Funktionäre der Palliativmedizin sind mit ihrem Widerstand gegen die verfassungsrechtliche Freigabe der Suizidhilfe zu weit gegangen. Sie forderten in einer Stellungnahme an Jens Spahn extrem hohe Hürden. Gleichzeitig verweigert der Vatikan nunmehr Schwerstleidenden mit "Euthanasie"-Wunsch sogar Beichtgespräche. Eine Minderheit evangelischer Theologen schlägt demgegenüber in Diakonie-Einrichtungen eine Begleitung von Suizidwilligen vor. Interne Kritiker*innen auf allen Seiten erschüttern festgefügte Identitäten.
In welchem Namen werden offizielle Stellungnahmen etwa von Verbänden oder Kirchen an die Politik gerichtet? Entsprechen sie ausschließlich der entsprechenden Ideologie ihrer Funktionäre und allerhöchsten Stellen? Eine solche Frage stellt sich in der katholischen Hierarchie nicht, wohl aber in der evangelischen Kirche. Das zersetzt somit zwangsläufig die Ökumene der deutschen Christen in der zentralen Frage, dass das Leben "heilig, unantastbar und unverfügbar" sei. Mit diesem Bekenntnis versuchte Papst Franziskus Anfang des Jahres, den unbedingten Widerstand gegen alle "Akte der Euthanasie" zu bekräftigen.
Die Zeit hatte bereits berichtet, "wer selbstbestimmt sterben will, muss auf die Unterstützung der Kirche verzichten" und den Vatikan zitiert: Hilfe zum Suizid sei ein "Verbrechen gegen das menschliche Leben" und ein "in sich böser Akt, in jeder Situation und unter allen Umständen". Dies geht aus dem Dokument Samaritanus Bonus der Glaubenskongregation schon vom September 2020 hervor. Anlass für das Schreiben ist das Anliegen des Vatikans, bestehende katholische Richtlinien zu verstärken, da das staatliche Recht in vielen Ländern zunehmend freizügiger werde.
Vergebung der Suizidhilfesünde nur bei reuevoller Seele
Das 23-seitige Sündenregister in italienischer Sprache mit 99 theologischen Quellennachweisen wurde von Papst Franziskus "gutgeheißen und seine Veröffentlichung angeordnet", wie es im Schlusssatz heißt. Das erschütternde Ausmaß des Dokuments Samaritanus Bonus wird erst in der ins Deutsche übersetzten Version "Der barmherzige Samariter" deutlich. Danach sind am Sterbe- und Krankenbett nach einem Euthanasieverlangen den Betroffenen die Sakramente einschließlich gewünschter Beichtgespräche zu verweigern. Denn "eine Person, die sich völlig frei dazu entscheidet, sich das Leben zu nehmen", habe "ihre Beziehung mit Gott und mit den anderen" gebrochen und widerspreche sich selbst als Subjekt im moralischen Verhältnis, "welches die Menschen untereinander verbindet".
Für katholische Seelsorger am Sterbebett gilt zu beachten: "In Bezug auf das Sakrament der Buße und Versöhnung muss der Beichtvater sich vergewissern, dass es Reue gibt, die … als ein 'Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangene Sünde, mit dem Vorsatz, fernerhin nicht mehr zu sündigen' [Quellennachweis Trienter Konzil, Sess. XIV] charakterisiert wird." Als ein Beleg für diesen Vorsatz könne gelten, "dass eine Person, die sich in einem Verein registriert hat, um Euthanasie oder assistierten Suizid zu erhalten", die Mitgliedschaft dort rückgängig macht.
Euthanasie wird definiert als "eine Handlung oder Unterlassung [sic] …, die ihrer Natur nach oder aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt". Dies sei selbst unter extremen Umständen "eine mörderische Handlung, die von keinem Zweck legitimiert werden kann und die keine Form von Mittäterschaft oder Mitwirkung toleriert". Angesichts dessen gilt laut Dokument der Glaubenskongregation: "Im Rahmen ihrer Mission, den Gläubigen die Gnade des Erlösers und das heilige Gesetz Gottes zu vermitteln, … fühlt sich die Kirche verpflichtet, hier einzugreifen". Dabei gelten palliative Behandlungsmethoden als Bollwerk gegen die Euthanasie. Sie seien "der authentischste Ausdruck menschlicher und christlicher Fürsorge".
Hospiz- und Palliativversorgung als Bollwerk gegen Verfassungsrecht
Zu preisen sei neben der Palliativmedizin "die Einrichtung von Hospizen", die außer umfassender Fürsorge auch spirituelle Begleitung bis zum letzten Moment gewährleisten würden. Diese seien die "christliche Antwort auf das Geheimnis von Tod und Leiden", "Heiligtümer von Schmerz, der mit einer Sinnfülle erlebt wird" und "ein Beispiel für die Menschlichkeit". Dort habe jeder Schwerst- oder Todkranke "im letzten Lebensstadium Anspruch darauf, dass man ihm hilft, ihn umsorgt, ihn liebt".
Funktionäre der Palliativ- und Hospizversorgung in Deutschland hören dies gern und sehen es zumindest ähnlich. Das zeigte ihre Empörung gegen das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur erlaubten Suizidhilfe – im Einklang mit offiziellen Stellungnahmen der beiden christlichen Kirchen. Als ein Grund für das Urteil wird vermutet und beklagt, dass der Einfluss des Christentums zurückgeht. Besonders laut zu vernehmen ist diesbezüglich Prof. Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes, und daneben Prof. Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Gewarnt wird – die religiöse Auffassung säkular gewendet –, inzwischen auch von immer mehr Politiker*innen, vor der angeblich hochgefährlichen "Normalisierung" der Suizidhilfe. Dies gilt als Mantra eines weltlich-natürlichen Sittengesetzes. An die Wand gemalt wird, dass jetzt auch von einem Jugendlichen aus Liebeskummer Hilfe zur Selbsttötung gefordert werden kann und dass vor allem die palliativmedizinischen Bemühungen um Leidlinderung gravierend eingeschränkt würden.
Es sind aber in Palliativmedizin und Hospizbewegung nur ihre höchsten Funktionäre, welche sich radikal und teils fragwürdig so positionieren und politisch artikulieren. Sie missbrauchen damit ihre allgemein genossene Autorität, im Namen der Sorge um Schwerstkranke aufzutreten. Die Ärztin und Medizinethikerin Prof. Bettina Schöne-Seifert macht aus ihrem Unmut darüber keinen Hehl, wie hier im Deutschlandfunk: Der Vorstand instrumentalisiere die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) im ideologischen Sinne, indem er fälschlicherweise ein eindeutiges Votum der Palliativmedizin contra ärztlich assistierten Suizid suggeriere. Schöne-Seifert führt aus: "Deswegen habe ich große Sorge, dass da – ich nenne es jetzt mal bei dem unangenehmen Namen – alte Seilschaften auch im Verhältnis zwischen Kirchengremien und politischen Gremien dafür sorgen werden, dass eine kleinere Schwester von Paragraph 217 StGB wieder auf den Tisch kommt."
Mehrfache Begutachtung plus Beratungspflicht als Schutz gegen "Normalisierung"
Dabei handelt es sich bei der DGP um eine sich wissenschaftlich neutral verstehende Fachgesellschaft mit durchaus pluralistischen Auffassungen unter den rund 6.000 Mitgliedern. Auf Anfrage von Jens Spahn hat die DGP diesem ein Positionspapier vorgelegt mit dem Ziel, durch ein Schutzkonzept der "Gefahr einer Normalisierung der Suizidbeihilfe" entgegenzuwirken. Die Stellungnahme des Palliativ-Vorstands liegt dem Deutschlandfunk vor, welcher die verheerenden Restriktionen darin wie folgt zusammenfasst:
"Das Papier macht Vorschläge für eine mögliche Neuregelung der Sterbehilfe, die Kritiker für zu streng und zudem verfassungswidrig halten. Demnach müssten Menschen, die unheilbar krank sind, sich zweifach ärztlich begutachten lassen. Hinzu kämen eine palliativmedizinische Beratung, das Votum eines Ethikgremiums und mindestens 30 Tage Wartezeit. Menschen ohne unheilbare Krankheit müssten sich dreifach begutachten lassen, zudem eine sozialrechtliche Beratung mitmachen und mindestens ein Jahr warten."
Längst ist bekannt, dass der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin mit diesen strikten Regularien nicht für eine große Mehrheit ihrer teils völlig andersdenkenden Mitglieder sprechen kann. Immerhin hatten sich 40 Prozent bei einer Umfrage vor fünf Jahren genau umgekehrt für die prinzipielle Möglichkeit ärztlicher Suizidassistenz ausgesprochen. Den Führungspersonen wird aufgrund der Einseitigkeit ihrer Stellungnahmen undemokratisches Vorgehen vorgeworfen. Für kritische Stimmen aus den eigenen Reihen der DGP ist es oft sehr schwer, auf Anmaßungen und teilweise Irreführungen der öffentlich wortführenden Funktionäre zu reagieren. Um eine dagegen protestierende Replik auf den Weg zu bringen, mussten namhafte Palliativmediziner wie Prof. Borasio und Prof. Jox unlängst sogar auf den Humanistischen Pressedienst zurückgreifen – für sie selbst vermutlich ein außergewöhnlicher Schritt.
Eigene Hilflosigkeit, letztes Gefecht und altbewährte Heuchelei
In einer Video-Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin brachte insbesondere Präsident Radbruch, ein sich als hochmoralisch zeigender Mensch, seine Hilflosigkeit und Verwirrtheit zum Ausdruck. Er tut sich sehr schwer, nun einen neuen Standpunkt auf dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Weg zu finden. Die Aussicht, in Zukunft in den Versorgungsteams darüber diskutieren zu müssen, sei sehr bedrückend, gibt er preis. Auf dem Spiel steht die erforderliche Änderung des bisher scheinbar so ungebrochenen Selbstverständnisses der deutschen Palliativmedizin, ein Bollwerk gegen die Gefahr einer legalisierten Suizidhilfe zu sein.
Das letzte Gefecht gegen einen drohenden Dammbruch macht sich der Vorsitzende des Caritas-Verbandes, Peter Neher, voll und ganz zu eigen. Im "Tagesgespräch" des Bayerischen Rundfunks mit der Autorin dieses Textes erklärte er weitschweifig und phrasenhaft, dass in den Caritas-Einrichtungen auch Gesprächen um Suizidhilfe nicht länger ausgewichen werden könne. Dort würde schon lange um die Wahrung der Selbstbestimmung gerungen. Doch nun ziehe mit rein verfassungsrechtlichen Begründungen auch die "ökonomisierte Fremdbestimmung" in die Pflegeeinrichtungen der Caritas ein. Dies würde unweigerlich zu "unfreiwilligen Maßnahmen" der (Selbst-)Tötungen und zur "Abqualifizierung von menschlichem Leben als lebensunwert" führen. Die besondere Sorge für Schwache durch die Caritas-Mitarbeiter*innen und deren Menschenwürde seien durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes massiv bedroht.
Ganz anders hat sich vorige Woche der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, zusammen mit anderen liberalen evangelischen Theolog*innen positioniert. Lilie sagte im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil, dieses stelle innerhalb der evangelischen Kirche eine neue Gestaltungsaufgabe dar, an der man in einem Rechtsstaat nicht vorbeikomme. Dies könne für kirchlich-diakonische Einrichtungen bedeuten, neben der Versorgung auch Rahmenbedingungen für eine solche Wahrung der Selbstbestimmung bereitzustellen, das heißt "abgesicherte Möglichkeiten eines assistierten Suizids in den eigenen Häusern anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten". Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hatte dies zuvor bereits ebenfalls für möglich erklärt. Beide ernten dafür entschiedenen Widerspruch innerhalb der Hierarchie der Evangelischen Kirche Deutschlands, die sich massiv gegen den assistierten Suizid sperrt – namentlich durch den 2021 scheidenden Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Dieser bekräftigte nochmals ausdrücklich die Position, die ebenfalls als Antwortbrief an Jens Spahn geschickt worden war: Der Schutz des Lebens habe absoluten Vorrang und "jede organisierte Hilfe zum Suizid" sei ausdrücklich abzulehnen. Darauf hätte man sich mit der Katholischen Bischofskonferenz geeinigt, dass es in dieser wichtigen Frage keinen Graben zwischen den beiden christlichen Kirchen geben dürfe. Dazu war bereits im vorigen Sommer in diesseits (S. 22) über die Sprengkraft für die Religion ausführlich berichtet worden.
Die katholische Kirche greift derweil auf das altbewährte Schlupfloch der Heuchelei zurück. Die Richtlinien im Dokument "Der barmherzige Samariter" zu Maßnahmen am Lebensende besagen zwar: Jeder Schwerkranke, der den "unmoralischen Akt Sterbe- oder Suizidhilfe" für sich in Anspruch nehmen wolle und an seiner Entscheidung festhalte, dürfe keinerlei Geste des Zuspruchs erhalten. Aber "Ausnahmen könne es geben", hat der Spiegel dazu lapidar festgestellt, "wenn ein Priester überzeugt sei, dass die sterbende Person ihre Meinung geändert habe. Auch wenn der Patient bewusstlos sei und man Reue annehmen könne (sic), dürfe er die Sakramente erhalten".
9 Kommentare
Kommentare
Giordano Bruno am Permanenter Link
Der Mensch per se kann nicht sündigen, Sünden werden uns nur von den Kirchen eingeredet.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Wenn Apostaten, sterbewillige Schwerkranke und sonstige unmoralische Mitmenschen "...
Für Spahn, Ignorant höchstrichterlicher Urteile und damit Verfassungsfeind, wird das keinerlei Hürde darstellen.
Zu den bekannt bigotten Katholiban schreibe ich jetzt mal nix weiter...
Arike am Permanenter Link
Die Kirche nimmt nach wie vor den Individuen das Recht, selbstverantwortlich zu glauben, zu denken und zu handeln.
Ernst-Günther Krause am Permanenter Link
Man bekommt den Eindruck, dass das Führungsgremium der DGP befürchtet, dass sich die Todkranken das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Herzen nehmen und ihren Sterbeprozess verkürzen.
Giordano Bruno am Permanenter Link
Darum geht es nicht, es geht lediglich darum, dass der Palliativmedizein, den Altenheimen und Hospizen Milliarden von Einnahmen wegfallen würden.
Ernst-Günther Krause am Permanenter Link
Genau das habe ich gemeint: finanzielle Interessen.
Gita Neumann am Permanenter Link
Auch darum geht es insofern nicht: die Hospize haben stets zu wenig Kapazität, um auch nur annähern alle Anfragenden aufzunehmen. Aber es geht um ihre höchstmögliche Akzeptanz inkl.
G. Ne.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Die Kirche und ihre sogenannte Moral. Man kann gar nicht soviel essen , wie man kotzen möchte.
Manfred Schleyer am Permanenter Link
Die "Hirten" müssen über-natürlich ihren "Schafen" (Wortwahl Jesu) sagen, was für sie am besten ist: lange leiden.
Und außerdem musste sogar jener Jesus leidvoll krepieren, sonst hätte sein Vater ihre Schafe nicht von der Ursünde und seine Hirten nicht von richtiger Arbeit erlösen können.