Wir erleben derzeit live eine Erosion des scheinbar sicher Erreichten, des Zivilisatorischen, des Humanen, als Folge der Verachtung von Vernunft und einer Heiligung des Postfaktischen. In den USA, der zweitältesten Demokratie der Welt und im Selbstverständnis seit jeher das "Land of the Free", spielen sich, befeuert vom noch immer in seinem Büro sitzenden Staatsoberhaupt, dystopische Szenen ab. Der Höhepunkt einer jahrelangen Kampagne, die Vernunftgründe der Verachtung preisgab, Egoismus als legitim rechtfertigte und letztlich einen grobschlächtigen Sozialdarwinismus des 21. Jahrhunderts zu etablieren suchte.
Diese Szenen werden vermutlich einmal in den Geschichtsbüchern als symbolisch für ein postfaktisches Zeitalter stehen, von dem wir derzeit nicht wissen, welchen Weg es noch nehmen und wie lange es dauern wird.
Den USA ist zu wünschen, dass sie die innere Kraft finden, sich dieser Tendenzen zu entledigen. Es wird schwer, sehr schwer werden und vielleicht auch eine öffentliche Auseinandersetzung, vielleicht eine juristische, sicher eine ethisch-moralische, mit dem Protagonisten dieser vier unsäglichen Jahre erfordern. Tief zur Sorge Anlass gibt, dass nach den ersten Umfragen eine hohe zweistellige Prozentzahl der US-Bürger (man spricht von rund 40 Prozent) dem "Sturm auf das Kapitol" durchaus nicht bedingungslos ablehnend gegenübersteht. Aber andererseits schrieb mir ein Freund aus den USA: "Wir fühlen uns alle wie mit Mist beworfen – und schämen uns."
Die Relativierung des Wahrheitsbegriffs, die Verachtung von Vernunftgründen, menschliche Ratio und Humanitas als Objekte von Spott und Hohn: das sind nun leider keine nur auf die USA bezogenen Tendenzen. Postfaktisch ist überall.
Hierzulande haben wir in der Corona-Krise erlebt, wie Gruppen, die ursprünglich nicht mehr einte als die Neigung zum Postfaktischen, zu einer qualitativ neuen Gesamtheit emergiert sind. Von der politischen Rechten bis zu den Impfgegnern, von den New-Age-Esoterikern und Anthroposophen bis zu den Pseudomedizin-Proponenten speist sich inzwischen eine Gemeinde der Anbetung des Postfaktisch-Irrationalen, die mit missionarischem Eifer gar auf Menschenfang geht. Es fehlt glücklicherweise an Gelegenheit, um – wie Trump in den USA – diese verheerende Geisteshaltung zum direkten Angriff auf die Demokratie zu nutzen. Es fehlt an der Illusion von Integrität – und das ist gut so. Aber auf die Selbstdemontage der Szene sollte man sich nicht verlassen.
Der Kampf gegen das Postfaktische und seine Ausbreitung auf viele Lebensbereiche muss an vielen Fronten geführt werden. Wenn jemand – wie es öfter vorkommt – wissen möchte, warum ich mich gerade gegen Pseudomedizin einsetze, dann findet er darin eine Antwort. Natürlich hat das auch persönlich-biografische Wurzeln, aber der größere Kontext ist eben der, dass dieses spezielle Gebiet außerordentlich von postfaktischem Denken profitiert und geeignet ist, verheerenden Schaden anzurichten. Auf diesem Gebiet finde ich meine "Nische" im Engagement gegen die Wucherung der postfaktischen Ära. Und ich denke, sie ist keine vernachlässigbare.
Natalie Grams sagte anlässlich der Verleihung des "Goldenen Bloggers" für den besten Twitter-Account des Jahres 2019: "Ich glaube letztlich, dass die Homöopathie auch politisch ist. Weil wir an ihr eigentlich sehen können, was passiert, wenn erst einmal ganz viele Menschen an eine Unwahrheit glauben: dann steht die irgendwann im Gesetz. Und wir deshalb alle sehr aufpassen müssen, was mit Fake News passiert, weil sie eine ganz große gesellschaftliche und politische Tragweite bekommen können." Und in der Tat – die Homöopathie ist ein Fanal insofern, als dass mit ihr tatsächlich Irrationalität hier bei uns längst gesetzlich privilegiert wird.
Wir haben keine Wahl als Humanisten, wir müssen auch und vor allem Anwälte der Ratio sein. Und wir dürfen uns dabei nicht mit Begriffen wie "reduktionischer Materialist" oder "Wissenschaftsdogmatiker" etikettieren lassen, wie es die Anwälte des Postfaktisch-Irrationalen gern und oft tun, um uns eine Ebene des Menschlichen abzusprechen. Aber das ist nichts anderes als Verleumdung in pseudophilosophischer Mimikry. Wir sind nicht Materialisten, sondern Naturalisten, was die Ehrfurcht vor dem gesamten Spektrum nicht nur menschlichen Daseins in der realen Welt einschließt, jedoch die Irrationalität und rein subjektive "Wahrheiten" als Nährboden für das Gegenteil dieser Ehrfurcht erkennt und ihnen widerstreitet.
Und vergessen wir nicht, dass es die Wissenschaft war, die sich trotz massiver Angriffe von Trump und seiner Kamarilla nicht hat korrumpieren lassen. Insgesamt war sie ein Leuchtfeuer im Dunkel der letzten Jahre. Denn die allermeisten Wissenschaftler wissen sehr gut, was die elementare Grundvoraussetzung für ihre Tätigkeit ist: Freiheit, Ehrlichkeit und Redlichkeit.
14 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Die Religiösen führen ihren verzweifelten Kampf gegen die Rationalität an vielen Fronten, u.a. in der Medizin. Aber auch die Wissenschaft hat ihre irrationalen Momente.
Trump sehe ich in seiner skurrilen Art als einen Aufklärer wider Willen. Er macht Phänomene wie "Fake News", "Alternative Wahrheiten" und "Filterblasen" sichtbar, die man vorher nur erahnte. Anstatt blindwütig medial auf ihn einzuschlagen fände ich es besser, Trump, sein Reden, sein Handeln in aufklärerischer Weise "auszuschlachten" (bitte Anführungszeichen beachten, nicht wörtlich nehmen).
Tyto Alba am Permanenter Link
Ja. Denn mit Zensur hilft man finsteren Gestalten, sich als Lichtbringer und Retter aufzuführen und dabei das Mittelalter mit als seinem Gestank zu installieren.
A.S. am Permanenter Link
Solche Leute bloßstellen ist besser als ihre Äußerungen zu zensieren.
awmrkl am Permanenter Link
"mit Zensur hilft man finsteren Gestalten ..."
Wo siehst Du denn Zensur? Zensur ist immer "staatliche Zensur"!
Und keine private. Die kann es von "kaum" bis "gar nicht" geben.
Gut, solche Riesen-Hyper-Unternehmen wie Fratzenbuch, Zwitscher u.ä. Schwachsinn - ja, aber das sind wenige Ausnahmen. Sonst praktisch gar nirgendwo.
Und bitte, nur damit es klar ist: In privaten Blogs zB unerwünschte Beiträge, meist nach deutlichen Warnungen und Ankündigungen, ab einem definierten Zeitpunkt zu löschen ist keine Zensur. Siehe zB Scienceblogs, ist dort mehrfach passiert. Ist aber 0,0 Zensur.
Vergleich das mal hiermit (sehr ähnliche Situation): Jemand kommt von der Straße in deine Wohnung, ohne Mitsprache Deinerseits, reißt die Waffel kilometerweit auf, kackt in Dein Wohnzimmer und regt sich dann darüber auf, dass Du Dich darüber aufregst, weil es ja wohl sein (womit?) wohlverdientes Recht sei ...
Du würdest den ja wohl schleunigst rausschmeißen!?
Wieso wäre es dann Zensur, wenn man jemanden rausschmeißt, der das private Blog vollkackt?
Christian Meißner am Permanenter Link
Aus meiner Sicht hat das postfaktische Zeitalter spätestens mit "9/11" begonnen, als die USA begannen, sich nahezu ausschließlich auf den - zweifellos vorhandenen! - äußeren Feind zu fokussieren.
Dieser sorgt stets dafür, dass man sich nicht mit sich selbst und seiner unmittelbaren Umgebung beschäftigt. Das ist aber in einer sich rasant verändernden Welt absolut notwendig.
Die Tatsache, dass die USA mit ihren 3500 Corona-Todesfällen pro Tag ihr "9/11" nun täglich erleben, scheint diesen selbsternannten "Patrioten" egal zu sein. Zumindest habe ich keine Maskenträger unter ihnen gesehen.
Ein derartiges Ereignis wie "9/11" hätte einen breiteren nationalen Dialog erfordert. Wie heilend dieser sein kann, zeigen die Beispiele Norwegens (Breivik) und Neuseelands (Christchurch): Es wurde gemeinsam getrauert. Es wurde viel miteinander gesprochen, Lügen wurden enttarnt und es wurden sich am Ende gemeinsame Ziele gesetzt. Nur so kann man "Postfaktizität" überwinden.
Den Wünschen des Autors für die Vereinigten Staaten von Amerika schließe ich mich im Übrigen an.
Christian Meißner am Permanenter Link
Nachtrag: Trotz der groben identitätsschützenden Wahrnehmungsverzerrungen bei den "Trumpisten" glaube ich, dass die USA ihren Dialog meistern und viele der jetzigen Trump-Anhänger in einen Modus zurückkehren
Und solange Willkür und Irrationalität in vielen Teilen dieser Erde herrschen, werden wir auf einen starken und eben auch vernünftigen Mann im Oval Office angewiesen sein - ob es uns nun passt oder nicht.
Christian Meißner am Permanenter Link
PS: Oder eine starke und vernünftige Frau natürlich.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ich teile deine Sorge, lieber Udo.
40 %, die den "... Szenen... nicht bedingungslos ablehnend gegenübersteh"-en, sind Symptom einer veritablen Systemkrise - drüben wie hüben.
Roland Fakler am Permanenter Link
Die große Masse hat scheinbar einen unersättlichen Hunger nach Irrationalität und wenn sie „Führer“ haben, die sie darin bestärken, kann das leicht zur Katastrophe führen.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Was Fr.
Rene Goeckel am Permanenter Link
Hier finde ich mein diffuses Unwohlsein wiedergegeben in genau den Worten, die mir nicht eingefallen sind. Und ja, die Situation macht mir Angst.
Anderer Max am Permanenter Link
"(...) eine hohe zweistellige Prozentzahl der US-Bürger (man spricht von rund 40 Prozent)"
Leider falsch abgeschrieben: 40% der Republikaner-Wähler, nicht der US-Bevölkerung.
Klaus am Permanenter Link
Gut, dass es auf hdp immer wieder solche Kommentare gibt.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass auch auf dieser Plattform von manchen Teilnehmern beispielsweise die "Querdenker"-Szene ständig verharmlost und zu Kämpfern für demokratische Grundrechte stilisiert wurde.
Wo Wissenschaftsfeindlichkeit und Irrationalität enden, ist uns gerade in den USA deutlich vor Augen geführt worden.
Wir sollten uns darüber nicht nur in permanenter Entrüstung ergehen, sondern auf medialer und politischer Ebene diesem Treiben mit allen demokratischen Mittel verstärkt Einhalt gebieten.
Edgar Schwer am Permanenter Link
Die personifizierte Idiotie hat großen Anteil an dem Desaster am Capitol, die in der irrationalen Politik und dem Hass der Teaparty ihren Ursprung hat.