlich erkennbar wird dabei: "Kein Mensch ist als Geschlechts-und als Sexualwesen mit einem anderen Menschen identisch. […] die individuellen Erfahrungs-, Begehrens- und Erlebensstrukturen […] sind so zahlreich wie es Menschen gibt" (Sigusch 2013: 212).

VI Schluss

Was folgt aus der Erkenntnis, dass Evolution der Schlüssel zu unserem Selbstverständnis ist. Robert G. Ingersoll (Myers 2014: 4) hat das so beschrieben: "When I became convinced that the universe is natural, that all the ghosts and gods are myths, there entered into my brain, into my soul, into every drop of my blood the sense, the feeling, the joy of freedom. The walls of my prison crumbled and fell. The dungeon was flooded with light and all the bolts and bars and manacles became dust."

Die Erkenntnis fegt die ganze Armada der Priester, Mullahs und Rabbis hinweg, die ihre Kunst der religiösen Manipulation in mehr als 2000 Jahren so perfektioniert haben, dass diese Märchenonkel mit ihren Texten aus der Bronzezeit und der Antike noch heute auf unsere Gesellschaft Einfluss nehmen und wir unseren Verstand gegen ihre Glasperlen eintauschen (s. o.: II.).