Kolumne: Sitte & Anstand

Darf Berlin für den Kirchenaustritt werben?

Es gibt Riesenärger auf dem Berliner Boulevard: Als "Finanztipp" informierte die Bundeshauptstadt auf ihrem Onlineportal über den Kirchenaustritt. "Geschmacklos" nennt das die "B.Z." Hat sie recht?

Religion ist, wie wenn man einen Flughafen baut, auf dem niemals ein Flugzeug landen wird: großer Aufwand, große Erwartungen, Ertrag null, im Ganzen ein teures Vergnügen. Daher ist es wenig überraschend, dass ausgerechnet die Bundeshauptstadt kürzlich auf ihrem Onlineportal berlin.de über den Kirchenaustritt informierte. Als "Finanztipp". In Zeiten, da vielen Menschen die Kohle ausgeht, vielleicht gar nicht so dumm, zumal die Kirchenaustritte eh boomen wie nie zuvor: Irgendwo müssen die Leute ja einsparen, um ihre Yogakurse und Achtsamkeitsseminare bezahlen zu können.

Gunnar Schupelius, rechtslastiger Kolumnist des Boulevardblatts B.Z., gab sich kurz darauf zutiefst empört: Sicherlich sucht er oft auf der Internetseite berlin.de nach Finanztipps, oder wenn das nicht, dann sucht er doch erfolgreich nach Dingen, die sich skandalisieren lassen, nicht umsonst heißt seine Kolumne "Mein Ärger". Schwungvoll arbeitet er sich also in die obligatorische Empörung hinein, und im Teaser zum Text nennt die Redaktion den Finanztipp "geschmacklos". Was natürlich wiederum diese Kolumne hier auf den Plan ruft, um nach Sitte und Anstand zu fragen: Geschmack, was ist denn das in diesem Zusammenhang?

Finanzfragen privater Haushalte werden hier mit Moral aufgeladen. Unterstellt wird eine gewisse Verwerflichkeit, wenn Bürgerinnen und Bürger nun etwa anfangen sollten, nach guter neoliberaler Sitte Aufwand und Ertrag der Kirchensteuer gegenzurechnen. Dem verständigen Geist wird dabei rasch klar, dass das Geld sich womöglich besser investieren lässt als in den antiken Cargokult der christlichen Seelenrettung. Besonders in Berlin, Hauptstadt des Atheismus, wird es schnell kurios, wenn man sich mit dieser Auffassung von "Geschmack" gegen die große Mehrheit der Bevölkerung stellt. Und vielleicht tun die alle ja sogar Gottes Werk? Als der Fußballstar Luca Toni feststellte, dass er in seiner Zeit bei Bayern München 1,7 Millionen Euro Kirchensteuer gezahlt hat, sprach er: "Ich bin der Meinung, wenn jemand an Gott glaubt, dann muss er nicht die Kirche bezahlen. Hätte ich das mit der Kirchensteuer gewusst, wäre ich sofort ausgetreten."

Es ist so eine Sache mit dem Geschmack. Wer bestimmt denn darüber, ob eine Sache geschmacklos sei? Die große Masse der Deutschen wohl offenbar nicht: Im Jahr 2015 erst ergab eine Untersuchung, dass gerade einmal 16 Prozent der Deutschen das Modell der Kirchensteuer befürworten. Man darf die Prognose wagen: Eine Yogakurssteuer hätte mehr Fans.

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