Wie Angst zur politischen Methode wurde

Armutsbericht ohne Wirkung

Der gerade vom Bundeskabinett verabschiedete 7. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt deutlich, wie tief die soziale Schieflage inzwischen reicht. Doch statt gegenzusteuern, erzeugt die Politik Unsicherheit und Symboldebatten. Das beschädigt nicht nur den sozialen Rechtsstaat, sondern auch das demokratisch-republikanische Grundverständnis und selbst die europäische Handlungsfähigkeit.

Ein Armutsbericht soll sichtbar machen, wo ein Land steht. Doch was bedeutet es, wenn ein solcher Bericht veröffentlicht wird, ohne dass daraus politisches Handeln folgt? Wenn er erscheint in einem Moment, der mit Fug und Recht als Tiefpunkt der Sozialpolitik gelten kann? Dann wird der Bericht zur Kulisse. Er beschreibt, was längst bekannt ist – und verdeckt zugleich, dass politisch nicht gegengesteuert wird.

Jede fünfte Person in Deutschland lebt inzwischen in Armut oder ist armutsgefährdet – rund 17,3 Millionen Menschen. Und die Gruppe derjenigen, die "gerade noch so" über der Armutsgrenze liegen, ist so groß wie nie zuvor.

Besonders alarmierend:

  • Jeder vierte Haushalt spart am Essen oder Heizen.
  • Knapp 30 Prozent der Familien mit mehreren Kindern gelten als armutsgefährdet.
  • Fast 40 Prozent der Alleinerziehenden leben unterhalb der Armutsgrenze.
  • Die Reallöhne sind über ein Jahrzehnt (2010–2022) faktisch kaum gewachsen, während die Vermögenskonzentration zunahm.

All das ist im neuen Armutsbericht aufgeführt – nur Konsequenzen zieht niemand daraus. Statt Antworten gibt es Symbole. Bürgergeldempfänger werden zu impliziten Problemfiguren erklärt, Geflüchtete zu sicherheitspolitischen Risiken stilisiert. Ein Bericht über Armut wird zum öffentlichen Ritual, während reale Armutsrisiken weiter steigen. Das ist nicht Politik für die Bevölkerung. Es ist eine Politik, die den gesellschaftlichen Konflikt verwaltet, anstatt die Ursachen anzugehen.

Wenn Symbole Politik ersetzen

Seit Jahrzehnten erleben wir eine Tendenz, die Interessen der unteren und mittleren Einkommensschichten zugunsten abstrakter ökonomischer "Sachzwänge" zurückzustellen. Nun kommt etwas hinzu, das die Situation qualitativ verändert: die systematische Erzeugung von Unsicherheit. Wer ohnehin wenig hat, fürchtet den nächsten Bescheid, die nächste Kürzung, den nächsten Preissprung im Supermarkt. Wer zur Mittelschicht gehört, spürt den permanenten Druck des möglichen Abstiegs. Diese Angst ist kein bloßer Nebeneffekt. Sie ist Teil eines Regierungsstils, der Verantwortung entpolitisiert und Belastungen naturalisiert.

Die implizite wie explizite Berufung auf "Sachzwänge" ist dabei das zentrale rhetorische Werkzeug. Man könne nicht anders, heißt es, internationale Märkte ließen keinen Spielraum. Doch ökonomische Strukturen sind nicht naturgegeben. Preise, Löhne, Sozialleistungen – all das ist gestaltbar. Wer "Sachzwänge" behauptet, verschiebt Verantwortung aus dem politischen Raum in ein quasi-naturgesetzliches Vakuum. Das Ergebnis ist eine Politik, die sich selbst entmächtigt, während sie den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck vermittelt, ihre Lage sei alternativlos.

Die Angst als Regierungsstil

Für viele Menschen ist Angst mittlerweile ein alltägliches Grundgefühl.

Die Bertelsmann-Stiftung zeigt: Fast 60 Prozent der Haushalte blicken mit "großer Sorge" auf ihre wirtschaftliche Zukunft.

Das Institut der deutschen Wirtschaft bestätigt: Die Mittelschicht schrumpft seit Jahren, während die Zahl der Niedrigeinkommenshaushalte wächst.

Politik müsste diese Sorgen ernst nehmen. Stattdessen wird Angst politisch funktionalisiert:

  • als Steuerungsinstrument ("Wir können nicht mehr ausgeben"),
  • als Transparenzersatz ("Die Lage ist alternativlos"),
  • als Erzählung ("Wir müssen sparen, sonst gefährden wir die Stabilität").

Statt Vertrauen zu schaffen, regiert die Methode "Alternativlosigkeit". Doch ein Staat, der Angst verwaltet, statt Sicherheit zu schaffen, untergräbt seine eigene Legitimität.

Die Daten sprechen eine klare Sprache:

  • Die AfD erzielt in Regionen mit hohen Armutsquoten bis zu doppelt so viele Stimmen.
  • Unzufriedenheit mit der Regierung korreliert stark mit Preissteigerungen.
  • Politikverdrossenheit steigt besonders in Haushalten mit unsicherem Einkommen.

Die AfD lebt nicht von Lösungen, sondern von der Lücke, die Politik hinterlässt. Es ist ein Paradox: Je mehr die demokratischen Parteien Angst verwalten, desto größer wird der politische Raum für diejenigen, die diese Angst ausbeuten.

Die unterschätzte Krise: Der Verlust des republikanischen Selbstverständnisses

Damit wird eine zweite Krise sichtbar – eine republikanische. Je stärker sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht, desto deutlicher tritt eine technokratische Logik hervor: Verwaltung des Mangels statt Gestaltung des Gemeinwohls. Politik wird reduziert auf Symbolhandlungen und Ankündigungen. Wer aber Gemeinwohl nur noch in Kennziffern misst, verliert den Kontakt zu den Menschen, für die dieses Gemeinwohl gedacht ist.

Die Folgen sind absehbar. Wer dauerhaft verzichten muss, verliert Vertrauen. Wer Angst hat, sucht Orientierung. Und wer diese Orientierung im demokratischen Spektrum nicht findet, wendet sich ab – oder radikalisiert sich. Die AfD profitiert nicht, weil sie Lösungen hätte, sondern weil die demokratische Politik ihr die Angstkampagnen nicht aus der Hand nimmt. Die politische Mitte verliert, weil sie das Feld der sozialen Gerechtigkeit den Populisten überlässt – obwohl die gar keine Lösungen vorzuweisen haben.

Die europäische Dimension einer inneren Krise

Diese Entwicklung bleibt nicht auf Deutschland beschränkt. Die USA werden sich stärker auf ihre innenpolitischen Konflikte konzentrieren, Europa wird sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich mehr Eigenverantwortung übernehmen müssen. Doch europäische Handlungsfähigkeit setzt innenpolitische Stabilität voraus. Eine Politik, die ihre eigene Bevölkerung unter permanenten Druck setzt, gefährdet nicht nur das Vertrauen in den Staat, sondern auch die Funktionsfähigkeit des europäischen Projekts. Denn Europa lebt von Solidarität – innerhalb und zwischen Staaten. Wer aber im eigenen Land die soziale Bindung schwächt, schwächt am Ende auch Europas politische Bindekraft.

Symbolpolitik gegen Bürgergeldempfänger oder Geflüchtete mag kurzfristige Wirkung erzeugen, doch langfristig zerstört sie Vertrauen, demokratische Stabilität und außenpolitische Handlungsfähigkeit. Die Erosion des sozialen Rechtsstaats ist kein rein nationales Problem. Sie ist ein Risiko für Europa als Ganzes.

Was ein erneuerter sozialer Rechtsstaat leisten müsste

Was nötig wäre, ist schlicht das, was die Bundesrepublik lange ausgezeichnet hat: die Orientierung am Gemeinwohl. Ein Staat, der Verantwortung übernimmt, statt Angst zu verwalten. Eine Politik, die sozialen Ausgleich nicht als Kostenfaktor betrachtet, sondern als Voraussetzung demokratischer Stabilität. Dazu braucht es Mut: die Bereitschaft, die technokratische Alternativlosigkeitsrhetorik zu verlassen, und den politischen Willen, das Soziale wieder zum Kern des demokratischen Auftrags zu machen.

Nur eine Politik, die den Menschen Sicherheit gibt, kann die Angst entwaffnen. Nur ein erneuerter sozialer Rechtsstaat kann die Demokratie stabilisieren. Und nur ein stabiles demokratisches Fundament kann Europa tragen.

Zentrale Daten zur sozialen Lage in Deutschland
Quellen: Destatis, BMAS, WSI, OECD, Eurostat

Armuts- und Einkommenslage

  • 17,3 Mio. Menschen in Deutschland gelten als arm oder armutsgefährdet (≈20,5 Prozent der Bevölkerung).
  • Alleinerziehende: rund 40 Prozent leben unter der Armutsgrenze.
  • Familien mit drei oder mehr Kindern: fast 30 Prozent armutsgefährdet.
  • Reallöhne: zwischen 2010 und 2022 nur minimal gewachsen; 2021/22 inflationsbereinigt negativ.
  • Niedriglohnsektor: betrifft weiterhin rund 20 Prozent aller Beschäftigten – einer der höchsten Werte Westeuropas.

Lebenshaltungskosten

  • Lebensmittelpreise: +≈25 Prozent seit 2021.
  • Energie-/Heizkosten: zeitweise +40 Prozent.
  • Wohnen: Mieten in Ballungsräumen seit 2015 um 30–50 Prozent gestiegen.

Vermögen und Ungleichheit

  • Vermögensverteilung: Die reichsten 10 Prozent besitzen > 60 Prozent des Nettovermögens.
  • Untere 50 Prozent besitzen zusammen nur knapp 1 Prozent der Vermögen.
  • Deutschland hat eine der höchsten Vermögensungleichheiten in der OECD.

Unsicherheit und Abstiegsangst

  • 60 Prozent der Haushalte blicken mit "großer Sorge" auf ihre wirtschaftliche Zukunft (Bertelsmann).
  • Die Mittelschicht schrumpft seit Jahren; Risiko des sozialen Abstiegs steigt.

Politische Folgen

  • In Regionen mit hoher Armutsquote erzielt die AfD bis zu doppelt so hohe Stimmanteile wie im Bundesdurchschnitt.
  • Preissteigerungen korrelieren messbar mit wachsender Unzufriedenheit mit Regierung und Demokratie.

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