Interview

Humanistische Zwischenrufe

Im Alibri Verlag erschien gerade in der von Horst Groschopp herausgegebenen Reihe "Humanismusperspektiven" (Band 6) ein Sammelband mit Texten von Ursula Neumann mit dem Titel "Tätiger Humanismus". Darin befindet sich auch ein Nachwort der Autorin mit der bezeichnenden Überschrift "Komprimierte Bilanz". Wir sprachen mit dem Herausgeber.

hpd: Ursula Neumann gehört zu den bekanntesten Personen der "säkularen Szene". Sie ist Mitglied im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) und in der Humanistischen Union (HU), hat die Debatten in der "Freien Akademie" bereichert und in "Aufklärung & Kritik" publiziert. Nun erscheint endlich ein Sammelband, der die verstreuten Texte für ein interessiertes Publikum bündelt. Worum geht es in dem Buch?

Horst Groschopp: Wie der Titel "Tätiger Humanismus" vermuten lässt, enthält der Sammelband ausgewählte Publikationen, mit denen sich die Autorin in praktische Vorgänge kommentierend einmischt. Es sind keine elaborierten theoretisierenden Äußerungen zu erwarten, sondern anspruchsvolle Meinungsäußerungen, die ein Bild davon entstehen lassen, was "tätiger Humanismus" sein kann.

Können Sie dazu ein Beispiel geben?

Cover

Zunächst möchte ich die Themenbreite betonen, schon kenntlich an den "Kapitelüberschriften", denen die Texte zugeordnet sind: Biographisches, Gewissheiten, Religions- und Kirchenkritik, Religions- und Ethikunterricht, weibliche Selbstbestimmung, Umgang mit Geflüchteten, Kulturkritik. Dann ist auffällig, gerade in den Texten, die länger zurückliegen – etwa zum Schwangerschaftsabbruch oder zum Umgang mit Asylsuchenden –, dass sich nicht nur Originalität zeigt, sondern auch Kenntnis der Wirklichkeit, gepaart mit Witz und Aktualität. Es verblüfft geradezu, wie wenig oft ein Fortschritt zu heute feststellbar ist.

Können Sie das noch präzisieren?

Nehmen wir zwei, Älteren in der Szene irgendwie ans Herz gewachsene Texte, so den "Brief an den Herrn Bundesverfassungsgericht" zum Schwangerschaftsabbruch von 1993 und die Polemik von 1998 "Sind Christen doch die besseren Menschen?" über das "Märchen von der Bedeutung christlicher Wertevermittlung". Wenn man heute die aktuellen Debatten verfolgt und mit denen von damals vergleicht, entsteht zum einen der Eindruck, die Zeit sei stehengeblieben, aber zum anderen zugleich: Die Position von Ursula Neumann ist heute keine mehr einer kleinen Minderheit.

Ist das auch bei den Texten zur Kirchenkritik der Fall?

Ja, aber hier möchte ich etwas weiter ausholen und zunächst auf den Zusammenhang dieses Bandes mit Band 5 der Reihe verweisen, Johannes Neumann "Humanismus und Kirchenkritik. Beiträge zur Aufklärung". Einige gemeinsame Texte von Johannes und Ursula Neumann zum Thema finden wir in dem neuen Buch, aber auch eine Mehrzahl von Ausarbeitungen, für die sie alleine verantwortlich zeichnet. Von den Letzteren möchte ich diejenigen hervorheben, die sich mit der Diskriminierung von Frauen in der katholischen Kirche beschäftigen, etwa "Christliche Gleichberechtigung" von 1994 und "Behandelt man so seine treueste Stütze? Das Verhältnis Frau und Kirche" von 1998.

Hier möchte ich unbedingt einwerfen, dass es ja nicht viele humanistische Bücher gibt mit Frauen als Autorinnen, aber dass man dies dem ganzen Band anmerkt.

Ich bin mir fast sicher, dass Ursula Neumann daraus keinen großen Zauber ableiten würde.

Zurück zur Frage nach der Kirchenkritik …

Ganz anders gelagert als die soeben genannten Themen ist der gemeinsame Text von 1990 "Theologie als Glaubensgehorsam. Anmerkungen zu einem bemerkenswerten Dokument der römischen Kongregation für die Glaubenslehre". Hier wird uns noch einmal in Erinnerung gerufen, dass Johannes und Ursula Neumann nicht einfach Katholiken waren, sondern sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil um Reformen bemühten, wie wir wissen vergeblich. Hier nun analysieren sie einen Text, aus dem klar hervorgeht, dass Glaube über Wissenschaft stehen soll, dass sich nichts geändert hat. Derzeit gibt es wieder einmal Reformdebatten … sie werden den eisernen Ring von Zensur und Unterordnung unter die Dogmen nicht sprengen können.

Ursula Neumann, Foto: © Evelin Frerk
Ursula Neumann, Foto: © Evelin Frerk

Enthält der Band Erstpublikationen?

Es gibt eine "Editorische Notiz", die die Herkunft aller Texte nachweist und bei Erstveröffentlichungen darauf hinweist – auch darauf, dass zwei Texte darunter sind, die der hpd nicht veröffentlichen wollte.

Der Untertitel des Buches lautet "Historische Beiträge zu aktuellen Debatten". Welcher ist für Sie besonders aktuell?

Zu diesen neuen Veröffentlichungen gehört die ungemein zeitgemäße Zusammenfassung von beiden Neumanns der Positionen von 1998 im Streit um das "'Ersatzfach' Ethik. Informationen zum Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17. Juni 1998". Aus aktuellen Berichten über ähnliche Gerichtsverfahren im gleichen Bundesland Baden-Württemberg entnehme ich, dass diese Erfahrungen wahrscheinlich unbekannt geblieben oder vergessen worden sind. Deshalb die Publikation.

Das Thema ist ja auch ein Problem der Verbändepolitik?

Ja, unbedingt, schon darüber, ob es sich hier überhaupt um ein "Ersatzfach" handelt. Thomas Heinrichs ist im zweiten Band der Reihe anderer Ansicht. Ursula Neumann legt großen Wert darauf, mit ihren Positionen etwas zur Debatte beizutragen, sich aber nicht direkt einzumischen, schon gar nicht für einen bestimmten Verein. In meinen Augen ist zudem wieder einmal unklarer geworden, welches Verbandskonzept eigentlich das der Lage angemessenste ist, seitdem der HVD auch kein einheitliches Konzept bezüglich Lebenskunde mehr hat, was einmal seine Gründung 1993 auszeichnete.

In ihrem Vorwort gehen Sie auf die aktuelle Debatte zum Ethikunterricht ein. Warum?

Das ist eine Replik auf den historischen Text zum "Ersatzfach Ethik". Wir werden im kommenden Jahr 2020 das hundertste Jubiläum der ersten deutschen "weltlichen Schule" in Berlin-Johannisthal begehen, übrigens mit dem Schulfach Lebenskunde statt Religionsunterricht. Ich befürchte, wir werden unangemessen unvorbereitet in die Debatte darüber gehen, falls es eine gibt, denn es gab fast überall in Deutschland bis 1933 solche "Sammelschulen" für Dissidentenkinder, vor allem in Preußen und Sachsen.

Und nehmen wir an, es gäbe eine solche Diskussion (oder erst einmal neuere Forschungen), dann vermute ich, werden die "weltlichen Schulen" vor allem im Westen gesucht werden, aber sie wurden bereits im Mai/Juni 1945 für die gesamte sowjetisch besetzte Zone inklusive Berlin eingeführt per Befehl und dies für alle Kinder. Auch dazu wird sich die Szene verhalten müssen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen für den hpd stellte Martin Bauer.

Ursula Neumann: Tätiger Humanismus. Historische Beiträge zu aktuellen Debatten. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Horst Groschopp (Reihe Humanismusperspektiven, Band 6). Aschaffenburg: Alibri Verlag 2019, 276 Seiten, kartoniert, Euro 22.-, ISBN 978-3-86569-301-3