Ob Terroranschläge, Naturkatastrophen oder andere Tragödien – warum überlässt Deutschland das kollektive Gedenken immer noch den Religionsvertretern? In einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft drängt sich die Frage auf, ob es nicht Aufgabe des Staates sein muss, säkulare Räume für Trauer und Gedenken zu nutzen.
Noch immer haben wir die Bilder des schrecklichen Attentats auf den Weihnachtsmarkt von Magdeburg vor Augen. Wie bei allen tragischen Ereignissen – sei es der Anschlag auf die jüdische Synagoge von Halle oder die Flutkatastrophe im Ahrtal – ist die Betroffenheit groß. Politiker melden sich zu Wort, bekunden ihr Beileid, bieten Unterstützung an und fordern medienwirksam Konsequenzen für die Zukunft. Gleichzeitig erleben die Kirchen und ihre Bischöfe ihre große Stunde: Sie stellen sich umgehend an die Spitze der Trauenden und Leidgeprüften und prägen die öffentlichen Gedenkfeiern, brav gefolgt von der politischen Spitze des Landes, die sich gemeinsam in den vorderen Reihen der Kirchenbänke versammelt, um den tröstenden Worten der Bischöfe zu lauschen und der Verstorbenen zu gedenken.
Bedingt durch den Klimawandel oder durch terroristische, häufig religiös motivierte Gewalttaten, die Europa seit 20 Jahren erschüttern, wiederholt sich diese Inszenierung immer wieder, kurz nach den erschütternden Ereignissen oder an deren Jahrestagen. Als am 19. Dezember 2016 der islamistische Terror Deutschland erreichte und auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen starben, wurde bereits am Tag nach dem Anschlag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Trauergottesdienst abgehalten. Zahlreiche hochrangige Politiker, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, nahmen an der Veranstaltung teil. Federführend bereiteten den Gottesdienst der katholische Erzbischof Heiner Koch und sein evangelischer Kollege, Bischof Markus Dröge, vor. Dröge betonte, "diese Kirche wird unbeirrt bezeugen, dass die Kraft der Versöhnung stärker ist als der Hass".
Gedenken ohne Angehörige
Doch bei solchen Gedenkveranstaltungen wird oft deutlich, dass es weniger um die Opfer geht, sondern vielmehr darum, die Kirchen als zentrale Orte der kollektiven Trauer zu manifestieren und politische Botschaften zu senden. In Berlin wurde damals Angehörigen, die wussten, dass sie Verwandte am Breitscheidplatz verloren hatten, der Zutritt zur Gedächtniskirche durch den Sicherheitsdienst verwehrt – mit Verweis auf die Anwesenheit der Politiker.
Sechs Wochen nach der Flutkatastrophe, die im Sommer 2021 das Ahrtal in Rheinland-Pfalz und die Nachbarregionen verwüstet und insgesamt 188 Menschenleben gefordert hatte, wurde in der Stadt Aachen offiziell der Toten gedacht – selbstverständlich im Aachener Dom. Und zwar auf Einladung des Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sowie des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Zur Trauerfeier versammelte sich die Staatsspitze, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Ministerpräsidenten Malu Dreyer und Armin Laschet.
Nur 13,8 Prozent Christen in Sachsen-Anhalt
Im Dezember 2024 wiederholte sich dieses Szenario im Magdeburger Dom: Nur einen Tag nach dem Anschlag auf den dortigen Weihnachtsmarkt lauschten – in einem Bundesland mit nur 13,8 Prozent Christenanteil – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz und Ministerpräsident Reiner Haseloff andächtig den Worten des katholischen Bischofs Gerhard Feige und des evangelischen Bischofs Friedrich Kramer. Und am 26. Januar 2025 gedachte die bayerische Politprominenz mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser in der Aschaffenburger Stiftskirche St. Peter und Alexander den Opfern.
Es ist zweifellos wichtig und unverzichtbar, Gedenkfeiern in einem angemessenen Rahmen auszurichten, um der Trauer, der Verzweiflung und der Erschütterung einen Raum zu geben. Die seelischen Traumata sind immens, Zuspruch und ein starker gesellschaftlicher Rückhalt notwendig. Angesichts der Dimension des Unglücks und der schrecklichen Taten ist es sicherlich nicht leicht, die richtigen Worte für das Leid der Angehörigen und Freunde der Opfer zu finden, aber muss das immer unter christlicher Federführung in einer Kirche geschehen? Statt des Aachener Doms hätte man auch den Kaiserplatz oder den Krönungssaal im Aachener Rathaus wählen können, wo alljährlich der Karlspreis vergeben wird.
Blick nach Frankreich
Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass es auch anders geht: Nach den Anschlägen von Paris rund um die Konzerthalle Bataclan (2015) oder nach dem Attentat am Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais in Nizza (2016) wählte man bewusst säkulare Gedenkformen. In Nizza fand die offizielle Trauerfeier nicht in der Cathédrale Sainte-Réparate, sondern unter freiem Himmel vor mehreren Tausenden von Menschen direkt an der Promenade des Anglais statt. In Paris leitete der damalige Staatspräsident François Hollande die Cérémonie d’Hommage im Hof des Invalidendoms. Der "Dôme des Invalides" beherbergt trotz seines Namens nicht nur die Grabstätte Napoléons, sondern es ist ein säkularer Ort, an dem Frankreich normalerweise seine gefallenen Soldaten ehrt.
Deutschland sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Kirchen sind in einer zunehmend säkularen Gesellschaft als Gedenkorte ungeeignet, da sie Menschen, die keiner Glaubensrichtung angehören, ausgrenzen. Es erscheint mehr als fragwürdig, wenn sich die Staatsspitze zu einem Trauergottesdienst versammelt, obwohl anzunehmen ist, dass die wenigsten Getöteten christlichen Glaubens waren. Aus Rücksicht auf Atheisten und Agnostiker sollte die Politik davon Abstand nehmen, allen Opfern mit Bibelversen samt bischöflichem Segen unter einem christlichen Deckmantel zu gedenken. Kaum einer der Hinterbliebenen wird die Kraft haben, sich angesichts eines solchen Schicksalsschlages gegen diese Vereinnahmung öffentlich aufzulehnen. Und wenn, würde der Protest der Angehörigen kaum Gehör finden.
Kollektive christliche Trauergottesdienste sind nicht nur übergriffig, sondern auch respektlos gegenüber den Opfern. Stattdessen ist es die Pflicht des Staates, zentrale Trauerfeiern an öffentlichen, religionsneutralen Orten zu organisieren, die allen Hinterbliebenen die Möglichkeit bieten, würdevoll und ohne ideologische Vorgaben ihr Leid und ihren Schmerz zu teilen. Wer das Bedürfnis nach geistlichem Beistand hat, kann gerne eine Kirche aufsuchen – an einem anderen Tag, in einem separaten Rahmen.
8 Kommentare
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Kommentare
Grhard B. am Permanenter Link
Genau meine Meinung zu dem Thema Religionen, diese mischen sich immer in alle möglichen Dinge des Lebens ein mit ihrem aufdringlichen Geschwätz, das völlig überflüssig
mehr kirchenferne Bürger gibt als Gläubige Christen.
Das einfältige Gerede von Gott und dem ewigen Leben hat keinerlei Substanz mehr und ist nur ein Märchen fernab jeglichen Realität, dass dabei auch atheistische Angehörige der
Opfer ausgegrenzt werden, zeigt deutlich die Ignoranz der Kirchen.
Gerhard Lein am Permanenter Link
Was die Kirchen treiben und Politiker*innen (gerne) zulassen und nutzen ist übergriffig.
Guggemos, Walter am Permanenter Link
Ein Artikel, der sicher nicht nur bei mir sondern bei vielen Agnostiker und Atheisten viel Beifall findet.
Es müsste so etwas wie ein scheckkartengroßese Atheistenkärtchen (Atheistenpass) geben, den man bequem im Geldbeutel mit sich tragen kann und der klar dokumentiert, dass man sich einen Gottesdienst oder eine religiöse Trauerfeier für die eigene Beerdigung verbietet.
Also eine klare Willenserklärung, die über den Tod hinaus wirkt. Und sicher schadet es auch nichts, wenn man diesen Wunsch auch im Testament festhält.
Marianne am Permanenter Link
Ein solches Kärtchen haben wir in der Regionalgruppe Rhein-Neckar m.W. produziert. Bitte gerne mal nachfragen, bestimmt können ein paar Exemplare zu Demozwecken verschickt werden.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Kann ein Politiker eine Trauerrede halten, die von Kritikern nicht als Instrumentalisierung der Ereignisse oder einfach als Wahlkampfrede interpretiert wird? Ich glaube das kaum.
Gerhard B. am Permanenter Link
Nein Sie liegen absolut richtig
SG aus E am Permanenter Link
Sehr bewegend fand ich die Gedenkfeier zum rassistischen Anschlag von Hanau vom 19.02.21 im Kongresszentrum der Stadt.
Christian Heine am Permanenter Link
Danke!!! Dieser Artikel war mehr als überfällig! In anderen Zusammenhängen würde man wohl von einer Art inverser "kultureller Aneignung" sprechen...