Der Fall Nacer Amari

Atheistische Spendenaufrufe an den Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit

Mitte August sprach der hpd mit dem bekannten tunesischen Aktivisten Nacer Amari. Zahlreiche namhafte atheistische Nichtregierungsorganisationen unterstützten ihn bei seinem Asylantrag in Dänemark mit offenen Briefen und Spendenaufrufen. Eine Hintergrundrecherche warf jedoch ernste Zweifel an der Authentizität von Amaris Geschichte und seiner Integrität auf. Eine Indizienchronologie.

Nacer Amari ist in Tunesien geboren, lebte einige Jahre in Rumänien und flog 2019 nach Dänemark, um dort Asyl zu beantragen. Man kennt Amari als apostatischen Aktivisten, der die Stimme für Menschenrechte und gegen Diskriminierung erhebt. Er ist zweifacher Träger der internationalen Auszeichnung "Atheist of the Year" und sprach 2018 im Rahmen des "Freedom of Thought"-Reports vor dem Europäischen Parlament.

Nun stellt sich heraus, dass all das vielleicht nur eine Täuschung war. Ein Artikel von Humanist Global Charity brachte die Lawine ins Rollen. Binnen Tagen zogen Atheist Alliance International, Atheist Republic, die International Association of Atheists und weitere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ihre Unterstützung zurück, Spendenaufrufe wurden eingestellt und bereits eingesammelte Spenden zurückgezahlt.

Neben dem Ablehnungsbescheid des dänischen Immigrationsbüros und der sehr kritischen Einschätzung einer lieber anonym bleibenden NGO enthält der oben verlinkte Artikel von Hank Pellisier bei Humanist Global Charity zahlreiche Screenshots und Aussagen von Frauen, die kein günstiges Licht auf Amari werfen, während er sich in diesem mittlerweile gelöschten Interview der Reihe "Humanist Voices" bei Medium ab Seite 75 als überzeugter Feminist und Frauenrechtsaktivist darstellt.

Statement einer NRO über Nacer Amari

Statement einer NGO, die frühzeitig Zweifel an Amaris Geschichte hatte. (Screenshot E-Mail)


Übersetzung:

"Ich habe zu Fakten Nachforschungen angestellt, die er [Amari, Anm. d. Red.] mir gegenüber angegeben hatte, die keinen Sinn ergaben und in manchen Fällen hat er sich in Artikeln und Interviews widersprochen, an denen ich ihn hatte mitwirken sehen. Seine Spendenaufrufe waren seine höchste Priorität und die kamen mir rätselhaft vor, da er von der dänischen Flüchtlingsbehörde Unterkunft, Lebenshaltungskosten und einen Rechtsbeistand gestellt bekam. Er erwähnte, dass er bisexuell sei und ich verwies in an zwei LGBT-Organisationen in Dänemark, die sich speziell um Flüchtlinge kümmern; er erzählte mir, sie hätten sich geweigert ihm zu helfen. Er erwähnte mir gegenüber ebenfalls, dass er von 2012 bis 2019 in Rumänien war und eine Frau und einen Sohn habe, aber dass die rumänischen Behörden seine Frau gegen ihn aufgestachelt hätten, dass sie geschieden seien und dass der Sohn mit ihm in Dänemark sei. Dann schien er praktischerweise keinen von beiden mehr zu erwähnen. Er war kürzlich im Podcast von Armin Navabi von Atheist Republic zu Gast, den ich mir mit Interesse angesehen habe, als er seine Bisexuellen-Agenda vorbrachte und die Tatsache nicht einmal erwähnte, dass er eine Frau und einen Sohn hat. Komisch.

Er hat auch immer wieder Drohungen durch seine Eltern und seine Familie und sogar durch ISIS im selben Satz erwähnt. In Wirklichkeit sind seine Eltern Berber, überhaupt nicht religiös und würden daher keine Gefahr für ihn darstellen. Bei einer Gelegenheit erwähnte er, dass er mit dem Islam überhaupt nichts zu tun hatte bis er auf die Universität ging und dieser zur Pflicht wurde. Ich habe Twitter-Kontakte nach ihm gefragt, die auch Ex-Muslime sind, die ihn in Rumänien kannten… Sie nannten ihn einen manipulativen Lügner. Sie bestätigten, dass er nicht schwul sei und dass er nie versucht habe, in Rumänien Asyl zu beantragen (das wäre das erste europäische Land gewesen, das er betreten hat und deswegen hätte er dort seinen Asylantrag stellen müssen). Sie bestätigten außerdem, dass er während seines Aufenthalts in Rumänien wiederholt Reisen hin und zurück nach Tunesien unternommen habe, um seine Eltern zu besuchen. Nicht das, was man von jemandem erwarten würde, der um seine Leben fürchtet. Mein Kontakt erwähnte auch, er [Amari, Anm. d. Red.]  habe damit geprahlt, nach Dänemark zu reisen, da er dort garantiert leicht einen Flüchtlingsstatus erhalten würde."

Der hpd sprach mit Hanne Sommer, die Nacer Amari die Reise nach Dänemark ermöglicht hatte. Sie stellte das auf seinen Namen ausgestellte Flugticket, zahlreiche weitere Überweisungsbelege in Höhe mehrerer Tausend Euro sowie Amaris ersten Asylbewerberausweis aus Dänemark zur Verfügung.

Sie sei vielleicht wirklich zu naiv an die Sache herangegangen, so Sommer, denn als klar war, dass Amari kein Interesse an einer Beziehung mit ihr hat, begann sie, ihre Unterstützung zurückzuziehen. Die Korrespondenz der beiden zeigt eine aggressive Reaktion Amaris.

Screenshot von Nachrichten Nacer Amaris
Screenshot von Nachrichten Nacer Amaris an Hanne Sommer (Übersetzung in etwa: "Ich werde nie gehen, du wirst zahlen und du wirst paranoid werden, denn du hast mich verletzt. Andere Sachen werde ich auch noch unternehmen"). Die Nummer wurde aus Datenschutzgründen geschwärzt, stimmt aber mit der überein, über die er mit unserem Autor telefonierte.

Daraufhin, Ende 2019, strengte Sommer erstmals eine Beschwerde beim dänischen Immigrationsbüro an. Im August 2020 schrieb sie der Behörde erneut, ebenso dem Appeals Board, der zweiten Instanz, und erstattete Anzeige wegen Betrugs und Nötigung bei der dänischen Polizei. Mindestens eine weitere Geschädigte erstattete außerdem Anzeige wegen Beleidigung.

Screenshot einer Nachricht von Nacer Amari
Screenshot, in der Nacer Amari Hanne Sommer "Schlampe" nennt.

Konfrontiert mit den Vorwürfen sagte Nacer Amari dem hpd, es handele sich um eine Fehde gegen ihn, weil er sich geweigert habe, eine feste Beziehung mit Hanne Sommer einzugehen. Er führte außerdem aus, sie sei übergriffig und besitzergreifend geworden, habe versucht, in seine Privatsphäre und Social-Media-Accounts einzudringen. Die Screenshots, die er dafür vorzubringen suchte, hielten einer genaueren Überprüfung jedoch nicht stand.

Zu den Vorwürfen der anderen Frauen äußerte Amari sich nicht. Er bemerkte, dass er es unfair von den NGOs fände, ihm keine Chance zu geben und die Vorwürfe nicht erst zu prüfen, bevor sie ihre Unterstützung aufkündigten.

Diese Vorwürfe sind umso alarmierender, da sie sich gegen eine Person richten, die einen gewissen Ruf und damit auch namhafte Unterstützung genießt. Es ist nun sekundär, ob Amaris Verhalten nach dänischem Recht tatsächlich eine Straftat darstellt. Das Image des Aktivisten, der sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten einsetzt, ist so oder so bereits zerbröselt. Die Geschichte Hanne Sommers lässt zudem mutmaßen, ob Amaris Story nicht vielleicht von Beginn an unwahr ausgeschmückt, wenn nicht gar komplett fabriziert war.

Der Teufel steckt im Detail

Das dänische Immigrationsbüro betrachtet Nacer Amaris Ausführungen als "in Schlüsselfragen aus- und abschweifend", wie aus dem Ablehnungsbescheid hervorgeht. Eine intensive Prüfung der Aussagen, die Amari in verschiedenen früheren Interviews sowie dem hpd gegenüber tätigte, stützen diese Einschätzung.

Ein mittlerweile gelöschtes Interview von Canadian Atheist mit Shirley Rivera, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Anfang August eine aktive Unterstützerin Amaris, enthält gleich mehrere Stolpersteine. Zum einen, so Rivera, habe er bereits in Rumänien Asyl beantragt, was aber "nicht funktioniert habe". Nach dem ursprünglichen Interview ging auch der hpd davon aus.

Dann jedoch zeigte sich, dass Nacer Amari mit einer rumänischen Frau verheiratet war, mit der er auch ein Kind hat. Von der Vaterschaft scheinen die Behörden in Rumänien jedoch nichts zu wissen, wie aus Amaris Scheidungspapieren hervorgeht. Auf spätere Nachfrage bestätigte er dies.

Das muss verwundern, denn im zweiten Gespräch mit dem hpd äußerte Amari auf die Frage, ob er in Dänemark Kontakt zu seinem Kind halten könne, großes Bedauern. Zwar sehe er sein Kind öfters per Videochat, so Nacer Amari, aber er könne keine Papiere unterschreiben und keinen Pass für das Kind beantragen, was in Rumänien große Probleme bereite. Irritierend ist auch, dass Amari laut der zitierten anonymen NGO ihr gegenüber angegeben hat, sein Kind lebe mit ihm in Dänemark.

Es ist verständlich, dass ein Aktivist seinen Nachwuchs vor den Augen der Öffentlichkeit schützen will – doch wenn keine offizielle Vaterschaft vorliegt, warum sollte dann die Notwendigkeit von Behördengängen für das Kind bestehen?

Zum anderen führt Shirley Rivera aus, Amaris Anwältin würde ihn aktiv daran hindern, sich als Ex-Muslim zu bekennen. Dies steht im Gegensatz zu seinen eigenen Aussagen, nach denen seine Anwältin besondere Mühen auf sich nehme, weil sie "an seinen Fall glaubt". Auf Nachfrage bestätigte sie, dass sie nach dem Rückzug der verschiedenen Spendenaufrufe im Moment pro bono arbeite. Ob Rivera sich dieser Ungereimtheiten zum Zeitpunkt des Interviews bewusst war, ist nicht klar.

Rätselhafe Reiseroute

Ebenfalls rätselhaft ist ist Nacer Amaris Reiseroute. Laut einem Artikel von Uncommon Ground (früher Conatus News) aus dem Jahr 2018 lebte er bereits seit 2011 in Rumänien. In einem Interview mit Atheistene aus dem Jahr 2019 sagte Amari, er habe Tunesien 2011 verlassen und lebe seit 2012 in Rumänien.

Laut dänischem Immigrationsbüro reiste Amari jedoch erst 2012 erstmals nach Rumänien. Dieses Jahr nennt auch Humanists International sowie die dänische Zeitung Ekstra Bladet.

Im Interview mit Uncommon Gound erwähnt Amari auch, dass er mehrmals von Rumänien nach Tunesien reiste. Das dänische Immigrationsbüro bestätigt eine mehrwöchige Reise im Jahr 2016, merkt aber an, dass diese problemlos verlaufen sein soll. Dies deckt sich mit dem eingangs erwähnten NGO-Report, nach dem rumänische Bekannte von Amari mehrere komplikationsfreie Reisen nach Tunesien bestätigen.

Nacer Amaris Anwältin versucht inzwischen, seinen Fall neu zu öffnen. Sollte dies misslingen, würde Amari von den dänischen Behörden nach Tunesien abgeschoben. Dort, so Amari, drohe ihm Gefahr durch radikalislamische Familienmitglieder, die ihn seit Jahren bedrohen würden. Mehr als das Foto eines Mannes mit der Fahne einer Terrororganisation in der Hand – angeblich sein Cousin – konnte er jedoch nicht zur Untermauerung dieses Arguments vorbringen. Sollte er in den letzten zwölf Jahren Todesdrohungen erhalten haben, wie er sagt, so hat er keine einzige davon gespeichert. Und offensichtlich hielt ihn die Aussicht, dass er potentiell sein Leben gefährdet, auch nicht von Reisen nach Tunesien ab, während derer er, wie bereits beschrieben, unbehelligt blieb.

Abschließend nicht geklärt werden konnte die Frage, ob Nacer Amaris Bisexualität tatsächlich, wie vom dänischen Immigrationsbüro konstatiert und von einigen Bekannten Amaris bestätigt, "den Umständen entsprechend konstruiert" ist. Trotz intensiver Recherchen, wie der Ausgrabung eines jahrealten Datingprofils, ist es nicht gelungen, auch nur eine externe Quelle zu finden, die Amari als bisexuell bezeichnet. Gegenüber der Presse erwähnte er dieses Faktum erstmals Mitte 2019 – also kurz nach seinem Asylantrag in Dänemark und dem Bruch mit Hanne Sommer. Es ist seltsam, dass von mehreren Frauen ein schierer Sturzbach an Vorwürfen auf  Amari herabregnet, sich aber in sechs Wochen kein einziger Mann gemeldet hat, weder als Advokat Amaris noch um ebenfalls Anschuldigungen zu erheben.

Das große Ganze

Der einzige Teil von Nacer Amaris Geschichte, der während der gesamten Untersuchung stand wie ein Fels, war der seiner Apostasie. Zweifelsohne ist er Atheist – oder Ex-Muslim, wie er sich selbst nennt. Für die restlichen Teile seiner Identität gibt es einige gute Indizien, aber noch mehr – und noch bessere – dagegen. Die größte Frage allerdings, die dieser Fall aufwirft, lautet: Wie konnten sich international erprobte säkulare NGOs dermaßen leimen lassen?

Die Antwort auf diese Frage lautet "Reputation", wie ein Tweet von Michael Sherlock, CEO von Atheists Alliance International (AAI), verrät. Aufgrund seines "großen Bekanntheitsgrads in der atheistischen Community" und des Fürspruchs anderer NGOs sei Amari keinem Backgroundcheck unterzogen worden. AAI war eine der tatkräftigsten Unterstützerinnen Amaris, die Organisation sammelte aktiv Spenden zur Deckung seiner Anwaltskosten und ließ ihn als Gastautoren drei Texte auf der eigenen Website veröffentlichen.

Tweet von Michael Sherlock
Statement von Atheist Alliance International, wie Amari durchs Raster fallen konnte (Screenshot: Twitter)

Humanists International ist die letzte Organisation, die Nacer Amari zum jetzigen Zeitpunkt noch unterstützt. CEO Gary McLelland erklärt:

"Diese Anschuldigungen sind eine sehr ernste Sache. Wir verurteilen solches Verhalten scharf und hoffen, dass dieser Fall offiziell untersucht wird. Er tangiert jedoch nicht Amaris Recht auf Asyl. Wir haben die Bestätigung, dass er nach Tunesien abgeschoben werden soll, wo ihm, unserer Einschätzung nach, durchaus Verfolgung und Gewalt drohen könnten."

Auf die Frage danach, wie dieses Fiasko die Arbeit von atheistischen NGOs im Allgemeinen beeinflussen wird, antwortet McLelland:

"Ich sehe ja, dass eine Menge Organisationen Amari fallen gelassen haben wie eine heiße Kartoffel. Das zeigt mir zwei Dinge: Erstens haben sie ihn niemals ordentlich gecheckt, zweitens haben sie die Anschuldigungen und deren Einfluss auf sein Recht auf Asyl nicht adäquat abgewogen."

Der Vertrauensverlust, mit dem diese aktivistischen NGOs nun zu ringen haben, dürfte jedenfalls immens sein. Schließlich beschränkt sich ihre Arbeit nicht darauf, Unterschriften zur Einreichung von Petitionen an verstaubte Regierungsbüros einzusammeln. Die Worte dieser Organisationen haben in der internationalen säkularen Community viel Gewicht, andernfalls wären Spendenaufrufe gar nicht möglich. Dieses Gewicht, oder anders ausgedrückt, das Vertrauen der Zivilgesellschaft in diese Organisationen, ist deren primäre Währung. Weder Privatpersonen noch offizielle Stellen werden NGOs anhören oder gar finanziell unterstützen, die ihre Protegés keiner zuverlässigen Verifikation unterziehen.

Bislag hat sich lediglich Atheist Republic öffentlich selbstkritisch mit dem Fall auseinandergesetzt.

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