Kolumne: Sitte & Anstand

Die Theologie des letzten Zipfels

Weihnachten ist ja jetzt vorbei, die letzten Bäumchen haben ihr sinnloses kurzes Dasein beendet, indem sie den Zoo-Elefanten zum Frühstück gereicht wurden, gegenüber auf dem Balkon ist der mannshohe, beleuchtete Santa verschwunden, und man kann wieder halbwegs sorglos das Radio anschalten. Puh! Es war eine schwere Zeit. Wie gut, dass es jetzt allmählich heller und frischer wird. Dass man nun Gelegenheit hat, das ganze schwüle Gesülze, das rund um Weihnachten entsteht, geistig abzuarbeiten. Weihnachten ist die Zeit, da die Menschheit am tiefsten im Dunkel steckt, und allerlei Priester und Rauner und Munkler versuchen seit jeher, diese Zeit für sich nutzbar zu machen: Ist eh nix los draußen, jetzt lasst euch noch mal erzählen von der anderen, dieser geheimnisvollen Welt, die uns unseren Lebensunterhalt sichert.

Je mehr der jeweilige Glaube/Aberglaube mit der Macht verschmolzen ist, desto klarer sind die Aussagen und Anweisungen. Denn wer würde dem Mann auf der Kanzel zu widersprechen wagen, solange er mit ernsten Konsequenzen drohen kann? Heute hat die Mehrheit der Menschen sich abgewendet, und die Religiösen, da sie inhaltlich nach wie vor nix Überzeugendes anzubieten haben, setzen auf vage, kryptische Lockrufe.

In der Weihnachtszeit gab es etwa eines dieser typischen Weihnachtsinterviews im Deutschlandfunk, der Theologe/Autor Stefan Seidel ließ uns Kostproben seiner Welterkenntnis schmecken, und jetzt ist der Moment, das mal auseinanderzuklamüsern, denn irgendwo bleibt doch immer was im Hinterkopf hängen von derlei Geschwurbel, und wenn man sich fallen lassen wollte, sagte man sich: Es ist die Stimme des Göttlichen, die da im Rückenmark rumort. Muss doch irgendwie irgendwas dran sein an dem guten, alten, traditionsreichen Quark!

Nun kann man in aller Ruhe ein solches Radiogespräch abklopfen, und wie immer in diesen religiösen Zusammenhängen stellt man fest: Formal ist das zwar ein Interview. Inhaltlich aber erfolgt dort, wo der Experte Informationen hergeben müsste, nur ein Blubbern. Überbaut, man muss es leider sagen, von einer schlecht kaschierten Arroganz. Ich jetzt mal, wenn ich an ein unsichtbares Wesen und eine unsichtbare Welt glauben würde, wäre vermutlich eher bescheiden und zurückhaltend mit diesen meinen Fake News, und ich wäre vermutlich sogar froh, wenn sich das Geglaubte als charmanter Irrtum herausstellen würde. Der Christ Seidel aber kommt immer wieder mit diesen tückischen Wendungen daher: "Wir" sind "religiöse Analphabeten", also ungebildete Dummies vor dem Herrn. Oder er nagelt uns seine erhabene Dialektik kreuzweise rein: "Ich bin weit davon entfernt, generell zu unterstellen, dass konfessionslose Menschen ein Defizit in sich tragen, das unbedingt behoben werden soll. (...) Und doch, denke ich, auf einer etwas tieferen Ebene kann sich schon äußern, dass etwas fehlt."

Oder es ist von einer "Leerstelle" die Rede, und von einem "ganzheitlicheren Menschenbild". Immer wieder wird also religionsfreien Menschen ein Mangel unterstellt: Sie seien auf eine nicht näher erklärbare Weise arm dran, denn sie kennten die Liebe nicht. Dann aber, an Weihnachten, fällt sie wohl die Ahnung an, dass sie ihr Leben falsch leben – und zwar nicht etwa, weil der Job sie unglücklich macht, sie mit dem falschen Partner zusammen sind, sie sich nie mit ihrer Schwester ausgesprochen haben, sie den Erwartungen der Eltern nicht gerecht werden (welche hinwiederum den überzogenen narzisstischen Erwartungen des Bibelgottes gleichen), und und und. Nein, sondern: weil sie sich (wie von allen anderen unsichtbaren Göttern der Menschheitsgeschichte) vom unsichtbaren Gott der Christenkirchen abgewendet haben.

"Zu Weihnachten wird für die meisten, auch für diejenigen, die sich da schon distanziert haben vom Kirchlichen, etwas einsichtig: dieses Geheimnis, was gefeiert wird mit dem Licht, das in der Dunkelheit leuchtet, und mit dem gemeinsamen Einstimmen auf den tieferen Klang des Lebens. Dass man das braucht, das ist der letzte Zipfel der Verbundenheit mit den größeren Traditionen, aus denen wir kommen. Das ist auf einer ganz emotionalen inneren Ebene. Das brauchen wir, das wollen wir, das sind wir, ein Stück wie die Kinder vor der Weihnachtsstube. Ohne das können wir uns nur sehr schwer vorstellen, diese Zeit zu begehen. Ich denke, das ist ein ganz großes Zeichen und eine ganz große Sehnsucht, die da zum Ausdruck kommt."

Ja, nun aber was? Wer, was, wonach? Wo ist denn dein Gott, wie sieht er aus, was bietet er an? Da kommt so gar nichts mehr. Nur dieses Raunen. "Klang", "Zipfel", "innere Ebene". Der Mensch sei ein "Seelenwesen", heißt es auch noch, was immer das bedeuten mag, und der Mensch habe nun einmal eine Anlage, "immer wieder nach dem Göttlichen zu fragen". Ja klar hat er! Weil die Göttlichkeitsleute seit Jahrtausenden täglich angelaufen kommen mit ihrem Zeug und nie eine echte Erklärung für irgendwas haben. Die Vorstellung ist wohl: Wer an eine Gottheit glaubt, kann Trost von ihr erhalten. Und, ehrlich mal, ist das nicht eine traurige Botschaft: dass Trost nicht bei den Mitmenschen gesucht werden kann, die viel mehr davon zu geben haben als ein unsichtbarer Mann, der einmal wöchentlich per Gedankenkraft in große, kalte Räume hineinprojiziert wird? Lieber sitzen wir, wenn es dunkel wird, mit Freunden ums Lagerfeuer, quatschen, singen und staunen über das Universum, in dem wir aufgehoben sind, und über die Mitmenschlichkeit, in der wir aufgehoben sind – ohne dass irgendein Religionsbolzen das Wundervolle kleinzureden versucht mit seinen beengten Ideen von irgendeiner Gottheit, die sich zwischen uns und den Himmel schiebt und dafür am besten noch Bewunderung verlangt.

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