Nach Schweizer Gerichtsurteil

Muss den Zeugen Jehovas der KdöR-Status in Deutschland entzogen werden?

Die Äußerungen einer Sektenexpertin über die Praktiken der Zeugen Jehovas entsprechen der Wahrheit und sind somit zulässig. Das Bezirksgericht Zürich hat festgestellt, dass regelmäßig kritisierte Praktiken der Zeugen Jehovas wie unter anderem die sogenannte Ächtung und Zwei-Zeugen-Regel tatsächlich durchgesetzt werden, anders als die Glaubensgemeinschaft häufig behauptet. Somit wurden die fraglichen Äußerungen der Beklagten jeweils für wahr befunden beziehungsweise konnten für wahr gehalten werden. Der Freispruch vom Vorwurf der üblen Nachrede vom 9. Juli 2019 (Aktenzeichen: GG180259) ist jetzt rechtskräftig geworden, nachdem die Zeugen Jehovas Schweiz keine Berufung einlegten. Ein Kommentar von Julius Rupprecht.

Die Sektenexpertin und ehemalige Mitarbeiterin der Fachstelle infoSekta Regina Spiess war von der Vereinigung der Zeugen Jehovas der Schweiz infolge eines Interviews im Tages-Anzeiger (2015) sowie einer Medienmitteilung (2015) wegen übler Nachrede nach Artikel 173 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (bis auf dessen Absatz 3 vergleichbar mit Paragraph 186 StGB) angezeigt worden. In diesen Texten machte sie unter anderem auf die menschenrechtswidrigen Praktiken der Ächtung, der Todesfälle aufgrund der Verweigerungen von Bluttransfusionen sowie die Förderung von sexueller Gewalt insbesondere an Minderjährigen durch die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel aufmerksam.

Ächtung bezeichnet eine religiöse Vorschrift, nach der getaufte Mitglieder der Zeugen Jehovas, die sich vom Glauben abwenden oder gegen Vorschriften verstoßen, aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Andere Zeugen Jehovas dürfen mit ihnen keinen Kontakt mehr pflegen, sie nicht einmal mehr grüßen. Das gilt auch für engste Angehörige wie Eltern, Kinder, Geschwister, Partner:innen und Großeltern. Geächtete Personen erfahren oft von Dritten von der Hochzeit, der Geburt oder dem Tod nächster Angehöriger.

Vor Erreichen der Religionsmündigkeit getaufte Kinder von Mitgliedern können somit faktisch kaum frei entscheiden, wie sie leben und woran sie glauben möchten, da sie sonst das Risiko eingehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit alle geliebten Menschen zu verlieren. Kinder erleben dadurch schwere Ängste einerseits hinsichtlich drohenden Liebesentzugs und andererseits der allzeit präsenten Darstellung des nahenden Weltendes in Harmagedon, in dessen Zuge alle Ungläubigen vernichtet werden.

Die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel besagt, dass einer Straftat im Rahmen der internen Gerichtsbarkeit der Zeugen Jehovas erst dann nachgegangen werden kann, wenn es für die Tat mindestens zwei Zeug:innen gibt. Insbesondere bei sexualisierter Gewalt ist das erfahrungsgemäß nur ganz ausnahmsweise der Fall. Kann also außer dem Opfer selbst niemand den Missbrauch bezeugen und streitet der/die Täter:in die Tat ab, so wird nichts unternommen (siehe auch die aktuelle Medienberichterstattung zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs bei den Zeugen Jehovas).

Argumentation seitens der Zeugen Jehovas

Die Zeugen Jehovas Schweiz vertraten, wie auch auf ihrer Website in der Rubrik "Oft gefragt" betont wird, dass getaufte Zeug:innen, die nicht mehr praktizieren, grundsätzlich nicht gemieden würden. Das gelte aber nicht für Menschen, die wiederholt eine "Sünde" wie Sex vor der Ehe, Rauchen, Wählen oder das Akzeptieren einer Bluttransfusion begingen beziehungsweise sich zu einem anderen Glauben oder Nicht-Glauben bekennen und keine Reue zeigten.

Zum Thema Bluttransfusion kommunizierten die Zeugen Jehovas, dass die Verweigerung von Bluttransfusionen zwar vorgeschrieben sei, allerdings nicht zu mehr Todesfällen führe. Andererseits werden Betroffene zur "Standhaftigkeit" ermutigt beziehungsweise dafür gelobt, dass sie "standhaft" blieben, auch wenn sie im Zuge dessen verstarben. So unter anderem im Erwachet! vom Mai 1994.

Entscheidung des Bezirksgerichts Zürich

Bemerkenswert akribisch untersuchte das Gericht jede der seitens der beschuldigten Sektenexpertin getätigten Aussagen. Auf eine Einvernahme der 24 benannten Zeug:innen konnte allerdings verzichtet werden, da das Gericht den Entlastungsbeweis bereits durch das umfangreiche schriftliche Beweismaterial erbracht sah. Ferner machte das Bezirksgericht an mehreren Stellen deutlich, dass ihm die deutsche und weitere internationale Rechtsprechung zum Thema bekannt sei.

Der Beschuldigten wurde eine für Schweizer Verhältnisse hohe Prozessentschädigung von 20.500 Franken für Anwaltskosten sowie zusätzlich eine Umtriebsentschädigung von 4.000 Franken zugesprochen.

Das Gericht erkannte an, dass die Praxis der Ächtung existiert und zumindest im Ansatz menschenrechtsverletzend ist. Ächtung könne demnach als verordnetes Mobbing verstanden werden und verletze die persönliche Integrität sowie implizit die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Betroffenen.

Gerichtlich festgestellt wurde auch, dass Kinder und Jugendliche von Ächtung ebenfalls betroffen seien und dass sie dadurch schwere Ängste erlebten. Dies geschehe durch Druck, Manipulation, Bestrafung und Ausschlussmentalität. Auch die Wachtturm-Materialien würden auf Verängstigung der Kinder zielen. Das Ächtungsgebot stelle eine manipulative Einflussnahme dar.

Ebenfalls stellte das Gericht fest, dass die Zwei-Zeugen-Regel in der oben beschriebenen Form existiert und dass davon ausgegangen werden könne, dass sie und andere Vorgaben der Organisation sexuellen Missbrauch an Kindern fördern. Zu dieser Auffassung gelangte das Gericht vor allem unter Rekurs auf den Final Report der australischen Royal Commission, einer staatlich installierten Wahrheitsfindungs-Kommission, demzufolge grundlegende Glaubensüberzeugungen und Praktiken der Zeugen Jehovas mit Kindesmissbrauch im Zusammenhang stehen sowie die patriarchale und stark hierarchische Struktur der Gemeinschaft zu einer geschwächten Position von Frauen und Kindern führt. Insbesondere die Vorstellung, dass biblisches Gesetz über dem weltlichen stehe, begünstige eine ohnehin gesellschaftlich vorhandene Kultur des Nicht-Anzeigens von Sexualstraftaten zusätzlich. Darüber hinaus gebe es keine internen Maßnahmen zum Schutz des Kindes.

Zur Frage des Bluttransfusionsverbots äußerte das Gericht lediglich, dass dieses "gerichtsnotorisch" regelmäßig befolgt werde und zu Todesfällen führe. Somit sind Äußerungen seitens der Zeugen Jehovas, wonach es "eine völlig haltlose Behauptung" ("Oft gefragt") sei, dass viele Zeug:innen Jehovas (darunter auch Kinder) sterben, weil sie Bluttransfusionen ablehnen, gerichtlich widerlegt.

Kommentar

Das Urteil entfaltet für deutsche Gerichte und Behörden zwar keine Bindungswirkung, aber dennoch inhaltliche Relevanz, da Lehre und Praktiken der Zeugen Jehovas weltweit annähernd gleich sind. Die wichtigste Rechtsfrage in Deutschland ist in diesem Zusammenhang, ob die Verleihung der Rechtsform der Körperschaft öffentlichen Rechts (KdöR), die die Zeugen Jehovas zwischen 2006 und 2015 in allen Bundesländern erlangt haben, aufgrund fehlender genereller Rechtstreue und Einhaltung der Grundrechte rückgängig gemacht werden muss. Die Frage des Widerrufs einer Anerkennung als religiöse Körperschaft ist in der Praxis bisher kaum aufgetreten. Hier stellt sie sich umso dringlicher.

Die Existenz des Körperschaftsstatus der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und das damit einhergehende "Privilegienbündel" sind aus zahlreichen Gründen insgesamt abzulehnen. Zu diesen Privilegien zählen vor allem das Steuererhebungsrecht, Steuervergünstigungen, die Freistellung von Betriebsverfassungs- und Tarifrecht, Sendezeiten und Mitgliedschaft in Rundfunkräten. Diese Bevorzugung der Körperschaften gegenüber privatrechtlichen Religionsgemeinschaften ist kaum zu rechtfertigen.

Der Körperschaftsstatus ist für Religionsgemeinschaften auch nicht existenznotwendig, denn es besteht die gesicherte "Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften" nach Artikel 137 Absatz 2 WRV. Ein Entfall des Artikels 137 Absatz 5 WRV wäre auch hinsichtlich der Verwirklichung der Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG unproblematisch und bedürfte lediglich einer bundesrechtlichen Neuregelung des gemeinsamen allgemeinen Status von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, etwa nach Art eines abgewandelten Vereinsrechts.

Umso weniger ist hinzunehmen, dass die Anerkennungsvoraussetzungen des Körperschaftsstatus seitens der Gerichte und zum Teil der Landesregierungen derart leger angewendet werden, wie es im Fall der Zeugen Jehovas geschehen ist.

Dem Prozess der Anerkennung als Körperschaft in allen Bundesländern gingen mehrere Gerichtsverfahren voraus, in denen unter anderem das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2000 die Erlangungsvoraussetzungen konkretisierte (Aktenzeichen: 2 BvR 1500/97). Im Rahmen der Erstverleihung des Körperschaftsstatus in Berlin äußerte beispielsweise das Oberverwaltungsgericht Berlin, dass es keine Anhaltspunkte für ein "aktives Hinarbeiten auf eine Trennung von Ehepartnern und Familien, das sich zugleich als nachhaltige Sperre gegen den Austritt auswirken könnte" gebe (OVG Berlin, Urteil vom 24. März 2005 – 5 B 12.01 –, juris-Rn. 38). Unter anderem das hatte das Bundesverwaltungsgericht zuvor als ausreichenden Grund für die Versagung des Körperschaftsstatus angesehen und das Verfahren zur fachgerichtlichen Untersuchung zurück an das OVG verwiesen (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2001 – 7 C 1/01 –, juris-Rn. 19). Eine Übersicht zu allen Verfahren findet sich auf der Website der Zeugen Jehovas.

Die hier besprochene Entscheidung des Bezirksgerichts Zürich widerspricht der Tatsachenwürdigung deutscher Verwaltungsgerichte in mehreren zentralen Punkten, obwohl die gleichen Praktiken der Religionsgemeinschaft betrachtet wurden. Das Urteil legt damit die Vermutung nahe, dass die deutschen Gerichte den Äußerungen der Zeugen Jehovas zu unbedarft gefolgt sind.

Subsumiert man die Tatsachenbewertungen des Schweizer Urteils unter das deutsche Recht, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass sich auch die Zeugen Jehovas Deutschland systematisch grundrechtswidrig verhalten. Die religiösen Bestimmungen insbesondere hinsichtlich der Ächtung auch innerhalb der Kernfamilie, der Begünstigung sexuellen Missbrauchs sowie des faktischen Zwangs zur Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen verletzen die Grundrechte der Gläubigen und ihrer Angehörigen, jedenfalls Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1, Artikel 2 Absatz 2, Artikel 4 Absätze 1 und 2 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Nach dem bereits oben erwähnten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (Rn. 21) kann auch ein Verhalten der Religionsgemeinschaft, das einer staatlichen Schutzpflicht entgegenläuft, für sich genommen eine Verleihung des Körperschaftsstatus ausschließen. Auch die aus Artikel 2 Absatz 2, Artikel 4 Absätze 1 und 2 und Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG abgeleiteten aktiven Schutzpflichten des Staates werden von den Praktiken der Zeugen Jehovas unterlaufen.

Gleichzeitig kommt in Betracht, dass die den Körperschaftsstatus verleihenden Behörden und die das überprüfenden Gerichte durch ihre Legitimierung jener religiösen Praktiken als "rechtstreu" ihre aus den gefährdeten Grundrechten folgenden Schutzpflichten verletzt haben. Das könnte insbesondere dadurch geschehen sein, dass die Religionsgemeinschaft durch die mittels Körperschaftsstatus hinzugewonnenen Privilegien heute leichter Grundrechtsverletzungen begehen beziehungsweise kaschieren kann. Ferner besitzt die behördliche und/oder gerichtliche Einordnung als "rechtstreu" eine zumindest faktische Bindungswirkung für künftige Verfahren.

Insgesamt ist also festzustellen, dass die Voraussetzungen zur Verleihung des Körperschaftsstatus nicht vorliegen und nie vorgelegen haben. Deshalb muss diese rückgängig gemacht werden (vgl. beispielsweise Paragraph 4 Körperschaftsstatusgesetz NRW).

Erstveröffentlichung auf der Website des ifw.

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