Singer-Interview in der Neuen Zürcher Zeitung sorgt für Irritationen

Schmidt-Salomon sagt Laudatio für Peter Singer ab

Kein Solidaritätsbruch mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft

Schmidt-Salomon erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Interview, das er bereits vor eineinhalb Wochen dem Humanistischen Pressedienst gegeben hat. Schon in diesem Interview hatte er angemerkt, dass es doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten „effektiven Altruismus“ sein könne, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten. Es sei geradezu absurd, das eine gegen das andere auszuspielen, da die Hilfsgelder nicht aus demselben Topf stammen würden und die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.

Seine im selben hpd-Interview aufgestellte Behauptung, Peter Singers Position sei nicht „behindertenfeindlich“, sondern sogar „behindertenfreundlich“, müsse er nach der Lektüre des NZZ-Interviews leider revidieren, sagte Schmidt-Salomon. Denn Singer habe seine Argumente offenkundig so stark zugespitzt, dass sie sich tatsächlich zum Nachteil von Behinderten auswirken könnten: „Indem Peter Singer dazu aufruft, die notwendigen Ressourcen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt ausgerechnet aus den spärlichen Mitteln zur Unterstützung von alten, kranken und behinderten Menschen zu schöpfen, legitimiert er einen Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Unterfüttert wird dies noch mit einer unzulässigen Negativbewertung der Lebensqualität kranker und behinderter Menschen. Früher nahm ich wohlwollend an, dass sich Peter Singer in diesem Zusammenhang auf einige wenige Extremfälle bezieht. Doch wenn er offenbar selbst die Lebensqualität von Menschen mit Down-Syndrom anzweifelt und in der NZZ meint, dass diese nur ‚ziemlich glücklich‘ sein könnten (die Erfahrung lehrt jedoch, dass sie im Durchschnitt fröhlicher sind als Menschen ohne Trisomie 21!), kann ich ihn auch in dieser Hinsicht nicht mehr verteidigen. Früher orientierte ich mit an der guten, alten hermeneutischen Regel ‚im Zweifel für den Autor‘, aber mittlerweile sind meine Zweifel am Zweifel so sehr gewachsen, dass ich Singers diesbezügliche Positionen selbst bei wohlwollendster Betrachtung nicht mehr mittragen kann.“

Zur Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs

Nicht revidiert hat Schmidt-Salomon seine Kritik an jenen Linken, die Peter Singer für seine Unterscheidung von personalem und nicht-personalem Leben angegriffen haben: „Wer davon ausgeht, dass eine Frau das Recht haben sollte, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, kann auf diese Differenzierung gar nicht verzichten! Zwar meinen einige Linke offenbar, dass für die Legitimierung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs der Slogan ‚Mein Bauch gehört mir!‘ ausreichen würde, aber das ist definitiv nicht wahr. Denn wäre der Embryo/Fötus tatsächlich eine eigenständige Rechtsperson, so besäße er ein unverbrüchliches Recht auf Leben wie jeder andere Mensch. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass sich diese Rechtsperson im Körper einer anderen Rechtsperson befindet. ‚Mein Bauch gehört mir!‘ kann man also nur dann mit einigem Recht sagen, wenn man davon ausgeht, dass sich in diesem Bauch keine andere Person befindet, die einen eigenen Rechtsanspruch auf Leben besitzt. Dies jedoch ist rechtsphilosophisch nur durch das Singersche Argument zu begründen, dass den personalen Interessen der Mutter in der ethischen Güterabwägung sehr viel größeres Gewicht zukommt als den nichtpersonalen „Interessen“ des Embryos/Fötus (was natürlich insbesondere auf die frühen Entwicklungsstufen zutrifft, in denen Embryonen über keinerlei Empfindungsfähigkeit und somit auch über keinerlei Interessen verfügen, die ethisch berücksichtigt werden könnten).“

Aufruf zu einer rationalen Debatte

Schmidt-Salomon gab an, dass er es sehr bedauerte, die Teilnahme an der Preisverleihung in der Urania Berlin so kurzfristig absagen zu müssen, denn zum einen sei die Minderung des Tierleids ein wichtiges Ziel einer zeitgemäßen Ethik, zum anderen habe er in seiner eigenen Entwicklung als Philosoph Peter Singers Werken viel zu verdanken: „Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder dafür eingesetzt, Peter Singer gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen. Sein gestriges Interview in der Neuen Zürcher Zeitung hat nun jedoch Differenzen aufgezeigt, die sehr viel größer sind, als ich es angenommen hatte. Gerade weil die Fragen der Interviewerin so offensiv waren, bot dieses Gespräch eine wunderbare Gelegenheit, um alten, kranken, behinderten, hilfsbedürftigen Menschen (und ihren Unterstützern) hier in Deutschland zu verdeutlichen, dass eine wohlverstandene utilitaristische Philosophie nicht darauf hinausläuft, ihre Lebensbedingungen zu verschlechtern. Stattdessen aber hat dieses Interview Anlass zu noch größerer Sorge gegeben. Ich hoffe noch immer, dass die verstörenden Aussagen in dem NZZ-Gespräch auf Sprachprobleme oder einen ungeschickten Umgang mit den Medien zurückzuführen sind, kann aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass Peter die Dinge tatsächlich so meint, wie er sie dort zum Ausdruck gebracht hat. Solange diese Punkte nicht geklärt sind, sehe ich mich außerstande, eine Laudatio auf Peter Singer zu halten, so gerne ich dies im Hinblick auf seine herausragende Bedeutung als Philosoph auch getan hätte.“

Schmidt-Salomon verband seine Absage an die Veranstalter mit einer Bitte an die Anti-Singer-Protestler: „Bitte protestieren Sie friedlich und überziehen Sie Peter Singer nicht mit Nazivergleichen, die in seinem Fall nicht nur völlig unangebracht, sondern auch absolut geschmacklos sind! Es gibt in der Tat nur sehr wenige Menschen auf diesem Planeten, die sich so redlich und erfolgreich wie Peter Singer darum bemüht haben, dem großen Ideal der Ethik zu folgen, das Leid zu vermindern und die Freude zu vermehren. Ich fürchte, dass er dabei mittlerweile falsche Wege eingeschlagen hat, aber das ist beileibe kein Grund, eine Hexenjagd auf ihn zu veranstalten!“

Der gbs-Vorstandssprecher erinnerte in diesem Zusammenhang an einen Vorschlag, den die Giordano-Bruno-Stiftung bereits vor vier Jahren im Zuge der damaligen Singer-Debatten unterbreitet hatte: „Wir haben damals eine Konferenz vorgeschlagen, auf der Behinderte und Nichtbehinderte, Singer-Kritiker und -Befürworter, Philosophen, Biologen, Soziologen, Heilpädagogen, Politiker und interessierte Laien miteinander über die drängenden Fragen der Bioethik diskutieren. Die Vorkommnisse der letzten Wochen haben, wie ich meine, deutlich gezeigt, dass eine solche Konferenz noch immer dringend erforderlich wäre.“