Gestern Abend fuhr ein LKW über den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Dabei wurden 12 Menschen getötet und rund 50 zum Teil schwer verletzt. Heute Vormittag verdichteten sich die Hinweise, dass es sich dabei um einen terroristischen Akt gehandelt haben könnte. Berlin ist geschockt aber nicht kopflos.
Der Schock sitzt tief bei den Berlinern: Im morgendlichen Berufsverkehr sah man nur wenige Menschen, die nicht nach unten oder auf ihr Smartphone schauen. Kaum jemand sprach miteinander. Drei jugendliche Mädchen irritierten mit ihrem Lachen im Großraumwagen der U-Bahn. Doch ist das irgendwie auch beneidenswert: Wenn eine SMS wichtiger ist als die Betroffenheit der Berliner nach dem vermutlichen Terroranschlag.
Auf dem anderen großen Weihnachtsmarkt in Berlin – auf dem Alexanderplatz – geht das normale Leben scheinbar weiter. Die Händler öffnen ihre Buden, die Kessel für den Glühwein werden angeheizt und die Ware drapiert. Doch auch ich habe heute häufiger nach hinten geschaut, vorbeifahrende LKW beobachtet und mich beeilt, den Platz zu verlassen.
Und doch: Anders als es manche Kommentare in den sozialen Netzwerken und in manchen Medien darstellen: die Berliner sind zwar geschockt aber sie werden sich nicht unterkriegen lassen. Berlin ist – trotz aller Probleme – eine weltoffene Stadt. Hier kann man erahnten, was Adorno mit einer Gesellschaft, in der "Alle ohne Angst verschieden sein können", meinte.
Wahrscheinlich ist die Art der Berliner, mit dem schrecklichen Ereignis umzugehen, beispielhaft. Keine Panik, keine unbedachten Reaktionen. Der Widerspruch zwischen der Unruhe der Nachrichtenticker und Medien und der Stille, mit der die Berliner jetzt den Kopf einziehen und abwarten, was sich ergibt, ist fast unheimlich. Selbst am Unglücksort gab es wenig Panik. Wenn nicht einzelne "Journalisten" mit ihrem Handy filmend an den Opfern vorbeigerannt wären (und dafür von anderen Passanten scharf und körperlich angegriffen wurden), um "Bilder zu liefern; man könnte sogar von Ruhe in der Katastrophe sprechen.
Diese ruhige Handeln sollte die richtige Antwort auf den Terror sein. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Terroristen erreichen wollen. Zwar gibt es Medien und etliche Stimmen in den sozialen Netzwerken, die versuchen, Chaos und Unfrieden zu stiften und gegen Ausländer hetzten, als der LKW kaum zum Stillstand gekommen war; doch mir scheint, als würde das zwar einige Politiker, aber nicht die Berliner Bürger in Panik versetzen. Es ist zu erwarten, dass jetzt einige eine Verschärfung der Sicherheit fordern werden; andere den Ausbau der Überwachung. Doch dabei wissen wir alle: das bringt nicht mehr Sicherheit. Die offene Gesellschaft muss, um offen zu bleiben, Freiheit gewährleisten. Und dazu gehört leider auch, solche terroristischen Anschläge zu überstehen.
Man soll an die Opfer denken und die Angehörigen der Verletzten und Toten. Alles andere "lässt jeden Respekt vor dem Leid der Opfer und ihrer Angehörigen vermissen, denen unser ganzes Mitgefühl und unsere Solidarität gilt" erklärte Bundestagspräsident Norbert Lammert heute Vormittag.
Nachtrag: Unsere Fotoredakteurin Evelin Frerk war heute Mittag vor Ort und hat Fotos gemacht, die wir nachträglich dem Artikel hinzugefügt haben.
7 Kommentare
Kommentare
Siegrun am Permanenter Link
Mein ehrliches Mitgefühl den Berlinern. Und schon geht das Ärgerliche wieder llos..."Pray for Berlin"...daß diese Leute, die so etwas in die Welt setzen den krassen Widerspruch nicht sehen!!
Das ist doch völliger Unsinn!
Da hat ein Franzose intelligenter auf Twitter reagiert und erinnert an Kennedy: "Ich bin ein Berliner".
Vielleicht könnten Sie das hier veröffentlichen.
Da ich nicht weiß, ob ich hier links einbinden darf, es ist auf "le parisien" zu finden, mit einem schönen Logo, ein Herz in den deutschen Farben mit einer Friedenstaube. Mich hat diese Beileidsbekundung definitiv berührt.
Thomas am Permanenter Link
Und um 18:00 wird in der KWG genau dem Gott gelobhurt, der ethisch zu verkommen, zu blöd oder zu schwach ist, um Katastrophen wie die von gestern zu verhindern...
Wolfgang am Permanenter Link
Natürlich ist jeder normale Mensch ob Jude, Christ, Moslem oder Atheist geschockt, das ist völlig normal.Aber mich stört bei jeder Katastrophe: Sofort ein Gottesdienst einberufen!
Andreas am Permanenter Link
wer hält Sie davon ab, eine "säkulare Gedenkfeier" zu veranstalten?
Jürgen Roth am Permanenter Link
Die Kommentare zu dem ruhigen und gemessenen Text von Frank Nicolai gehen ins Leere. Die Gedächtniskirche liegt unmittelbar am Anschlagsort.
Dass der dortige Pfarrer die Kirche geöffnet hat, sollte indes nicht kritisiert werden. Die Kommentare "Lobdudelei" etc. werden weder der Stimmung hier in Berlin überhaupt nicht gerecht.
Antiklerikale Gehässigkeiten sind gerade an einem Tag wie heute ebenso unpassend wie das aufgeregte Gegacker von Seehofer und Co, die ohne zu wissen wer die Tat begangen hat, mal wieder eine Drehung an der Repressionsschraube gegen Flüchtlinge fordern.
Thomas am Permanenter Link
"Wenn sich Menschen verschiedener Glaubensrichtungen dann in der wenige Meter entfernten Kirche versammeln, ist das eine legitime Form, die eigene Trauer zu bekunden."
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Noncredist am Permanenter Link
In Angesicht der Hilflosigkeit sucht man Verständnis bei einer supernatürlichen Entität. In meinen Augen eine Kurzschlussreaktion.
Was ich nicht habe, ist Angst. Keinen Terror. Ich lasse mich durch blinde Todessehnsucht nicht verängstigen. Ich weiss nicht, ob irgendwelche "Terrororganisationen" dahinter steckten - dann sollten wir klar mit Freiheit und Freude weitermachen, denn das "ärgert sie am meisten", wie die philosophischen Ärzte schon feststellten. Oder ob vielleicht doch eine Kurzschlussreaktion eines hoffnungslosen, am Boden zerschmetterten, Menschen die Ursache war. Ich zweifle ein wenig daran, da anscheinend der polnische LKW-Fahrer erschossen wurde, und das erschiessen und nachträgliche in-die-Menge-fahren nicht gerade für eine Kurzschlussreaktion, sondern eher nach einer langen geplaten Tat sprechen. Aber ob es "von Aussen" kam, oder ein Einheimischer sich radikalisieren ließ, ist auch noch offen. Es sind einfach ZU VIELE VARIABLEN unbekannt, um sich ein klares Bild zu machen und vernünftig zu sein. In dieser Zeit der Hilfslosigkeit kann ich es verstehen, wenn man sich am mystischen Aberglauben orientiert und zusammenhält. Ich hingegen warte mal ab. Ich vermute, die IS oder die Taliban wird in absehbarer Zeit behaupten, sie wären es gewesen. Sie schnappen ja nach jedem Strohhalm, um ihr Ziel der "Angstmacherei" zu erreichen ... auch wenn sie vielleicht gar nichts damit am Hut hatten ;)
Kopf hoch! Zeigen wir der Welt, dass wir uns unsere Freiheit nicht nehmen lassen. Das wir sogar in Zeiten der Not für ALLE da sind, egal welche Hautfarbe, welche Nationalität und welcher Religion sie anhängen. Jetzt erst recht!