"Kindesmissbrauch ist keine religiöse Angelegenheit"

Ziemlich genau ein Jahr nach Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens äußerte sich Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, am Dienstag in einer Pressekonferenz. Kritische Stimmen konnte er mit seinem Auftritt nicht überzeugen.

Man wolle an der Seite der Betroffenen stehen, so der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, "dass wir das in unserem Erzbistum behaupten dürfen und mit Taten belegen können, war ein Prozess und bleibt eine Aufgabe". Anfänglich sei die Perspektive der Betroffenen zu wenig berücksichtigt worden, "das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen", heißt es in einer Pressemitteilung seiner Diözese. Einmal mehr bat er die Betroffenen um Verzeihung. "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich!" Er rief dazu auf, Missbrauch und mögliche Hinweise darauf "bei den externen Unabhängigen Ansprechpersonen zu melden."

Mit deutlichen Worten meldete sich wenig später die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag zu Wort: Die Aufarbeitung dürfe nicht allein der Täterorganisation überlassen werden, sagte Gabriele Triebel, Sprecherin für Religion der Landtags-Grünen, in einer weiteren Pressemitteilung. "Kindesmissbrauch ist keine religiöse Angelegenheit." Das Gutachten vom letzten Jahr habe deutlich gemacht, dass die katholische Kirche hier ein institutionelles Problem habe. "Das sind keine Einzeltäter. Der Staat muss endlich seiner Verantwortung gerecht werden und Betroffene besser unterstützen!" Sie erkenne die Bemühung der Kirche an, räumte die Politikerin ein. Aber es müsse klar sein, dass der Kardinal die Aufgabe habe, den Aufklärungsprozess in Zusammenarbeit mit der Staatsregierung voranzutreiben. "Nur eine wirklich unabhängige Aufarbeitung wird den Anliegen der Menschen, die von sexualisierter Gewalt im kirchlichen Umfeld betroffen sind, gerecht."

Die bayerische Staatsregierung scheint keine Notwendigkeit für eine von den Grünen geforderte unabhängige staatliche Ombudsstelle zu sehen. Triebel: "Die Söder-Regierung hat offenbar kein gesteigertes Interesse, Licht in die dunklen Ecken der Kirche zu bringen. Es ist ein Problem, dass sie sich bis heute für die Aufklärung der Missbrauchsfälle in den Kirchen offenbar nicht verantwortlich fühlt." Bei einer Aussprache im Bayerischen Landtag im Dezember hatte das zuständige CSU-geführte Sozialministerium auf eine Stellungnahme vom Sommer verwiesen, nach der es in Bayern schon jetzt "ein dichtes Netz an staatlichen Anlaufstellen für Missbrauchsopfer mit klaren Zuständigkeiten und umfassenden Kompetenzen" gebe.

Im Nachgang der Veröffentlichung des Gutachtens im Januar 2022 hat das Erzbistum München und Freising eine telefonische Anlauf- und Beratungsstelle eingerichtet. Weiterhin eine Stabsstelle "Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese", die von Pfarrer Kilian Semel geleitet wird, der selbst Missbrauchsbetroffener ist. Semel ist zudem Mitglied des Unabhängigen Betroffenenbeirats des Erzbistums sowie dessen Unabhängiger Aufarbeitungskommission. Agnes Wich vom Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen, die selbst Teil des Betroffenenbeirats war, das Amt jedoch nach unüberbrückbaren Differenzen niederlegte, hält davon wenig: "Wenn die katholische Kirche einen Geistlichen an diese Stelle setzt, ist das ein Trigger im doppelten Sinn: Einerseits ist er selbst ein Priester, andererseits ist er Teil der Täterinstitution. Er ist nur zu erreichen, wenn man in Kontakt mit der Kirche tritt. Sowas geht gar nicht." Zudem berge diese Doppelfunktion ein sehr hohes Konfliktpotential zwischen unterschiedlichen Interessen, die nicht spurlos an einem Menschen vorübergingen. In dieser Funktion werde der eingesetzte Priester instrumentalisiert, glaubt Wich. "Aber Marx tut alles, um seine Position zu festigen."

Diejenigen, die sich nicht an eine kirchliche Beratungsstelle wenden wollten, hätten nach wie vor keine Anlaufmöglichkeit. Die Forderung der Grünen nach einer unabhängigen staatlichen Ombudsstelle unterstützt die Aktivistin daher. Jedoch sei die bayerische Staatsregierung bestens mit der Kirche vernetzt, deshalb halte sich diese aus allem heraus. "Das geht bis in die sogenannte 'Unabhängige' Aufarbeitungskommission hinein."

Agnes Wich hat die gestrige Pressekonferenz besucht, fühlte sich dort jedoch nicht willkommen, die Ablehnung habe sie eindeutig gespürt, auch wenn dies nicht ausgesprochen wurde. Den Termin nennt sie "eine professionell inszenierte Werbeveranstaltung mit ausschließlichem Selbstdarstellungscharakter und dazu passendem Hochglanzprospekt". Auch ein Imagefilm wurde gezeigt, während die Kernanliegen Betroffener elegant umgangen worden seien: Neben der Ombudsstelle sind dies nach wie vor Entschädigungszahlungen und die Umsetzung der Forderung nach völlig kirchenunabhängiger Aufarbeitung. "Es war vor Ort schwer auszuhalten", zieht die Betroffene Bilanz. "Ein gewisses Bemühen ist zwar zu erkennen, aber alles, was bisher passiert ist, kam nur durch äußeren Druck von Medienvertretern und Betroffenen zustande. Von alleine bewegt sich die Kirche nicht."

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