Kommentar

Fußball versus Werte und Vernunft

Am Wochenende beginnt sie nun also, die unsägliche WM in Katar, die seit Jahren für Schlagzeilen sorgt: Korruption, grobe Menschenrechtsverletzungen, ein Schlag ins Gesicht für den Klimaschutz. Wohl nie zuvor gab es so viele Boykott-Ankündigungen. Wie konsequent sie umgesetzt werden, wird sich zeigen.

Und, werden Sie mitmachen beim Boykott? Es über sich bringen, des Deutschen liebste Sportart im Weltturnier unbewegt an sich vorbeiziehen zu lassen? Mehr gute Gründe, dies zu tun, gab es wohl nie. Schon früh sorgte die WM im Emirat Katar für Empörung. Dass die FIFA trotz Ethikkommission kein lupenreiner Wohltätigkeitsverband ist, war ja bisher auch schon klar. Den unmoralischen Vogel abgeschossen hat sie aber wohl spätestens mit der Vergabe an den autokratischen Wüstenstaat.

Da war zunächst das liebe Geld, das dem Anschein nach wohl das einzige Pro-Argument war. Denn dass Katar unter allen anderen Aspekten ungeeignet ist, Austräger einer Fußball-WM zu sein, wurde in der Berichterstattung mehr als deutlich. Da gab es die unmenschlichen Verhältnisse, unter denen Arbeiter die Infrastruktur für das Mega-Event aus dem Boden stampfen mussten, viele gar unter Verlust ihres Lebens, obwohl das reiche Land sicherlich auch die Mittel für eine ordentliche Unterbringung, Bezahlung und Sicherheitsstandards gehabt hätte.

Hinzu kam die klimatische Situation: Erstmals in der Geschichte findet eine Fußball-Weltmeisterschaft nicht im nordhemisphärischen Sommer, sondern in den Monaten November und Dezember statt. Denn zur üblichen WM-Zeit wäre es mit bis zu 50 Grad Celsius viel zu heiß, um 90 Minuten einem Ball hinterherzuhetzen oder dem Spektakel unter der sengenden Sonne beizuwohnen. Doch auch jetzt wird es sommerlich werden. Um es Besuchern und luxusverwöhnten Spielern so angenehm wie möglich zu machen, wurden Klimaanlagen in die Stadien eingebaut. Angesichts der mangels Ergebnissen verlängerten UN-Klimakonferenz kann man hier nur verständnislos mit dem Kopf schütteln.

Als wäre das noch nicht genug, ist das gastgebende Emirat eigentlich viel zu klein, um die Welt in diesem Ausmaß zu Gast zu haben. Man behilft sich, indem man die Besucher in Nachbarstaaten unterbringt und per Shuttleflügen (!) zu den Spielen transportiert. Angesichts des sich mitten im Wandel befindenden Klimas kann man das eigentlich nur als pervers bezeichnen.

À propos Besucher: Ob die sich sicher fühlen können, ist nach wie vor eher eine Vermutung denn eine Gewissheit. Denn obwohl die Herrscherriege in diplomatischen Sonntagsreden versichert, dass alle willkommen seien, tritt in uninszenierten Momenten dann doch das zu Tage, was man wirklich denkt: Vergangene Woche bezeichnete der katarische WM-Botschafter Khalid Salman Homosexualität in einer ZDF-Dokumentation als "geistigen Schaden". Queere Personen werden in Katar verfolgt. Das Spannungsfeld von Wahhabismus und Frauenrechten dürfte ohnehin bekannt sein. Eine Mitarbeiterin der WM-Organisation geriet selbst in die Mühlen der Justiz, als sie eine Vergewaltigung anzeigte (der hpd berichtete).

Man präsentiert sich also gerne als weltoffener Gastgeber, die Werte der Touristen sollen aber lieber zu Hause bleiben (die Botschaft für Menschenrechte auf den Trikots der dänischen Nationalmannschaft hat die FIFA vorsorglich untersagt). Was die Frage aufwirft: Was passiert mit Fußballfans – mutmaßlich nicht immer die zurückhaltendsten und kulturell aufgeschlossensten Vertreter ihrer Nationen –, die sich konträr zu islamischen Traditionen verhalten? Sich betrinken, feiern, unverheiratet miteinander Sex haben, sich nicht verschleiern, sich kurzum wie Menschen mit Freiheitsgewohnheit verhalten? Wie wird das Verhältnis von internationalen Fans und Katarern sein? Wird es vier Wochen lang eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geben? Oder dürfen die Einheimischen vorübergehend in bedingtem Rahmen die westliche Sau rauslassen? Und wenn ja – will man das dann hinterher wieder "einfangen"?

Fragen über Fragen. Dass diese Veranstaltung in dieser Form stattfindet, lässt sich nicht mehr verhindern. Daher werden wir zwangsläufig bald Antworten haben auf all diese Unklarheiten. Auch wenn es bisher nie funktioniert hat – vielleicht kann ja doch ein Impuls ausgehen von dieser Fußball-WM, für die Bevölkerung von Katar. Denn dass eine Veränderung auch unter widrigsten Bedingungen möglich sein kann, darauf machen aktuell die mutigen Menschen im Iran Hoffnung.


Hinweis der Redaktion: Dass die UN-Klimakonferenz verlängert wurde, wurde am 18.11.2022 um 15 Uhr eingefügt.

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