Wie Hermann Samuel Reimarus im 18. Jahrhundert anfing, die Bibel zu zerpflücken

Räuberpistole Ostergeschichte

Einige dunkle Jahrhunderte lang galt die Bibel als Gottes Wort. Ihre mannigfaltigen Absurditäten öffentlich zu bemerken, war gefährlich. Einer der Ersten, die es taten, war im 18. Jahrhundert der Hamburger Gelehrte Hermann Samuel Reimarus: Er unterzog die Bibel einer Prüfung mit den Augen der Vernunft. Und fand natürlich haarsträubende Widersprüche. Als er die Glaubwürdigkeit der Ostergeschichte massiv angriff, war der Skandal riesig. Reimarus erlebte den Rummel nicht mehr - aus guten Gründen hatte er seine Hauptschrift zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Das übernahm dann Lessing. Und handelte sich gewaltigen Ärger ein.

Puh, Ostern! Der Höhepunkt des christlichen Jahresrundlaufs, der Zeitpunkt, an welchem dem gläubigen Hirn die schlimmsten Verrenkungen abverlangt werden. Man braucht ohnehin schon sehr viele Eierliköreier, um überhaupt dem grundlegenden Gedankengang des Christentums zu folgen: Ein allmächtiges Wesen habe, aus dem Nichts und ohne nachvollziehbaren Grund, die Welt geschaffen. Habe dann, nach seinem Vorbild, doch fehlerhaft, den Menschen fabriziert. Habe diesem im Paradies eine kleine Falle gestellt, worauf der Mensch, wohl doch nicht sehr schlau, hineintappte und alle seine Nachfahren auf immerdar sich schämen und büßen müssten vor dem höchsten Wesen …
Ach, man mag das Fundament des christlichen Glaubens gar nicht weiter beschreiben. Es ist immer so kurios und doch so traurig, und immer schon hat es die denkenden Menschen beleidigt. Jetzt aber kommt Ostern! Ostern ist das höchste Fest dieser Religion – und ein sehr aufwändiges Fest mit viel Weihrauch und Latein und bei Bedarf ein bisschen Selbstkasteiung braucht es auch, um über all die irrwitzigen Widersprüche der Verkündigung nicht mehr nachdenken zu müssen. Ostern ist aber auch der Punkt, von dem aus das jahrtausendealte wirre Theologiegebäude mit am leichtesten zum Einsturz gebracht werden kann. Sehr lange Zeit hat sich das niemand getraut, oder den Versuch nicht überlebt. Erst weit im 18. Jahrhundert konnte in Deutschland der wache Geist benennen, auf welch wackligem Grund man als Christ sein Seelenheil gründet, und dieser wache Geist wohnte für den Moment im Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694 - 1768).

Als Deist und wissenschaftlich interessierter Mensch stach ihm ins Auge, worüber man sonst zeitlebens hinwegsingen und -beten musste: Was im Heiligen Buch stand, ergab schlicht keinen Sinn. Je mehr und je intensiver man sich mit der Bibel beschäftigte, mit ihren absurden Vorkommnissen, mit ihren tausendfachen Widersprüchen, desto weniger konnte man hinter ihr den Geist eines allmächtigen, perfekten Weltenschöpfers erkennen. Das zu Glaubende erschien nicht glaubenswürdig. Was aber sich als mulmiges Gefühl durch die gesamte Bibellektüre zieht, wird selten deutlicher als bei der Ostergeschichte: Wenn dies das zentrale Ereignis zur Seelenrettung der Menschheit ist, warum hat Gott nicht für eine vernünftige Inszenierung gesorgt und auf einen konzise Überlieferung geachtet?

Mit Akribie, Witz, Neugier und einem kriminologischen Scharfsinn, der die Nachbeter theologischer Dogmen nur zum Schäumen bringen konnte, zerlegte Hermann Samuel Reimarus in den Jahren von 1738 bis 1768 die Geschichte von der Auferstehung Jesu, und bis heute ist die Lektüre eine Freude – zuzusehen, wie wacher, fragender Geist über blinden Märchenglauben triumphiert. Schon die knappe Schilderung der Auferstehung in der Bibel erregt seinen Argwohn: Wieso wird das Top-Ereignis der Menschheitsgeschichte nur auf ein paar dürren Zeilen abgehandelt?

Aber wenn es nur das wäre. Die abweichenden, einander widersprechenden Angaben der vier Evangelien zwingen Reimarus nachgerade dazu, anhand der Bibel zum Quellenkritiker zu werden – und er muss noch nicht einmal andere Texte zum Vergleich heranziehen. Die Ungereimtheiten innerhalb der Bibel sind augenfällig genug: Wem soll man denn glauben von den Evangelisten? Am wenigsten wohl Matthäus, der die Fragwürdigkeit der Auferstehung mit viel Bühnendonner zu übertönen versucht: Bei ihm gibt es Erdbeben, es kommt ein Engel vom Himmel geschossen und wälzt den schweren Stein beiseite, und das Grab ist leer (Jesus muss also entweder, um das hier noch aus eigenen Stücken anzufügen, nach seiner Auferstehung den Stein, sehr ordnungsliebend, mit Superkräften wieder zurückgewälzt haben – oder durch ihn hindurch teleportiert sein).

Matthäus widerspricht damit allen anderen Evangelien, so wie die sich untereinander auch. Interessanterweise überliefert er aber auch etwas anderes, indem er es abweist: Das Gerücht, die Jünger hätten den Leichnam ihres Anführers gestohlen, derweil die Grabwachen schliefen. Reimarus merkt hier auf: Wieso muss dieses Gerücht hier bekämpft werden, außer, weil es neben den Auferstehungsgeschichten so glaubwürdig wirkt? Sehr detailliert geht Reimarus alle biblischen Angaben zum Geschehen durch, als fühlte er vor Gericht einem zwielichtigen Zeugen auf den Zahn: Wieso weiß der Hohe Rat von der bevorstehenden Auferstehung und lässt das Grab scharf bewachen, die Jünger aber fallen angeblich aus allen Wolken, als sie vom Verschwinden des Leichnams erfahren? Wieso marschieren sie wohlgemut zum Grab, um Jesus in Kräuter und Tücher zu wickeln – sollte ihnen die scharfe Versiegelung und Bewachung des Grabs entgangen sein? Hat Jesus etwa doch nicht angekündigt, wie es die Bibel notiert, demnächst dann auferstehen zu wollen? Wieso bemerken die Frauen im Markus-Evangelium das Erdbeben nicht, wieso begegnen sie beim Grabbesuch keinen Wächtern? Ist es glaubwürdig, was Matthäus behauptet: Dass die Soldaten am Grab zunächst die Wunder Gottes schauen und sich dann doch vom Hohen Rat bestechen lassen und der Welt erzählen, sie hätten ein Nickerchen gemacht, so dass die Jünger den Leichnam stehlen konnten? Wieso hat der allmächtige Gott nicht für eine angemessene Inszenierung gesorgt, vor den Augen der Welt, sondern lässt die Auferstehung auf eine Art und Weise stattfinden, die nicht anders als verdächtig genannt werden kann:

Wollte Gott Jesum zum Wunder aller Welt erwecken, warum sollte er es nicht bei Tage, vor aller Welt Augen tun; warum sollte er die Sache so veranstalten, dass, wenn einer auch noch so frühe zum Grabe käme, derselbe schon das Grab offen und ledig fände, und nicht den geringsten Unterschied merkte, als wenn der Körper heimlich aus dem Grabe gestohlen worden sei?

Warum, wenn soeben das größte Wunder von allen stattgefunden hat, tauchen die Jünger als Nächstes vierzig Tage lang ab, ehe sie Gottes Wahrheit verkünden? Und wieso pflegt der Heiland und Vollkaskoerlöser der gesamten Menschheit nur im stillen Kämmerlein und nur seinen paar Kumpels zu erscheinen: "Fragt man sie, wo war er denn? Wer hat ihn denn gesehen? So ist er bei ihnen im verschlossenen Zimmer gewesen, ohne dass eine Tür aufgegangen, ohne dass ihn jemand können kommen oder weggehen sehen, so war er auf dem Felde, in Galiläa am Meer, auf dem Berge! Mein! Warum nicht im Tempel? Vor dem Volke? Vor den Hohenpriestern? Oder doch vor irgendeines jüdischen Menschen Augen? Die Wahrheit darf sich ja nicht verstecken und verkriechen, und zwar eine solche Wahrheit, welche unter uns bekannt und geglaubt werden sollte?"

Absonderlichkeiten und Räuberpistolen zum Fremdschämen, wohin er nur schaut, entdeckt der neugierige Hermann Samuel Reimarus, ein durchaus gläubiger Mann, der aber nicht darauf verzichten wollte, Sinn und Verstand in der von seinem Gott geschaffenen Welt zu suchen, ein Mann, dem blindes Nachbeten nicht genügte für die eigene Seligkeit. Dass vernunftgemäße Argumentation in religiösen Dingen nicht ohne Konsequenzen bleiben konnte, ahnte er: So lange er lebte, traute Reimarus sich nicht, seine Hauptschrift "Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" zu veröffentlichen. Das erledigte, nach seinem Tod, dann Lessing in den Jahren 1777/78. Es brach eine religiöse Debatte ungekannten Ausmaßes über ihn herein, Lessing lieferte sich eine rasche Abfolge von Streitschriften namentlich mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, einem lutherischen Orthodoxen, dem es gefiel, an die biblischen Buchstaben um so fester zu glauben, je weniger sie eine Fetsigkeit hergaben. Für Lessing war ein Schreibverbot in religiösen Dingen die Folge. Später wurde "Nathan der Weise" daraus.

Reimarus musste sich das nicht antun. Er war und blieb verstorben, aber er stand in seinen Schriften wieder auf, er wurde angefeindet und bekämpft wie das freie, logische, an der Wirklichkeit interessierte Denken immer wieder angefeindet und bekämpft wird von den Dogmatikern, die ihre behäbige Selbstgewissheit, ihren Rang und ihre Pfründe bedroht sehen. Reimarus ist bis heute geblieben, er hat einen frühen und wichtigen Beitrag zum Verständnis der Bibel geliefert als einem literarischen Konvolut mit einer Jahrhunderte dauernden Entstehungsgeschichte und vielfältigen Einflüssen. Er hat mitgeholfen, ein klassisches Stück Literatur auch für denkende Menschen lesbar zu machen. Auf ihn wollen wir anstoßen zu Ostern - mit einem richtig guten Eierlikörei.