Interview mit Sarah Haider

Es ist okay, seinen Glauben aufzugeben

Sarah Haider ist einer der prominenten Gäste des von den
Schweizer Freidenkern organisierten Tags der Apostasie am 21. März in Zürich. Andreas Kyriacou, Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz hat mit ihr über ihren Glaubensabfall, die Bedeutung der von ihr mitbegründeten Ex-Muslims of North America und ihre Erwartungen an die Politik gesprochen.

Andreas Kyriacou: Erzähl uns zunächst etwas zu deinen Kindheitsjahren.

Sarah Haider: Ich bin in Pakistan geboren. Als ich sieben war, zogen meine Eltern in die USA. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind Englisch zu lernen begann, und dass ich wahrnahm, dass ich mich nun in einer anderen Kultur bewegte.

Meine Eltern waren vergleichsweise liberal eingestellte Muslime. Allerdings würden die Verhaltensregeln, die sie mir aufbürdeten, unter Christen sehr wohl als konservativ gelten. Ich musste keinen Hijab tragen, aber ich wurde angehalten, mich züchtig zu kleiden. Ich führte also nicht wirklich das Leben eines durchschnittlichen Kindes in meinem Alter.

Welche Rolle spielte Religion für dich als Jugendliche?

Zu Beginn meiner Jugendjahre – ich sehe sie als die Zeit, in der ich mich zu einer denkenden Person entwickelte – wurde mir bewusst, dass ich mich nicht meiner Religion entsprechend benahm.

Ich wollte eine bessere Muslima werden. Ich entschied mich mit dreizehn, den Hijab zu tragen. Zu dieser Zeit empfand ich das als meine freie Wahl. Ich bemerkte erst später, dass ich mich in einem Umfeld bewegt hatte, in dem dies nachhaltig befürwortet wurde, ich mich bei meiner Entscheidungsfindung also stark von anderen hatte leiten lassen.

Ich wurde zu meiner Zeit als Hijab-Trägerin gar missionarisch, ich wollte die Seele meiner nicht-muslimischen Freunde retten.

Doch dann kamen nach und nach Zweifel auf ...

Ja, da war ich fünfzehn oder sechzehn. Die Idee, dass Personen nicht in den Himmel kommen können, nur, weil ihnen der Islam nie offenbart worden war, obschon sie anderweitig gute Menschen waren, schien mir ungerecht. Viel später erfuhr ich im Austausch mit anderen Ex- Muslimen, dass dieser Punkt für viele am Anfang ihres Zweifels stand. Doch dieses Gefühl führte bei mir zunächst noch nicht wirklich zu einem Glaubensverlust. Man redet sich ein, dass etwas noch lange nicht unfair sein muss, nur weil es ungerecht scheint. Es könnte ja einfach daran liegen, dass man die Religion nicht genug versteht.

Bald sah ich mich aber an der High School mit den, wie ich sie nenne, Standardargumenten von Atheisten konfrontiert, wie der Existenz von Üblem auf der Welt, trotz eines gutmütigen Schöpfers. Anfänglich war ich schockiert, dass jemand ungläubig sein könnte, versuchte die Argumente zu entkräften und missionierte für meine Religion. Ich umschiffte theologische Inkonsistenzen und fand Gefallen an wissenschaftlichen Erklärungen, die meinen Glauben scheinbar stützten.

Doch dann ging es sehr schnell. Ich begann Philosophieforen zu besuchen, und mein Glaube wurde nachhaltig erschüttert. Rückblickend kann ich sagen, dass die mir aufgezwungene Auseinandersetzung mit Gegenargumenten viel in mir auslöste. In der Atheistenszene wird ja intensiv darüber debattiert, ob man Gläubige herausfordern oder sich eher mitfühlend zeigen soll. Ich sehe mich selbst nicht als militante Atheistin, aber ich weiß, dass ich damals den einen oder anderen verbalen Schlag ins Gesicht benötigt hatte, um bereit zu sein, meine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen.

Ich wurde Atheistin, bevor ich Ex-Muslimin wurde, das heißt, ich hörte erst auf, an Gott zu glauben, bevor ich mich der Religion als Ganzes entfremdete. Das war der weitaus schwierigere Schritt. Ich war mir sicher, dass ich stigmatisiert und Freunde verlieren würde, wenn ich in meinem muslimischen Umfeld offen über meinen Abfall vom Glauben sprechen würde.

Doch dann kam ein Wendepunkt, und du wurdest zur Mitgründerin der Ex- Muslims of North America. Wie das?

Ich kannte lange keine anderen Ex-Muslime. Dann begegnete ich Muhammad Syed. Ich glaubte ihm anfänglich nicht, dass er auch ungläubig war, ich war wirklich noch niemandem begegnet, der sich vom Islam abgewendet hatte. Wir beschlossen, das war im Jahr 2013, die Ex-Muslims of North America zu gründen, ursprünglich als Unterstützungsgruppe für Personen in einer ähnlichen Situation. Die Resonanz war überraschend groß. Es kamen Leute zu unseren Treffen, die acht Stunden Fahrzeit auf sich nahmen, um sich mit uns und anderen austauschen zu können. Wir bemerkten schnell, dass wir das Entstehen regionaler Ableger fördern mussten.

Wir machen längst auch viel Öffentlichkeitsarbeit, um auf die spezifischen Probleme, mit denen sich Ex-Muslime konfrontiert sehen, aufmerksam zu machen. Und wir stehen auf und sagen: Es ist völlig in Ordnung, seinen Glauben aufzugeben, auch den Islam. Ich würde selbst das Etikett "Ex-Muslimin" nicht aktiv verwenden, wenn die Verfolgung der Islamaussteiger und -aussteigerinnen nicht so drastisch wäre.

2019 lancierten wir eine Plakatkampagne, um anderen Ex-Muslimen Mut zu machen. Als Sujet hatten wir unter anderem den Spruch "There is no God but Allah" geplant – mit "but Allah" durchgestrichen. Eine Plakatgesellschaft testete den Slogan an Muslimen – und wies ihn dann zurück. So erging es uns mit mehreren Textvarianten und Dutzenden von Plakatgesellschaften. Doch wir ließen uns nicht entmutigen. Die Kampagne ging dann live mit dem Slogan "Godless. Fearless. Ex-Muslim". Nicht meine Lieblingsvariante, aber immer noch eine starke Aussage.

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Wie reagiert die Politik auf euer Engagement für Apostatinnen?

Historisch betrachtet war Gottlosigkeit in den USA immer eine Sache der Linken, das ist auch heute noch so. Aber die Anliegen der Ex-Muslime nehmen einen sehr seltsamen Platz ein. Unsere Anliegen erhalten nur von zwei Gruppen wirklich Beachtung: von Atheisten und von Fremdenfeinden. 95 Prozent unserer ex-muslimischen Unterstützer positionieren sich selbst mitte-links. Doch ausgerechnet von diesem Teil des Politspektrums erhalten wir leider kaum Zuspruch.

Ein Teil der Zurückhaltung mag darin begründet sein, dass die USA immer noch ein sehr religiöses Land sind. Die Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften geht allerdings zurück, und langsam wird Religionslosigkeit auch in der Politik salonfähig. Und das Wissen um die schwierige Situation für Ex-Muslime nimmt stetig zu. Auf der anderen Seite nimmt Identitätspolitik einen immer größeren Stellenwert ein.

Religiosität wird von Vertretern der Identitätspolitik oftmals als etwas Unveränderliches angesehen. Dabei beweisen wir Ex-Muslime alleine durch unsere Existenz, dass die eigene Weltanschauung etwas Dynamisches ist und man einem ganzen Strauß von Ideen nachgehen kann. Es wird übrigens spannend sein zu sehen, welchen Einfluss die Genderdebatte auf die Identitätspolitik haben wird, die in vielerlei Hinsicht von der Unveränderbarkeit von Merkmalen ausgeht, beim sozialen Geschlecht aber Fluidität betont.

Eine weitere Herausforderung ist die Tendenz im Westen, den Westen als von Vernunft geprägt zu sehen, den Osten hingegen als Ort der kulturellen Tradition und des Aberglaubens. Das machen Personen auf beiden Seiten des Politikspektrums, die Linke ist sich dessen aber kaum bewusst. Vertreter der Demokraten kommen kaum auf die Idee, die rigiden Kleidervorschriften der Mormonen zu verteidigen. Frauenfeindliche Bräuche waren in der viktorianischen Kultur allgegenwärtig, aber niemand fordert, dass wir ihnen weiterhin folgen sollten. Beim Hijab hingegen argumentieren viele auf der linken Seite, dass die Verschleierung ein legitimes Element der muslimischen Kultur darstelle, sie sei Teil der Tradition und sollte deshalb auch heutzutage als wichtig angeschaut werden.

Viele Akteure auf der linken Seite nehmen an, die Ungerechtigkeiten in muslimischen Ländern seien primär oder gar ausschließlich eine Folge westlicher Interventionen, die quasi als Erbsünde betrachtet wird. Dieses verkürzte Erklärungsmuster geht nur auf, wenn diese Länder als von Tradition geprägt verstanden werden und nicht von Vernunft und von individuellem Handlungswillen. Dies ist letztlich genauso rassistisch untermalt, wie wenn auf der politisch rechten Seite Muslime als unzivilisierte Barbaren porträtiert werden, die nicht imstande seien, funktionierende Gesellschaften zu bilden.

Der offene Rassismus von rechts führt auf der linken Seite oftmals zu einer weiteren Unterstellung: dass Ex-Muslime ihre Religion nur deshalb aufgäben, weil sie wegen der rechten Hetze einen solch schlechten Ruf habe. Das ist ungeheuerlich anmaßend – Ex-Muslime werden so schlicht nicht als autonom handelnde Personen wahrgenommen.

Die politische Arbeit ist also ausgesprochen herausfordernd. Ex-Muslime passen oftmals weder zur Linken noch zur Rechten, und unser Zweiparteiensystem erschwert es zusätzlich, Gehör zu finden.

Welche Veränderungen wünschst du dir in der politischen Debatte?

Wir müssen zurückfinden zum Anspruch der universellen Gültigkeit der Menschenrechte, für die die Linke so lange einstand. Der Kulturrelativismus hätte Verständnis und Nuancen in die politische Debatte bringen sollen, aber er hat auch zu einer Abkehr vom Prinzip der universellen Werte geführt, gerade bei Leuten, die für sich in Anspruch nehmen, sich für Minderheiten einzusetzen. Dies müssen wir überwinden.

Vielen Dank für das Gespräch – und bis zum 21. März am Tag der Apostasie!

Das Interview erschien zuerst in der Frühlingsausgabe des Magazins "frei denken" sowie auf der Webseite der Schweizer Freidenker-Vereinigung. Übernahme mit freundlicher Genehmigung.

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Am von den Freidenkern organisierten Tag der Apostasie (9.45 bis 22 Uhr Auditorium Kunsthaus Zürich) treten internationale und schweizerische Gäste auf, die von ihrem Ausstieg aus Religionsgemeinschaften und Sekten erzählen. Nebst Sarah Haider sind unter anderem auch die FEMEN-Mitgründerin Inna Shevchenko und die Gründerin des Zentralrats der Ex-Muslime, Mina Ahadi, zu sehen und zu hören. Auf dem Programm stehen auch Soziologieprofessor und Apostasieforscher Jesse M. Smith, der Sektenausstiegsberater Dieter Rohmann, ein Politpodium zum Thema Glaubensabfall und zwei Filme. Am Tag der Apostasie wird simultan zwischen Deutsch und Englisch übersetzt.