Gedenken an Hatun Sürücü: Leben wie eine Deutsche als Todsünde (Teil 1)

Vom mörderischen Hass auf Integration

Der penibel recherchierte Film "Nur eine Frau" über die reale Geschichte der Aynur Hatun Sürücü berührt durch den Kunstgriff, dass sie von der bereits ermordeten Aynur (gespielt von Almila Bagriacik) aus dem Off so locker erzählt wird.

"Und das bin ich", erklärt sie, die nur Aynur genannt wird, dem Publikum zu Beginn mit sympathisch junger Stimme. Gezeigt wird dabei das Originalfoto eines mit Plane überdeckten Leichnams an einer Berliner Bushaltestelle. Dort wurde die arglose 23-Jährige – ihre schändliche Integration bedeutet für die Familie eine Todsünde – am 7. Februar 2005 von ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder erschossen.

Umrahmt von Aynurs Lieblings-Popsong geht es in diesem Tonfall munter weiter: "Habe ich mir auch anders vorgestellt: Ich war ein Ehrenmord, der erste, der so richtig viel Presse erhielt. … Vielleicht denkt ihr, na und? Alles schon so lange her, kann die nicht einfach tot bleiben? … Stimmt! Aber eine Sache ist gut daran: Ihr sitzt vor mir und hört zu, also willkommen! Willkommen in Deutschland."

Der Film "Nur eine Frau" von 2019, produziert von Sandra Maischberger ("Es sollte uns keine Ruhe lassen!"), ist zudem so geglückt durch den Einsatz von Bildern der echten Aynur. Wir sehen eine hübsche junge Frau, zunächst ernst mit gebundenem Kopftuch und langem Mantel, dann dunkelhaarig und lebenslustig, strahlend mit ihrem Söhnchen Can und stolz darauf, endlich selbstständig sein zu können. In Rückblenden und Schnitten von Originalaufnahmen werden wir als Zuschauer*innen zurückgeführt quer durch ihr Berliner Viertel in Kreuzberg, wo in einer Vierzimmerwohnung die sunnitisch-kurdische Familie Sürücü lebt. Das Ehepaar ist Anfang der siebziger Jahre aus Ost-Anatolien zugewandert. Die Mutter hat neun Kinder geboren, bis auf das älteste alle in Deutschland.

Willkommen mitten in Deutschland hautnah

Bei aller Tragik der Handlung verstehen es Florian Oeller (Buch) und Sherry Hormann (Regie) erstaunlich gut, mit Auflockerungen und Musikauswahl uns Zuschauer*innen nicht zu deprimieren, sondern auch spannend – ja – zu unterhalten. Wir erfahren durch Einblicke in das Familienleben in der Wohnung hautnah, dass sich daraus zwar die Söhne durchaus absetzen können, wohl ins kleinkriminelle Drogenmilieu oder auch kulturell – der älteste zieht Breakdance dem Beten vor, studiert in einer anderen Stadt – ohne dass die Familienehre beschädigt würde. Für die Schwestern jedoch gelte nur eine eigene Willensbekundung schon als unerhörte Rebellion, die zur unverzeihlichen Schande führe für die Familie, deren "Ehre" allein am Benehmen der Frauen festgemacht wird. In diesen streng traditionellen Kreisen werden sie nach Möglichkeit jung verheiratet und sind fortan verpflichtet, wie vorher dem Vater – beziehungsweise den Brüdern – dann dem Ehemann in jeder Hinsicht aufs Wort zu gehorchen.

So wird auch Aynur, 1982 in Berlin geboren, mit 15 Jahren von dem Berliner Robert-Koch-Gymnasium genommen. Sie wird in die Heimat geflogen und zur arrangierten Ehe mit einem Cousin genötigt – mit Blick auf ein wunderbares Brautkleid will sie die pompöse Hochzeit dann auch selbst, stimmt "freiwillig" zu.

Zwang im Verborgenen und perverse Sexualmoral

Viele Monate später steht sie wieder vor der Tür in Kreuzberg, hochschwanger und mit deutlichen Spuren von Misshandlung durch den Ehemann. Sie wird zwar aufgenommen, ist aber für die Familie nach der gescheiterten Ehe nur noch ein Schandfleck. Aynur lässt uns Zuschauer*innen nun an diesem tristen Dasein und ihrem Schmerz ganz nah teilhaben. Ihr wird allenfalls erlaubt, zum Einkauf mit der Mutter die Wohnung zu verlassen, wo sie ansonsten im Haushalt arbeiten muss und zusammen mit ihrem Kleinkind in der Besenkammer schläft. Das sind auch (wie unter anderem Zwangsverheiratungen) gewaltsame Verhältnisse im Namen der Ehre. Wenn es nur in den seltensten Fällen dabei zum Mord kommt, heißt dies aber nur, dass sie völlig unentdeckt im Verborgenen verübt werden.

Im vergangenen Jahr konnte der kurze Kinoeinsatz von "Nur eine Frau" keine großen Zuschauerzahlen vorweisen, was sich hoffentlich ändern wird. In der ARD-Mediathek ist der Film (allerdings nur!) noch bis zum 25. Februar 2020 zu sehen.

Die wahre Geschichte von Aynur nimmt dergestalt ihren Lauf, dass sie aus diesen streng patriarchalen Verhältnissen zunächst in eine Mutter-Kind-Einrichtung flieht, mit Hilfe des Jungendamtes eine Schul- und Berufsausbildung macht, sich als integrierte Deutsche gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei fühlt. Sie findet und liebt schließlich einen (nicht-muslimischen) "Deutschen" (sprich "Ungläubigen"), einen Dachdeckergesellen, der auch ihren kleinen Can in sein Herz geschlossen hat.

Als fatal mag vielleicht erscheinen, dass sie dabei immer noch an ihrem Elternhaus festhalten und dort akzeptiert werden möchte, trotz massivster Beleidigungs- und Drohattacken ihrer religiös fanatisierten Brüder, für die sie sich der Hurerei und Unzucht schuldig macht – was Allah bestraft sehen möchte. Dabei möchte Aynur nur eins: eine gute Mutter und Muslimin sein und dabei leben, lieben, arbeiten, wohnen und sich kleiden "wie andere deutsche Frauen auch".

Ohne Kopftuch eine Hure – perverse Sexualmoral

Die älteren Brüder – ihnen wird später vorgeworfen, den Mord geplant und Beihilfe geleistet zu haben – holen sich Rat beim Prediger einer Moschee. Dieser lässt keinen Zweifel daran, wie mit Frauen umzugehen sei, die vom "wahren Weg" abweichen. Das ist der Fall, wenn sich eine Muslimin etwa mit T-Shirt zu kleiden beginnt und Arme, Beine und Haare den – stets als lüstern fantasierten – Männerblicken zur Schau stellt. Dass auch die Brüder selbst von dieser perversen, vom Vater strengstens kontrollierten und mit Sanktionen bestraften Sexualmoral betroffen sind, wird in einer Szene im Film angedeutet. Und selbstverständlich müssen die Mädchen und die Jungen in den beengten Wohnverhältnissen jeweils einen voneinander abgeschotteten Schlaf-/Aufenthaltsraum haben. Wir sehen das eine große Bett, in dem die vier Schwestern gemeinsam schlafen.

Vater und Mutter hatten Aynur von dem Zeitpunkt endgültig verstoßen, als sie das Kopftuch zunächst gelegentlich, dann völlig ablegte. Das Kopftuch war zur Bedingung für jegliche Treffen rigoros von ihr eingefordert worden. Trotzdem versucht sie vergebens immer und immer wieder Kontakt aufzunehmen und mit dem heranwachsenden Söhnchen Can die Eltern zu besuchen – obwohl sie gewarnt gewesen sein müsste und damit der Lebensgefahr näher kommt. Schon lange ist die Schande, welche die Familie meint, aus der Welt schaffen zu müssen, in einem gramvollen Vater-Sohn-Gespräch so auf den Punkt gebracht: "Alle reden über uns … Weil sie rumläuft wie 'ne Deutsche". Der Druck kommt also nicht nur aus der Familie selbst, sondern auch aus einem islamisch-türkischen Umfeld, welche Integration als schändlich ablehnt. Und schließlich wird er zur Katastrophe führen.

Wird morgen fortgesetzt!

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