Gedenken an Hatun Sürücü: Leben wie eine Deutsche als Todsünde (Teil 2)

Vom Frauentöten innerhalb der Familie

Heute jährt sich auf den Tag genau zum fünfzehnten Mal der sogenannte Ehrenmord, dem die in Berlin geborene Türkin Aynur Hatun Sürücü zum Opfer fiel. Wer meint, dabei handele es sich doch um einen Fall in einem islamischen Umfeld, welches in Deutschland kaum mehr so existiert, irrt gewaltig. In Wirklichkeit ist in der dritten "Gastarbeiter"-Generation der identitätsstiftende "Ehrbegriff" sogar wieder schärfer geworden. Der auf Fakten basierende Film "Nur eine Frau", der vor einer Woche in der ARD ausgestrahlt wurde, zeigt auch die Vorgeschichte: Wie eine Tochter und Schwester, die mit einer streng religiösen Kulturtradition bricht, erbarmungslos verstoßen wird.

Der erste Teil erschien gestern beim hpd

In der seit über dreißig Jahren in Berlin lebenden kurdisch-sunnitischen Familie von Aynur Hatun Sürücü werden "westliche" Lebensformen zutiefst abgelehnt und verachtet. Wenn der Spielfilm "Nur eine Frau" die realen Umstände der Geschichte zeigt, hält er sich penibel an die Fakten, die in Ermittlungsverfahren, Prozessen, Zeugenaussagen und Interviews zutage getreten sind. Erzählt wird vor allem aus Sicht der ermordeten Aynur/Hatun. An ihrem 23. Geburtstag ist sie nur glücklich und feiert ausgelassen: als Alleinerziehende mit ihrem kleinen Sohn Can (noch vor seiner Geburt wurde die Zwangsehe in der Türkei aufgelöst), mit Freundinnen und – unverzeihliches Vergehen im traditionellen Ehrenkodex – auch mit Freunden. Ihr Ausbilder hat sie gerade ermutigt, eine Prüfung zur Elektroinstallateurin nachzuholen.

Wie der Mord geschah

Einige Tage später erhält Aynur ("Mondlicht", wie sie nur genannt werden möchte) abends in ihrer Wohnung Besuch ihres jüngeren Bruders Ayhan (genannt: Nuri). Sie willigt beim Abschied völlig arglos ein, Nuri kurz – noch mit Kaffeebecher in der Hand – bis draußen zur Bushaltestelle zu begleiten. Den fünfjährigen Can lässt sie in der Wohnung schlafend zurück. Nicht im Affekt, sondern geplant zieht Nuri dann auf der menschenleeren Straße eine Waffe, schaut ihr in die Augen und schießt ihr dreimal ins Gesicht. Aynur stirbt noch am Tatort.

Der Mörder flieht unerkannt, die Tatumstände inklusive Beihilfe werden erst durch die polizeilichen Ermittlungen aufgedeckt. Die Berliner Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen drei von Aynurs Brüdern und legt ihnen niedrige Beweggründe und eine heimtückische Vorgehensweise zur Last. Nuri gesteht die Tat, als jüngster der drei. Eben erst 18-jährig, erhält er die geringste Strafe. Er nimmt die alleinige Schuld auf sich, was allerdings von einer Kronzeugin, der sehr jungen Türkin Melek, überzeugend widerlegt wurde. Diese ist in Nuri verliebt gewesen und als "Verlobte" in die Familie Sürücü aufgenommen worden. Das Mädchen entstammt aber einer muslimischen Familie mit liberaler Lebensweise. Auch diese wird im Film, vor allem verkörpert durch die ("voll" integrierte, beruflich selbstständige) Mutter Meleks, ausführlich dargestellt.

Die nach der Mordtat völlig verzweifelte und verängstigte Melek erlangt schließlich die Kraft, im Mordprozess unbeirrt und tapfer gegen das Komplott der Familie Sürücü auszusagen, deren Zeugin sie war. Nun wird auch sie massiv beleidigt und bedroht und muss – wie diese Dokumentation zeigt – Identität und Wohnort ändern und ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden, dem sich ihre Mutter anschließt. Mehr Tragik geht nicht.

Sicht der Täter

Die Regisseurin Sherry Hormann ist klug genug, auch die andere, die Täterseite auszuleuchten. Da sind ihre drei volljährigen Brüder, die in Aynur/Hatun nur noch eine "befleckte" Frau sehen. Eben weil sie ja "wie eine Deutsche – also wie eine Hure" lebt, die das Kopftuch und das lange Mantelkleid abgelegt hat und mittlerweile auf eigenen Beinen steht. Doch die Brüder werden nicht ohne ihre anfänglichen Zweifel und eigene Nöte dargestellt und können insofern auch als verlorene Söhne eines Systems erscheinen, welches Menschlichkeit, Liebe und am Ende die Familie zerstört.

In einer Moschee werden sie dann noch von einem tiefgläubigen Imam auf subtile Weise in ihrem Hass gegen die eigene Schwester befeuert. Wäre man in einem muslimischen Land, sei die Sache klar, erklärt dieser: Die Unzucht von Frauen müsse bestraft werden. Man lebe hier allerdings in Deutschland – wo für Muslimen entgegen Allahs Wille (!) so etwas ja nicht erlaubt sei.

Im vergangenen Jahr konnte der kurze Kinoeinsatz von "Nur eine Frau" keine großen Zuschauerzahlen vorweisen, was sich hoffentlich ändern wird. In der ARD-Mediathek ist der Film (allerdings nur!) noch bis zum 25. Februar 2020 zu sehen.

In der sehr sehenswerten Dokumentation von 2017, in der Matthias Deiß und Jo Goll aufwendig das spätere Schicksal aller (!) Beteiligten recherchieren, wird in Istanbul auch der älteste der beschuldigten Brüder interviewt, der sich mit dem zweitältesten vor weiterer strafrechtlicher Verfolgung in die Türkei abgesetzt hatte. Sie sind als türkische Staatsbürger in ihrem Heimatland sicher, wenngleich ein internationaler Haftbefehl gegen sie vorliegt. Auf die Frage, welcher Art die Bestrafung für Frauen wie seine Schwester Aynur im Sinne Allahs denn wäre, antwortet der ältere Bruder: "Steinigung". Und ob er das denn richtig fände: "Ich akzeptiere die Gesetze des Koran gegen begangene Unzucht". Aber er würde auch für sie beten. In welchem Sinn, fragen Deiß und Goll. Seine Antwort: "Dass Allah ihr vergeben möge". Genauso sieht dies auch Aynurs ein Jahr jüngere Schwester Shirin, die mittlerweile mit im Haus dieses Bruders in Istanbul untergekommen ist.

Die Schwester eine Schlange – die Brüder ohne Reue

Shirin hat sich völlig in den Dienst des fundamentalen Islam gestellt. Sie sei eine Schlange, sagt im Film aus dem Off die Schauspielerin-Stimme der Ermordeten angesichts von Shirins Verrat vor Gericht. Als elegant mit Kopftuch auftretende, selbstbewusst ihre staatlich verbürgten Rechte wahrnehmende Frau hat sie die Rolle der Nebenklägerin eingenommen. Diese dient eigentlich der Vertretung des Opfers, also der toten Aynur! Die Rolle wird jedoch von Shirin und den Anwälten der Angeklagten unverschämt clever umgedreht und dazu missbraucht, um volle Akteneinsicht zu erhalten. Mit diesen Infos vermag die fromme Schwester dann zur Entlastung ihrer Brüder erheblich beizutragen. So konnte die Verteidigung versuchen, mit einer mehr als zehnstündigen Befragung und Gutachten die Glaubwürdigkeit der jungen Haupt- beziehungsweise Kronzeugin Melek, der früheren Freundin des Täters Nuri, zu erschüttern. Und Shirin konnte die Gelegenheit nutzen, um sie ausgiebig mit Schmutz und Häme zu überziehen.

Bemerkenswert ist dazu die Äußerung von Seyran Ateş:

"Als Anwältin, die Frauen hilft, ihren eigenen Weg zu gehen, ihr eigenes Leben zu leben, kann ich nur sagen, dass der Kampf deshalb so schwer ist und wir nur kleine Schritte vorankommen, weil wir diesen Kampf nicht nur gegen brutale und machtbesessene Männer führen, … sondern auch gegen Frauen, die in diesen Strukturen kein Problem sehen, von ihnen ebenfalls profitieren …"

In der mehrfach ausgezeichneten Dokumentation von Deiß und Goll wird auch der Bruder Nuri im Gefängnis interviewt. "Ich war mit mir selbst zufrieden" erklärt er dort den Redakteuren sein Gefühl nach Vollstreckung des "Todesurteils". Als er nach neun Jahren und drei Monaten seine Haftstrafe verbüßt hat, wird er in die Türkei abgeschoben, wo er dann einen Köfte-Imbiss betreibt. Als Mörder von Hatun/Aynur lässt er ebenso wie die anderen Familienmitglieder jegliche Reue vermissen und bleibt tief in fanatisch-religiösen Irrwegen befangen: Anfang 2015 äußerte er, Ayhan (Nuri) Sürücü, auf seiner Facebook-Seite Hasskommentare gegen Frauen und Deutschland und verspottete die Attentatsopfer der Redaktion von Charlie Hebdo.

Reaktionen und Realitäten

Mit der heutigen Realität konfrontiert werden wir durch eine weitere Video-Dokumentation, unter anderem an Aynurs ehemaliger Schule, dem Kreuzberger Robert-Koch-Gymnasium. Gezeigt wird, wie dort um die "Migrantenkinder" gerungen wird, wie sehr die Lehrer*innen an deren Persönlichkeitsentwicklung und Fortkommen interessiert sind. Gezeigt wird aber auch, wie sie scheitern.

Eine sehr engagierte Lehrerin dieser Schule, Inge Sewig ("Sie lehnen unsere Werte ab"), berichtet im YouTube-Video, dass Aynur wie ihre ein Jahr jüngere Schwester Shirin dort selbstverständlich schon als Mädchen das Kopftuch trug. (Auf einem Schulfoto sind die beiden als die einzigen so erkennbar. Inzwischen ist der Anteil der nicht-muslimischen Schüler*innen dort auf einen einstelligen Prozentsatz gesunken und gehören Kopftücher von vorpubertären Mädchen zur Normalität.) Sie sei dort 35 Jahre lang Lehrerin und habe das deutliche Gefühl, dass in den Familien wie im Umfeld der Community in der dritten Generation "der Ehrenbegriff schärfer geworden ist – unbedingt".

Es würde also nicht besser, sondern im Gegenteil schlimmer. Vor 20 Jahren wäre dies, so die Kreuzberger Lehrerin, absolut undenkbar gewesen: Der Vorwurf "sie lebte wie eine Deutsche" sei inzwischen ein Synonym für "eine Hure" und von einigen als Todesurteil voll akzeptiert worden – wie ebenfalls dort in Interviews mit Schülern gezeigt wird. Zwar sind diese deutlich in der Minderheit, strahlen aber ein erschreckendes Gebaren an Dominanz, Bedrohung und Einschüchterung aus.

Risiko antiislamisch zu erscheinen und Bericht des BKA

Was uns alle angeht: Die Verurteilung des hierzulande üblichen Lebensstils und das alternative Identitätsideal, welches sich am weiblichen Kopftuch als äußerlichem Zeichen festmacht, nimmt Züge an, die unser Toleranzverständnis herausfordern. Dennoch gibt die Frankfurter Rundschau zu bedenken, dass die ARD mit der Ausstrahlung des Films "Nur eine Frau" das Risiko eingeht, antiislamisch zu erscheinen und sich damit auf heiklem Terrain bewegt: "All jene, die der Meinung sind, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, werden sich durch Aynurs Geschichte bestätigt fühlen. Tatsächlich wirken diese in uralten und entsprechend realitätsfern anmutenden Traditionen verhafteten Menschen, als seien sie nicht von dieser (westlichen) Welt."

Filmplakat
Filmplakat

Das sind sie aber, wie die im Film sehr nüchtern-sachlich eingeblendeten Punkte einer Liste des Bundeskriminalamtes (BKA) demonstrieren. Darin sind die diversen vermeintlichen Verfehlungen von Frauen aufgeführt, die einen – als vormodern geltenden – "Ehrenmord" nach sich ziehen können, der durch die Familie geplant und vom traditionellen Umfeld weitgehend als adäquat oder gar als notwendig gutgeheißen wird.

Hierin besteht der entscheidende Unterschied zum Bericht des Bundeskriminalamts "Partnerschaftsgewalt" für den Zeitraum 2018 zu mehr als 100 ermordeten Frauen, der kürzlich die deutsche Öffentlichkeit so erschüttert hat. Diese kriminalstatistische Auswertung dazu ist auf der BKA-Internetseite ausdrücklich überschreiben mit "Partnerschaftskriminalität", wozu Täter*innen differenziert werden nach: "Ehepartner", "eingetragene Lebenspartnerschaft", "Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften" und "ehemalige Partnerschaften".

Verschiedene Phänomene von Frauentötungen

Diese Femizide, also Frauentötungen durch den (Ex-)Partner (bei denen in der BKA-Statistik auch die in geringem Maße vorkommenden Männertötungen einbezogen sind) haben offensichtlich mit den traditionellen sogenannten Ehrenmorden insofern kaum zu tun, als bei letzten charakteristischerweise das Umfeld der Familie und Teile der "Community" die Tat billigen, fördern oder sogar verlangen!

Abgesehen davon muss natürlich unser aller Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, dass allgemein in Deutschland Millionen Frauen systematisch der Gewalt ihrer Männer (meist im alkoholisierten Zustand) ausgeliefert sind. Aber ist es nicht eine Instrumentalisierung von Aynur als Opfer, wenn die Einladung aus dem links-grün-feministischen Spektrum zum Gedenken an ihren fünfzehnten Todestag mit Hinweis auf die BKA-Statistik so formuliert ist:

"Der Mord an Hatun Aynur Sürücü, ein sogenannter Femizid, ein Mord an einer Frau, weil sie eine Frau ist, ist kein Einzelfall. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau umgebracht … Mit der stetigen Erinnerung an Hatun Aynur Sürücü soll die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Thematik einer systematischen Gewalt an Frauen wachgehalten und ein Bewusstsein für problematische Männlichkeitsbilder geschaffen werden. … Die Zahl der Frauentötungen und Gewalttaten gegen Frauen sind erschreckend und zeigen, dass es sich um ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem handelt."

Die Angst – auch von Politiker*innen – scheint auch hier zu überwiegen, in die rechte Ecke des "rassistischen Anti-Islamismus" gestellt zu werden. So wird die schwere Menschenrechts- und Lebensschutzverletzung in einer muslimischen Familie nicht als eine solche spezifische benannt, sondern lieber auf das allgemeine deutsche Problem männlicher Gewalt gegenüber (Ex-)Ehefrauen und (Ex-)Partnerinnen hingewiesen.

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