POLEN. (hpd) Bemerkenswertes in Polen aus säkularer Sicht (Juli 2013). Der Streit um die Zulassung des Fachs Religion zum Abitur, ein Gesetzentwurf zur Wahl des Geschlechts sowie die Diskussion eines Internetfilters gegen pornographische Inhalte.
Religion bald als Abiturfach zugelassen?
Schon seit Jahren herrscht in Polen ein Streit um den Religionsunterricht - unter anderem Vertreter der linkliberalen Palikot-Bewegung (RP) sind der Ansicht, dass der durch Geistliche geführte Unterricht in Schulen eine sehr große Belastung für den Staatshaushalt darstelle und als Indoktrination von Jugendlichen in staatlichen Schulen angesehen werden kann. Der Streit geht jedoch weiter; rechtskonservative Kreise fordern schon seit Jahren die Zulassung von Religion als Abiturfach.
Im polnischen Parlament treten die rechtsklerikalen Parteien Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Solidarisches Polen (SP) für Religion im Abitur ein. Dazu haben Abgeordnete der Parteien im Juli eine Sitzung des parlamentarischen Ausschusses für Bildung einberufen. Die Abgeordneten argumentieren, das Fehlen von Religion im Abitur würde Schüler diskriminieren, die nach dem Abitur Theologie studieren wollen. Laut Vize-Bildungsministerin Joanna Berdzik ist jedoch der Religionsunterricht die alleinige Domäne der Kirche, der Staat habe sich da raus zu halten – so werde es in der polnischen Verfassung und im Konkordat geregelt. Somit dürften nur Fächer zum Abitur zugelassen werden, die im Verantwortungsbereich des Ministeriums liegen.
Rechtsklerikale Abgeordnete erwidern, die Diskriminierung mache Schüler, die nach dem Abitur Theologie studieren wollen, zu Menschen zweiter Klasse. Darüber hinaus werde zurzeit auch die Note aus dem Religionsunterricht in die Zeugnisdurchschnittsnote eingerechnet. Auf dieser Grundlage könnte dann die Prüfung aus dem Fach Religion in die Abiturnote einfließen. Linke Politiker hingegen sehen die Andersartigkeit des Faches Religion, in dem es gerade um den Glauben und nicht um Wissen oder Wissenschaft gehe. Daher beschäftige man sich hierbei nicht objektiv mit einem Bereich, sondern ist auf Überzeugungen gerichtet, im Gegensatz zu beispielsweise naturwissenschaftlichen Fächern.
Unter den gegebenen Machtverhältnissen im Sejm – tonangebend ist eine Koalition aus rechtsliberaler Bürgerplattform (PO) und konservativer Bauernpartei (PSL) – ist vor den nächsten Parlamentswahlen nicht mit der Einführung des Religionsunterrichts in das Abitur zu rechnen. Reguläre Neuwahlen sind für 2015 angesetzt. Ändern sich dann die Machtverhältnisse zugunsten einer rechtsklerikalen Mehrheit, so könnte das Thema wieder auf die Agenda kommen und eine Neuregelung durchgesetzt werden.
(Quelle 1), (Quelle 2), (Quelle 3), (Quelle 4), (Quelle 5) und (Quelle 6). (Alle Polnisch)
Gesetzesentwurf zur Wahl des Geschlechts nicht zugelassen
Ende Juli sollte ein Gesetzesentwurf in die erste Lesung des polnischen Parlaments gehen – die Bestimmung sowie Änderung des Geschlechts ist Gegenstand des Entwurfs. Autorin ist Anna Grodzka (Palikot-Bewegung, RP), die erste Abgeordnete nach einer Geschlechtsumwandlung.
Mit dem neuen Gesetz dürften Jugendliche mit dem 16. Lebensjahr eine Geschlechtsumwandlung vor Gericht erwirken können. Dem zugrundliegen müssten Gutachten von zwei Ärzten oder einem Arzt und einem Psychologen; diese müssen feststellen, dass das innere Geschlecht nicht mit dem äußeren übereinstimmt. Jugendliche unter 16 Jahren müssten eine Einwilligung der Eltern beibringen. Mit dem Gesetz könnte auch eine Änderung des Geschlechts vor Gericht erwirkt werden, wenn zum Beispiel keine Hormontherapie oder chirurgische Geschlechtsänderung durchgeführt wird.
Ein weiterer Aspekt des Gesetzesentwurfs ist die Neuregelung in Bezug auf intersexuelle Säuglinge, also Kinder, die mit zwei Geschlechtern geboren wurden. Zurzeit werden besagte Säuglinge nach Untersuchungen und in Absprache mit den Eltern operiert, so dass sie nur noch ein Geschlecht haben. Nach dem Entwurf würde es verboten werden, das Kind bis zum 13. Lebensjahr zu operieren. Danach sollte es selbst entscheiden dürfen, welches Geschlecht es annehmen möchte.
Dem entgegen stellten sich rechtklerikale Kreise, die in dem Gesetzesentwurf die Indoktrination der Gesellschaft mit der „Ideologie Gender“ sehen. Demnach sei der Entwurf gegen die polnische Verfassung, die die Neutralität des Staates in weltanschaulichen Angelegenheiten festschreibe. Auch sei der Entwurf widersprüchlich, da er zum einen den pathologischen Zustand feststelle, in dem sich Transvestiten und Transsexuelle befänden. Und zum anderen fordere, dass auf Basis eines subjektiven Empfindens in einem pathologischen Zustand Änderungen des Geschlechts durchgeführt werden.
Der Gesetzesentwurf scheint derart große Empörung ausgelöst zu haben, dass er von der Präsidentin des Parlaments Ewa Kopacz nach einer Besprechung mit dem Ältestenrat nicht zur ersten Lesung zugelassen wurde. Konkrete Gründe dafür wurden nicht genannt.
(Quelle 1), (Quelle 2), (Quelle 3), (Quelle 4), (Quelle 5) und (Quelle 6). (Alle Polnisch)
Internetzensur: Prüdes Polen?
Auslöser der Debatte in der polnischen Gesellschaft und innerhalb der Regierung waren Äußerungen des britischen Premierministers David Cameron bezüglich Internetpornographie. So soll ab 2014 in Großbritannien ein Internetfilter greifen, der unter anderem pornographisches Material nicht zugänglich macht. Erst nach einer Änderung des Filters durch den Nutzer sollen solche Inhalte wieder zugänglich gemacht werden.
Dem entsprechend forderte im Juli Justizminister Marek Biernacki ein Nachdenken über eine Übertragung der britischen Lösung nach Polen. Biernacki begründete das mit dem Schutz der Kinder und Jugendlichen; Einzelheiten in Bezug auf einen polnischen Filter nannte er jedoch nicht. Gegner einer Beschränkung der Inhalte im Internet sehen darin eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die letztendlich weit über Pornographie hinausgehen könnte. Des Weiteren könnten Filtereinstellungen relativ schnell geändert werden, damit entziehe sich das System der öffentlichen Kontrolle.
Auch innerhalb der Regierung sind Bernackis Vorschläge umstritten – der Minister für Öffentliche Verwaltung und Digitalisierung, Michal Boni, äußerte rechtliche Bedenken. Darüber hinaus werde laut Boni die Meinungs- und Informationsfreiheit durch eine solche Lösung eingeschränkt. Ferner sollten effektivere Methoden für die Verfolgung von illegalen Inhalten im Internet gefunden werden, die jedoch nicht Tür und Tor für eine Überwachung der Bevölkerung öffnen.
Letztendlich schaltete sich Premierminister Donald Tusk in die Debatte ein und kündigte an, es werde keine Blockade des Internets geben. Legale Inhalte sollen auch in Zukunft für alle zugänglich sein, sogar wenn diese ästhetischen oder ethischen Vorstellungen nicht entsprechen würden.
(Quelle 1), (Quelle 2), (Quelle 3), (Quelle 4) (bis hierher Polnisch) und (Quelle 5). (Deutsch)
Lukas Plewnia
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