Kommentar

Dem russischen Diktator Einhalt gebieten

putin_wiki.jpeg

Wladimir Putin mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu (2013).
Wladimir Putin mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu

Putin führt einen Angriffskrieg auf europäischem Boden. Das enorme Leid, das neben den Soldat:innen insbesondere auch die Zivilbevölkerung erfährt, ist kaum in Worte zu fassen. Und auch außerhalb der Ukraine sind die einschneidenden Konsequenzen bereits absehbar. Damit ein russischer Sieg trotz arglistiger Strategien weiterhin aussichtslos bleibt und eine weitere globale Katastrophe abgewendet werden kann, sind einige elementare Einsichten und besonnene Handlungen notwendig, kommentiert Constantin Huber.

Die Ukraine ist nicht zuletzt aufgrund der riesigen und ertragreichen Schwarzerde-Ackerböden die Kornkammer Europas. Wenn diese Quelle durch Putins Krieg versiegt, spüren wir das aber nicht nur bei uns, etwa durch erhöhte Preise auf Produkte wie Mehl, Brot und Pasta. Insbesondere in den Ländern Nordafrikas und der Sahelzone, die durch Klimawandel, Covid, Terror und Korruption ohnehin bereits stark gebeutelt sind, stehen aktuell viele Millionen Menschen am Rande des Hungers. Durch den Krieg auf europäischem Boden sind diese auf eine weitere Art existentiell bedroht. So sehr, dass selbst die bislang noch nicht aus ihrer Heimat Vertriebenen zu Flüchtlingen werden könnten. Während die Menschen in West- und Nordeuropa in der Regel mit ein paar Cent mehr für Lebensmittel leben können, sieht das in vielen Regionen der Welt ganz anders aus. Das trifft vor allem auf jene Länder zu, in denen das Einkommen der Menschen fast gänzlich für Nahrung ausgegeben wird. "Wir müssen alles tun, um einen Hurrikan des Hungers und einen Zusammenbruch des globalen Ernährungssystems abzuwenden", mahnte in diesem Zusammenhang UN-Generalsekretär António Guterres an.

Leider ist anzunehmen, dass selbst Flüchtlingsbewegungen abseits der Ukraine zum strategischen Kalkül des russischen Diktators gehören. Denn wenn weitere Millionen Menschen gen Europa vor dem Hungertod fliehen, so die perfide Hoffnung, würden die demokratischen Staaten destabilisiert und Rechtsextremist:innen sowie (prorussische) Querdenker:innen gestärkt. Um die Hintergründe dieser Machenschaften korrekt einschätzen zu können, muss die grundlegende Intention stets bedacht werden: Letztlich ist der Krieg, den Putin völlig ohne Not und Provokation durch "den Westen" oder die NATO begann, nur der pervertierte Ausdruck des Hasses gegenüber der Demokratie und ihren freien Gesellschaften. Dem müssen wir mit allen Mitteln, die keinen dritten Weltkrieg oder Atomschlag zur Folge haben, entgegentreten. Noch immer gibt es jedoch Unternehmen, die sich an den Sanktionen nicht beteiligen und diese sogar aktiv untergraben. Während etwa die Entscheidung von Pharmakonzernen noch nachvollziehbar ist, da sie die Gesundheitsversorgung der russischen Bevölkerung nicht vernachlässigen möchten, sind die Begründungen anderer Unternehmen eher fragwürdiger Natur. Der Drang nach Profit darf in diesem Konflikt nicht die Sanktionen abmildern, wenn diese wie geplant wirken sollen. Dass der freie Markt auch hier mal wieder versagt, muss jedoch nicht kritiklos hingenommen werden. Es liegt an uns, hier ein einheitliches und entschiedenes Vorgehen einzufordern. Und mit einer Reihe von Einsichten gelingt es womöglich sogar, noch umfassender und stringenter vorzugehen.

Ein naiver Pazifismus wird dieses Problem nicht lösen

Viele links eingestellte Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg dem Kreml treu zur Seite standen, sind – wenn schon nicht durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim – dann doch spätestens jetzt zur Einsicht gelangt, dass es keine kluge Idee war, Putins Agitation stets vorschnell in Schutz zu nehmen. Die Aufarbeitung der Fehler von bedeutenden Teilen der Partei Die Linke und jener von Schröder und Schwesig, aber auch von Merkel und Co. kann nun nicht länger aufgeschoben werden. Viele Einschätzungen waren hier offenbar grundlegend falsch und von einem rigorosen Wunschdenken geprägt. Der Unterdrückung von LGBTQIA+, der Einschüchterung und Ermordung von Oppositionellen und vielen weiteren eklatanten Missständen kommt man eben nicht mit bloßer Beschwichtigung bei. Und auch auf anderer Ebene ist wenig geschehen: Viel zu lange wurde dem Treiben der Propaganda-Maschinerie von RT DE (ehemals Russia Today) und Sputnik tatenlos zugesehen, die nun erst vor kurzem erste längst überfällige Einschränkungen erfuhren. Umfassend genug scheinen diese Vorstöße allerdings nicht zu sein, wie ein Blick auf die Klickzahlen von RT DE auf dem Messengerdienst Telegram verrät. Zur Erinnerung: Das russische Staatsfernsehen untersagt die Nutzung des Begriffs "Krieg" im Zusammenhang mit der Ukraine, da es sich nach seiner Darstellung um eine "militärische Spezialoperation" handele. Es werden gemäß dieser Sender keine imperialistischen Ziele verfolgt, indem ein souveräner Staat angegriffen wird, sondern angeblich wird ein Land vom Nazismus befreit. Dass der Präsident der Ukraine Jude ist, bleibt im staatlichen russischen Narrativ gerne außen vor.

Doch zu dieser Aufarbeitung gehört nicht nur die Erkenntnis, dass Fake News eingedämmt ("gecancelt") werden sollten, sondern auch die Einsicht, dass die NATO noch immer einen hohen Nutzen hat und eine ordentlich ausgerüstete Armee zur Verteidigung unabdinglich ist. Denn es kann Situationen geben, in denen eine militärische Intervention notwendig wird. Klar gilt weiterhin der Satz von Willy Brandt, wonach Krieg nicht die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio ist. Doch wenn andere Staaten Angriffskriege führen, Genozide stattfinden oder Massaker wie etwa jenes von Srebrenica stattfinden, dann ist ein naiver Pazifismus einer Lösung nur hinderlich. Im Zweifelsfall müssen hier auch Waffen und Gewalt eingesetzt werden, um noch größeres Leid zu verhindern. Wann das genau der Fall ist, wird aktuell heiß diskutiert. Manche können es jetzt bereits kaum erwarten, Flugverbotszonen einzurichten, die zur Folge hätten, dass NATO-Staaten russische Flugzeuge abschössen und eine entsprechende Gegenreaktion erzeugten. Andere sind der Ansicht, dass der Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen die rote Linie überschreite und eine Abkehr von reinen Sanktionen notwendig mache. Wieder andere haben derart große Sorgen vor einem nuklearen Schlagabtausch zwischen NATO und Russland – bei dem es zweifelsohne nur Verlierer gäbe –, dass sie selbst bei der gänzlichen Eroberung der Ukraine durch das russische Militär und dem Einsatz von Giftgas keine Intervention des Westens gutheißen würden. Und auch dazwischen gibt es noch eine ganze Palette von möglichen Positionierungen.

Wer hier recht hat und welche Standpunkte argumentativ am stärksten untermauert sind, wird sich womöglich erst in einigen Jahren feststellen lassen. Um diesen Prozess jedoch nicht unnötig in die Länge zu ziehen, ist es wichtig, die Debatten ordentlich und redlich zu führen. Dabei kann jeder einzelne Mensch mithelfen. Allein schon, indem im eigenen Umfeld und eigenen Verantwortungsbereich keine Lethargie hingenommen wird. Wann immer die längst entlarvten Fake News oder Relativierungen des Krieges à la beide Seiten trügen doch eine Teilschuld verbreitet werden, ist es sinnvoll, darauf aufmerksam zu machen, was mit dieser Positionierung nicht stimmt. Allein um den vielen Unentschlossenen und nicht so sehr mit der Materie vertrauten Menschen zu zeigen, dass es noch andere Standpunkte gibt, die inhaltlich womöglich besser fundiert sind. Es liegt an uns, hier den Finger in die Wunde zu legen und bei Verstößen gegen die Grundregeln der zeitgemäßen Diskussionskultur klare Kante zu zeigen – zumindest, wenn damit nicht das eigene Leben riskiert wird. Das ist das Mindestmaß an Anstand, das wir uns selbst und der ukrainischen Bevölkerung schuldig sind. Denn wenn nicht einmal diejenigen, die die Lügen und Märchen durchschauen, darauf achten, dass diese Formen von Querdenken und Propaganda eingedämmt werden, macht es sonst niemand. Und dann haben sämtliche Despoten dieser Welt ein einfaches Spiel.

Unterstützen Sie uns bei Steady!