Amnesty International World Report

Zur Lage der Menschenrechte im Jahr 2023/2024

Vergangene Woche stellte Amnesty International seinen alljährlichen Lagebericht zur weltweiten Situation der Menschenrechte vor. Auf 418 Seiten, die sich mit 155 Nationen beschäftigen, skizziert die Organisation vier zentrale Gefahren, an denen die Vision universeller Menschenrechte scheitert – eine ungleiche Verteilung der Folgen ökonomischer Krisen zu Ungunsten der vulnerabelsten Gruppen, die schleichende Akzeptanz ziviler Kriegsopfer, zunehmender Widerstand gegen geschlechtsbasierte Antidiskriminierungsgesetzgebung und die Folgen moderner Technologien wie Sozialer Netzwerke und generativer Maschinenlernmodelle.

Die Corona-Pandemie war ein gesundheits- und wirtschaftspolitischer Schock für den gesamten Erdball, doch die ärmsten Nationen wurden davon überproportional hart getroffen, so die Zusammenfassung der NGO. 4,1 Milliarden Menschen erlebten diese Krise in Nationen, in denen von kostenlosen Impfangeboten und anderen medizinischen Dienstleistungen abgesehen keinerlei soziales Sicherungsnetz existierte. Grenzschließungen, Mobilitätseinschränkungen und Jobverluste brachten für diese Menschen in Absenz staatlicher Versorgungsstrukturen hohe Niveaus an Nahrungsmittelunsicherheit mit sich.

Kaum ein Land der Welt kam angesichts der massiven Disruptionen um die Aufnahme außerplanmäßiger Schulden herum. Die Tatsache allerdings, dass die Zinslast der Entwicklungsländer sukzessive ansteigt, bedeutet nicht nur einen Dämpfer für Menschenrechtsprojekte, sondern ein globales makroökonomisches Risiko. 60 Prozent aller Nationen, die von der Weltbank als einkommensschwach definiert werden, laufen Gefahr, Liquiditätsprobleme zu bekommen oder haben bereits solche.

Auch Russlands Invasion der Ukraine ist ein zusätzlicher, nicht unerheblicher Stressor für die weltweite Versorgungssicherheit. Global gesehen haben sich die Nahrungsmittelpreise im Jahr 2023 zwar verringert, verglichen mit der Zeit vor dem russischen Angriffskrieg allerdings befinden sie sich noch immer auf hohem Niveau.

Die Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer

Amnesty International listet über ein Dutzend Nationen auf, in denen Regierungen und bewaffnete Gruppen zivile Opfer wissentlich in Kauf nehmen oder gar systematisch militärisch gegen zivile Ziele vorgehen. So wird in zahlreichen Konflikten Flächenmunition eingesetzt und zivile Infrastruktur angegriffen. Wo Explosivgeschosse aus bewohnten Gebieten abgefeuert werden, geraten unweigerlich Zivilist*innen ins Kreuzfeuer – sei es durch die eigene Munition, die falsch abgeschossen wird, oder durch gegnerische Angriffe auf Munitionslager und Abschussrampen. In Myanmar starben 2023 mehr als 1.000 Zivilist*innen durch das Militär und mit diesem sympathisierenden Milizen. Dem im April 2023 ausgebrochenem Krieg im Sudan fielen bis zum Jahresende mehr als 12.000 Zivilist*innen zum Opfer.

Amnesty nimmt hier multinationale Organisationen, insbesondere den UN-Sicherheitsrat, in die Pflicht: "Multilaterale Organisationen zeigen sich unfähig oder unwillig, auf bewaffnete Kriegsparteien Druck auszuüben, um sie zur Achtung des internationalen Völkerrechts zu zwingen. Während mangelnde Ressourcen einen Grund hierfür darstellen, sind viele Akteure innerhalb dieser Institutionen nicht in der Lage, Mut zu beweisen oder ihre eigenen Prinzipien universell anzuwenden."

Die NGO kritisiert in diesem Zusammenhang die zunehmende Paralyse des UN-Sicherheitsrats, der sich selbst bei Themen, bei denen einstmals Einigkeit bestand, nicht mehr zu einer Entscheidung durchringen kann. So schaffte es die Arbeitsgruppe "Kinder und bewaffneter Konflikt" auch nach mehrjährigen Verhandlungen nicht, auf schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder in Afghanistan, Myanmar, Somalia und Syrien zu reagieren. Auch fließt seit Juli 2023 kaum noch humanitäre Hilfe nach Syrien, weil der Sicherheitsrat die entsprechenden grenzübergreifenden Regelungen nicht reautorisierte.

Gender Justice

Die Fortschritte im Bereich der Frauenrechte, der reproduktiven und der sexuellen Gesundheit, die in den vergangenen Jahrzehnten erzielt wurden, seien in ernster Gefahr, so die Essenz des Berichts. 15 US-Bundesstaaten haben mittlerweile vollständige oder nahezu vollständige Abtreibungsverbote erlassen, was angesichts einer für Industrienationen ohnehin schon exorbitanten Muttersterblichkeitsrate fatal sein dürfte. Die angedrohten Strafen sind so empfindlich und die Ausnahmeregelungen derart vage, dass sich Krankenhäuser und Mediziner*innen nicht mehr trauen, medizinsch eindeutig notwendige Eingriffe durchzuführen. In einzelnen Bundesstaaten machen sich sogar Angehörige, die Schwangere zum Zwecke einer Abtreibung in einen anderen Bundesstaat begleiten oder eine solche Reise organisieren, strafbar.

Informationen zu reproduktiver und sexueller Gesundheit werden überdies immer stärker von Sozialen Netzwerken unterdrückt, moniert Amnesty. Zwar bezieht sich der Report hier nur auf die Vereinigten Staaten, ein jüngst veröffentlichtes Papier von MSI Reproductive Choices und dem Center for Countering Digital Hate allerdings suggeriert ein weltweites Problem mit der Art und Weise, wie die Tech-Giganten Inhalte algorithmisch bewerten und verteilen (der hpd berichtete).

Auch geschlechtsbasierte Gewalt und Femizide sind in weiten Teilen der Welt noch immer an der Tagesordnung. Zwar ist die Tatsache zu begrüßen, dass immer mehr Nationen Gesetze gegen geschlechtsbasierte Diskriminierung und Gewalt verabschieden, doch müssen diesen legislativen Bekenntnissen auch exekutive Taten folgen – was sie aber selten tun, beklagt die NGO.

Die Lage der LGBTI-Community variiert von Nation zu Nation extrem stark. Während der Bericht zahlreiche Beispiele für rechtliche Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung verzeichnet, darunter Selbstbestimmungsgesetze in Finnland, Deutschland und Spanien und eine offenere Ehegesetzgebung in Taiwan und Namibia, verschlechtert sich die Situation für LGBTI in manchen Ländern dramatisch.

So wird "exzessive Homosexualität" in Uganda seit vergangenem Jahr mit der Todesstrafe belegt. Ghana wiederum führte ein Gesetz ein, das das geübte Auge nicht ohne Grund an das "Don't Say Gay"-Gesetz eines gewissen US-Südstaatengouverneurs erinnert. Wladimir Putin erklärte vergangenes Jahr die fiktive "internationale LGBT-Bewegung" zu einer extremistischen Organisation, was nationalen und internationalen Aktivist*innen und Organisationen die Arbeit de facto verunmöglicht. Insgesamt gibt es noch immer 62 Staaten, in denen Homosexuelle strafrechtlich verfolgt werden.

Algorithmen und Menschenrechte

Einer der größten Lichtblicke des Berichts ist die politische Entwicklung im Bereich autonomer Waffentechnologien. Basierend auf der im vergangenen Dezember von der UN-Generalversammlung gefassten Resolution rief das Generalsekretariat die Weltgemeinschaft dazu auf, bis zum Jahr 2026 einen rechtlich bindenden internationalen Vertrag abzuschließen.

Im Moment existiert keinerlei rechtliches Framework, das sich mit der Frage befasst, wer dafür verantwortlich ist, wenn ein Algorithmus den Abzug drückt – das aber ist auf Kriegsschauplätzen bald keine Science-Fiction mehr, sondern greifbare Realität. Die zivile Diskussion um die Frage, wie ein selbstfahrendes Auto mit einem Trolley-Problem umgeht, ist ein Kinderspiel gegen die Frage, wie wir damit umgehen, wenn das Auto in Wirklichkeit eine Drohne mit einer Hellfire-Rakete ist.

Meta, der Mutterkonzern hinter Facebook, steht nach seinem desaströsen Umgang mit dem Genozid an den Rohingya in Myanmar vor einigen Jahren erneut in der Kritik. Amnesty wirft dem Unternehmen vor, auch in Äthiopien nicht adäquat auf Posts, die zu Gewalt aufrufen, reagiert und so Menschenrechtsverletzungen Vorschub geleistet zu haben. Angesichts der Einschätzung der UN-Sonderbeauftragten für Genozidprävention, Alice Wairimu Nderitu, der zufolge ein erhöhtes Genozidrisiko in Teilen Äthiopiens besteht, ist Metas Untätigkeit umso fataler. Wieder einmal macht der Konzern den Eindruck, zugunsten des Umsatz- und Gewinnwachstums schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ignorieren.

Schließlich warnt der Bericht auch vor den mannigfaltigen Risiken, die Maschinenlernsysteme – landläufig und fälschlicherweise als "Künstliche Intelligenz" bezeichnet – in den Bereichen Bildung, Arbeitnehmendenrechte, Privatsphäre und Politik mit sich bringen. Einerseits besteht das reale Risiko einer weiteren Intensivierung des Desinformationstsunamis, der seit einigen Jahren im Netz tobt, weil Inhalte nun vollständig automatisiert erzeugt und verbreitet werden können. Noch nie ließ sich Propaganda einfacher generieren als jetzt, da ein einzelner Mensch an einem Tag so viele Poster, Videos und Pamphlete produzieren kann wie eine ganze Gewerkschaft anno 1910 in einer Dekade.

Andererseits sind die Maschinenlernsysteme gerade in Kombination mit Überwachungstechnologie eine gravierende Gefahr für die Menschenrechte: Konnte man sich früher zumindest halbwegs sicher sein, dass die Gesamtmenge an Daten groß genug ist, um keine auf Einzelpersonen zurückführbaren Erkenntnisse daraus gewinnen zu können, sind Chat-GTP und dessen Artverwandten in der Lage, in wenigen Tagen aus Milliarden von Stunden öffentlicher Videoüberwachung das genaue Bewegungsmuster einer bestimmten Zielperson zu extrahieren. Der Bericht bemängelt in diesem Zusammenhang auch den regen Handel mit europäischer Spionagesoftware wie "Pegasus", die in Dutzenden Nationen dazu eingesetzt würde, Gewerkschafter*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und politische Gegner*innen unrechtmäßig zu überwachen. "Die Tendenz hin zu Überwachungsstaaten bleibt bestehen", so das beunruhigende Fazit der NGO.

Dieser Artikel wurde mit Mitteln aus der Spendenkampagne "75 Jahre Menschenrechte" finanziert. Der hpd dankt allen Spenderinnen und Spendern.

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