Berliner Landesarbeitsgericht fällt Kopftuch-Urteil

Verfassungswidriges Kopftuch-Urteil

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Das Land Berlin weigerte sich, eine muslimische Informatikerin als Lehrerin einzustellen, weil sie darauf bestand, mit Kopftuch zu unterrichten. Am Dienstag urteilte das Landesarbeitsgericht Berlin, dass das Land Berlin der Muslimin zu Unrecht die Stelle verweigert habe. Rechtsexperten halten das Urteil für verfassungswidrig.

In Berlin gilt das sogenannte Neutralitätsgesetz. Es legt fest, dass Repräsentanten staatlicher Institutionen in ihrer beruflichen Funktion religiös neutral aufzutreten haben. Nach diesem Gesetz handelte das Land Berlin, als es einer muslimischen Informatikerin eine Anstellung als Lehrerin verweigerte – unter anderem, weil sie nicht bereit war, das Kopftuch abzulegen. Das Amtsgericht Berlin hatte im Mai 2018 geurteilt, dass das Land Berlin rechtens gehandelt habe. Im Berufungsverfahren vor dem Berliner Landesarbeitsgericht gaben die Richter nun jedoch der muslimischen Informatikerin Recht und sprachen ihr eine Entschädigung von anderthalb Monatsgehältern (knapp 6000 Euro) zu.

2015 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass für ein gesetzliches Verbot religiöser Symbole – wie dem Kopftuch – eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausgehen müsse. In der Vorinstanz des vorliegenden Falls war das Berliner Arbeitsgericht jedoch davon ausgegangen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 nicht bindend für den Anwendungsbereich des Berliner Neutralitätsgesetzes sei. Das Gericht hatte hierbei auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs verwiesen, nach denen ein Arbeitgeber berechtigt ist, allgemeine Regeln zum Tragen religiöser Symbole während der Arbeitszeit festzulegen. Ferner hatte sich das Berliner Arbeitsgericht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2003 sowie die abweichenden Richtermeinungen beim Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2015 gestützt.

Dieser rechtlichen Beurteilung widersprach nun das Landesarbeitsgericht Berlin. Wie die Vorinstanz hielt auch das Landesarbeitsgericht das Neutralitätsgesetz grundsätzlich für verfassungsgemäß. Allerdings nur deshalb, weil es verfassungskonform ausgelegt werden könne – und mithin auch müsse. Da das Landesarbeitsgericht im vorliegenden Fall durch das Tragen des Kopftuchs keine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität erkennen konnte, gab es der muslimischen Informatikerin Recht. In einem ähnlichen Fall aus dem Jahr 2017 hatte das Landesarbeitsgericht Berlin bereits eine ähnliche Entscheidung getroffen.

Seyran Ateş, die das Land Berlin in dem Verfahren um die muslimische Informatikerin als Rechtsanwältin vertritt, hält das Urteil des Landesarbeitsgerichts für grundlegend falsch. "Das Neutralitätsgesetz ist in seinem Wortlaut klar und darf nicht verfassungskonform ausgelegt werden", sagte Ateş.

Dirk Behrendt (Grüne), Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, erklärte hingegen zu dem Urteil:

"Der Konflikt um das Neutralitätsgesetz sollte nicht weiter auf dem Rücken der betroffenen Frauen ausgetragen werden. Die Entscheidung war so zu erwarten. Wenn es der Wahrheitsfindung dient, soll die Bildungsverwaltung in Revision gehen. Das Landesarbeitsgericht folgt hier der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb ist es am Abgeordnetenhaus, das Neutralitätsgesetz verfassungskonform auszugestalten."

"Der Justizsenator sollte tatsächlich seine Funktion und Rolle als 'Senator für Justiz der Stadt Berlin' überdenken", kommentierte Seyran Ateş wiederum die Äußerung von Behrendt. "Vor allem als Jurist sollte er solch eine Entscheidung sauberer kommentieren. So einfach ist es nicht, wie er und das LAG es sich gemacht haben. Schließlich hat der EuGH auch schon – und zwar ganz anders als der Justizsenator es nun so plump und populistisch formuliert – entschieden."

Kritik ernten der Justizsenator für seine Äußerung und das Landesarbeitsgericht für sein Urteil jedoch auch von Oppositionsparteien und juristischen Experten.

Cornelia Seibeld, integrationspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion Berlin, erklärte:

"Wann war es schon mal erforderlich, dass eine Juristin im Auftrag des Senats einen Justizsenator öffentlich maßregelt? (…) Aus unserer Sicht hat sich das Berliner Neutralitätsgesetz seit seinem Inkrafttreten 2005 bewährt und trägt zur friedlichen Gestaltung der kulturellen Vielfalt in unserer Stadt bei. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Senat gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Revision einlegen will."

Noch deutlicher werden die Rechtsexperten des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), die das Urteil des Landesarbeitsgerichts für verfassungswidrig halten:

"Erneut nimmt das Landesarbeitsgericht eine Auslegung des § 2 Satz 1 Neutralitätsgesetz Berlin (NeutrG) entgegen dem Wortlaut vor. Im Urteil vom Februar 2017 hatte das Gericht argumentiert: Die Regelung in § 2 NeutrG verstoße gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz und müsse deshalb verfassungskonform ausgelegt werden. § 2 Satz 1 NeutrG sei dahin auszulegen, dass Voraussetzung für das Verbot des Tragens von auffallend religiös geprägten Kleidungsstücken nicht nur das Vorliegen einer abstrakten Gefahr, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr für die religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber den Schülern und/oder für den Schulfrieden sein müsse. Diese Argumentation überzeugt nicht. Denn das Tatbestandsmerkmal der Gefährdung des Schulfriedens oder der weltanschaulich-religiösen Neutralität ist im Wortlaut des § 2 Satz 1 NeutrG überhaupt nicht enthalten. Eine Gesetzesauslegung, welche sich vom Konzept des Gesetzgebers löst und es durch ein eigenes Modell ersetzt, stellt eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung dar. Das Gericht darf sich nicht als Ersatzgesetzgeber aufspielen. Wenn das Landesarbeitsgericht das NeutrG für unvereinbar mit Art. 4 Grundgesetz hält, muss es das NeutrG dem BVerfG vorlegen. Das hat es nicht getan. Damit ist das Urteil des Landesarbeitsgerichts selbst verfassungswidrig."

Das Land Berlin hat angekündigt, mit dem Verfahren in die nächste Instanz zu gehen, zum Bundesarbeitsgericht in Erfurt. 

In Kürze wird das Berliner Landesarbeitsgericht übrigens über einen weiteren Kopftuch-Fall entscheiden: Eine muslimische Lehrerin aus Berlin-Spandau, die mit Kopftuch an einer Grundschule unterrichten wollte. Auch in diesem Fall hatte die erste Instanz, das Berliner Arbeitsgericht, dem Land Berlin Recht gegeben, das der Frau die Anstellung verweigert hatte.