Kommentar von Michael Schmidt-Salomon

"Wir müssen aus dem Wahlerfolg der AfD die richtigen Schlüsse ziehen"

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Die AfD wird mit 12,6 Prozent der Stimmen als drittgrößte Fraktion in den Deutschen Bundestag einziehen. Dies ist erschreckend, aber beileibe kein Weltuntergang. Statt in Hysterie auszubrechen, wäre es angebracht, aus dem Wahlerfolg der AfD die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.

Eine streng konservative, christlich-nationale Partei wie die AfD, die den Schwangerschaftsabbruch verbieten will und auf die "Leistungen der deutschen Soldaten  im 2. Weltkrieg" stolz ist (AfD-Spitzenkandidat Gauland), hätte in Deutschland normalerweise kein Wählerpotential von über 10 Prozent, ja, eigentlich müsste sie damit rechnen, an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern. Dass es dazu nicht gekommen ist, hat Ursachen, die auf der Hand liegen, aber in der politischen Debatte nicht hinreichend diskutiert werden. 

Einer der entscheidenden, aber kaum thematisierten Gründe für den Erfolg der AfD lässt sich aus zwei Umfrageergebnissen ableiten, die infratest dimap am Wahlabend veröffentlicht hat. Das erste Ergebnis besagt, dass 60 Prozent  der AfD-Wähler für ihre Partei stimmten, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind – nicht, weil sie vom Wahl-Programm der AfD überzeugt waren. Das zweite Umfrageergebnis ist nicht weniger aufschlussreich: 92 Prozent der AfD-Wähler zeigten sich besorgt darüber, dass der Einfluss des Islam in Deutschland größer werde, ganze 99 Prozent der AfD-Wähler schätzen es besonders an ihrer Partei, dass sie diesen Einfluss zurückdrängen will. 

Die Angst vor dem politischen Islam

Man kann an diesen Ergebnissen erkennen, dass der Erfolg der AfD nicht zuletzt eine Quittung dafür ist, dass alle anderen Parteien die notwendige Debatte über den politischen Islam nicht hinreichend geführt, schlimmer noch: die Debatte den Rechtspopulisten überlassen haben. Die AfD-Strategen haben diese Lücke geschickt genutzt. Nicht ohne Grund trug ihre wohl wichtigste Broschüre im Wahlkampf den Titel "Der Islam gehört nicht zu Deutschland". In diesem Zusammenhang muss man den etablierten Parteien vorwerfen, dass sie durch die Bagatellisierung des Themas "politischer Islam" sowie die schnelle Gleichsetzung jeglicher Form von Islamkritik mit "Rassismus" oder "Faschismus" erst den Nährboden für die AfD geschaffen haben, die viele Wählerinnen und Wähler an sich binden konnte, obgleich diese mit den sonstigen Zielen der Partei wenig anfangen können.  

Dies gilt insbesondere für Menschen im Osten, die nicht nur mit dem Islam, sondern mit Religionen im Allgemeinen nicht viel anfangen können – und die nun tragischerweise mit der christlich-patriotisch argumentierenden AfD den Bock zum Gärtner gemacht haben. Es gilt aber auch für viele gut integrierte, säkular denkende Migrantinnen und Migranten aus islamischen Ländern, die die AfD gewählt haben, weil aus ihrer Sicht alle anderen Parteien blind sind gegenüber den massiven Bedrohungen der Freiheit, die vom politischen Islam ausgehen. 

Letztlich ist mit dem Wahlerfolg der AfD genau das eingetreten, was ich vor eineinhalb Jahren in meinem Buch "Die Grenzen der Toleranz" prophezeit habe: "Wer etwas so Offenkundiges wie die Realität des politischen Islam leugnet, wer wider alle Vernunft den Zusammenhang von Islam und Islamismus bestreitet, wer meint, man müsse bloß Terroristen bekämpfen, nicht aber die Ideologien, die sie zum Terror motivieren, der treibt die Wählerinnen und Wähler geradewegs in die Arme von Politikern, die ihre antiaufklärerischen Ziele unter dem Deckmantel einer "aufgeklärten Islamkritik" wunderbar verbergen können." (Die Grenzen der Toleranz – Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen, Piper 2016, S. 60)

Die Internationale der Nationalisten

Die AfD ist Teil eines internationalen Netzwerks, das Steve Bannon, der einstige Chef-Stratege von Donald Trump, einmal als "globale Tea Party-Bewegung" bezeichnet hat. Wesentliches Element dieser politischen Bewegung ist eine massiv forcierte Identitätspolitik, die religiös-patriotische Werte zur Abgrenzung der eigenen Gruppe gegenüber "den Anderen" nutzt. Der sozialpsychologische Mechanismus, der dahinter steckt, ist leicht zu durchschauen: Wenn Menschen aufgrund einer verfehlten Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik den Eindruck haben, als Individuen nicht mehr wahrgenommen zu werden, neigen sie dazu, sich als Mitglieder einer Gruppe zu definieren. Gibt man ihnen dazu dann auch noch das passende Feindbild, etwa "die Muslime", kann man aus solchen Ängsten leicht politisches Kapital schlagen.

Steve Bannon hat im Jahr 2014, als er die "globale Tea Party-Bewegung" bei einer Konferenz im Vatikan (!) skizzierte, diese Bewegung nicht nur in christlichen Ländern verortet, sondern auch in Indien, wo mit der radikal-hinduistischen "Bharatiya Janata Party", die die Angst vor "den Muslimen" ebenfalls kräftig schürt,  die größte rechtspopulistische Partei der Welt an der Macht ist. Hätte Bannon ein Stückchen weiter geschaut, hätte er einräumen müssen, dass die religiös-nationalistische Strategie, die er 2016 im US-Wahlkampf umsetzte, jenseits des weltanschaulichen Grabens, nämlich in der islamischen Welt, längst angewandt wird. Im Grunde wäre der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein leuchtender Repräsentant der "globalen Tea Party-Bewegung" – würde er nicht das falsche Land und die falsche Religion vertreten.

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren eine weltumspannende "Internationale der Nationalisten" gebildet, die in den einzelnen Ländern mit unterschiedlichen konfessionellen Schwerpunkten auftritt: katholisch in Polen, Ungarn und Frankreich; protestantisch in den USA, in England und der Schweiz; orthodox in Russland, Griechenland und Serbien; sunnitisch in der Türkei, in Ägypten und Saudi-Arabien; schiitisch im Iran, im Irak und in Syrien. In vielen dieser Länder sind religiös-nationalistische Identitätspolitiker an der Macht. In Deutschland sieht dies erfreulicherweise noch immer deutlich anders aus: Obgleich die AfD nahezu die gleiche Strategie anwandte, die Bannon und Trump nutzten, um die Präsidentschaftswahl in den USA zu gewinnen, konnten die Rechtspopulisten in Deutschland nicht einmal 13 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler blieben davon gänzlich unbeeindruckt.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Nicht weniger erfreulich ist, dass laut infratest dimap mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent der AfD-Wähler an ihrer eigenen Partei kritisierten, sie distanziere "sich nicht genug von rechtsextremen Positionen". Das bedeutet: Würden die anderen politischen Parteien ihre Hausaufgaben besser erledigen (wie gesagt, 60 Prozent der AfD-Wähler waren nicht vom Wahlprogramm überzeugt!), ließe sich der Stimmenanteil der AfD leicht auf weniger als die Hälfte des jetzigen Wahlergebnisses reduzieren. Übrig bleibe dann nur noch der harte Kern derer, die wirklich für streng konservative, christlich-patriotische Werte einstehen, Menschen etwa wie  Alexander Gauland oder Beatrix von Storch, die sich von der CDU unter der Führung von Angela Merkel nicht mehr vertreten fühlen.

Letztlich ist auch dies eine erfreuliche Nachricht, zeigt sie doch an, wie sehr sich die Christdemokraten in den letzten Jahren und Jahrzehnten weiterentwickelt haben: Denn offenkundig existiert die AfD (gemeint ist hier deren harter Kern, der vielleicht 5 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen könnte) nur deshalb, weil die Prinzipien der Weltoffenheit mittlerweile auch in der CDU (in abgeschwächter Form sogar in der CSU!) angekommen sind und einige ihrer führenden Repräsentantinnen und Repräsentanten heute Positionen vertreten, die vor 25 Jahren selbst die progressivsten Sozialdemokraten kaum öffentlich geäußert hätten.  

Es ist zu hoffen, dass die politisch Verantwortlichen aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlüsse ziehen. So wäre es ein fataler Fehler, würde die CDU/CSU angesichts des Wahlergebnisses eine Rolle rückwärts machen und die "rechte Flanke" schließen, wie es Horst Seehofer vorschlägt. Denn erstens würde dies mit noch höheren Stimmverlusten bestraft werden (nicht ohne Grund musste die konservativere CSU größere Wählereinbußen hinnehmen als ihre weltoffenere Schwesterpartei). Zweitens würde eine solche "Rolle rückwärts" gesellschaftspolitisch schweren Schaden anrichten. Denn eine Partei, die sich als "Volkspartei" begreift, sollte nicht den Vorstellungen einer kleinen Minderheit folgen, die der gesellschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte hinterherhinkt.  

Die stramm auf christlich-patriotische Werte ausgerichtete CDU/CSU der 50er und 60er Jahre ist längst Vergangenheit – und nur sehr wenige Wählerinnen und Wähler wünschen sich diese Zeit zurück! Diejenigen allerdings, die dies tun, sollten im Parlament als eigenständige politische Kraft erkennbar sein. Dies mag unangenehm sein, ist aber besser, als wenn sie von innen her den Kurs einer Regierungspartei bestimmen. Klar ist doch: Wer die sozialen, ökologischen, ökonomischen und kulturellen Herausforderungen der Gegenwart meistern will, muss nach zukunftsfähigen Lösungen suchen – und das Allerdümmste, was man in diesem Zusammenhang tun könnte, wäre es, sich ausgerechnet an jenen zu orientieren, die wie Alexander Gauland mit den beschleunigten Veränderungszyklen der globalisierten Welt nicht Schritt halten können und sich aus diesem Gefühl der Überforderung heraus in die "gute alte Zeit" zurückwünschen. 

Ewiggestrige wie Gauland sind nicht in der Lage, zukunftsfähige Politik zu machen. Ganze 87 Prozent der Deutschen haben dies erkannt – und wenn die etablierten Parteien es nicht verbocken, werden es bei der nächsten Wahl noch einige Prozentpunkte mehr sein. Insofern war der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl keine Tragödie, sondern vielmehr eine Chance für die etablierten Parteien, die endlich erkennen sollten, dass sie sehr viel mehr noch tun könnten, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.