Entgegen verschiedener Narrative ist die Geschlechterforschung kein Produkt postmoderner Langeweile, sondern eine bereits vor einhundert Jahren in Deutschland etablierte Disziplin. Die Nazis raubten bereits gesammeltes Wissen auf brutalste Weise. Ein Essay über Queerness in der Weimarer Republik und Nazideutschland.
Am 6. Mai 1933, kein halbes Jahr nach der Machtergreifung, stürmte ein Mob von Nazis das in Berlin-Tiergarten ansässige Institut für Sexualwissenschaft und plünderte die weltweit größte – und einzige – Bibliothek der Sexualforschung. Schätzungen sprechen von insgesamt bis zu 25.000 Büchern, die in den folgenden Tagen Opfer der Flammen wurden. 40.000 Menschen wohnten am 10. Mai in Berlin dem barbarischen Treiben bei, als Joseph Goebbels vor rauchgeschwängerter Kulisse verkündete, der "jüdische Intellektualismus" sei "tot" und die Deutschen hätten sich das Recht verdient, "den Müll der Vergangenheit zu beseitigen".
Dies ist die Geschichte von Magnus Hirschfeld, dem Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft, Dora Richter, der ersten trans Frau, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog und Heinz Heger, der den Horror der Konzentrationslager überlebte, um 1972 in seinem Buch "Die Männer mit dem rosa Winkel" Zeugnis abzulegen.
Magnus Hirschfeld: Pionier der Sexualforschung
Magnus Hirschfeld gründete das Institut für Sexualwissenschaft (IfSW) im Jahr 1919 zusammen mit dem Psychotherapeuten Arthur Kronfeld und dem Dermatologen Friedrich Wertheim. Ursprünglich als Forschungseinrichtung konzipiert, entwickelte sich das IfSW schnell zu einer Art psychotherapeutischen Klinik. Etwa 18.000 Beratungsgespräche mit 3.500 Menschen führte das Institut allein im ersten Jahr durch. Per scientiam ad justitiam, mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit, war sowohl der Leitspruch des IfSW als auch Hirschfelds persönliches Lebensmotto.
Hirschfeld, selbst jüdisch und homosexuell, war bereits in den 1920er Jahren regelmäßig Übergriffen der Sturmabteilung und anderer Nazis ausgesetzt. Am 4. Oktober 1920 wurde Hirschfeld bei einem tätlichen Angriff schwer verletzt, einige Jahre später wurde in Wien auf ihn geschossen. Doch selbst unter diesen lebensgefährlichen Umständen setzte Hirschfeld seine Arbeit fort. Seine Motivaton speiste sich aus der eigenen Lebens- und Arbeitserfahrung, dernach Homosexuelle ein Stigma trugen, das so schwer wog, dass sich ein Großteil von ihnen das Leben zu nehmen versuchte.
Als die Nazis am 6. Mai 1933 das Institut für Sexualwissenschaft plünderten, befand sich Hirschfeld gerade in der Schweiz. Die NSDAP annullierte seine deutsche Staatsbürgerschaft, Hirschfeld starb 1935 im Alter von 67 Jahren im französischen Exil. Dort schrieb er ein letztes Buch, "Rassismus", in dem er die pseudowissenschaftlichen Wurzeln der Rassenlehre verortete. "Rassismus" wurde 1938 posthum veröffentlicht. Im Jahr 2011 wurde, unter Schirmherrschaft des Bundesministeriums der Justiz, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit Sitz in Berlin errichtet, die sich – ganz in der Tradition ihres Namenspatrons – der wissenschaftlichen Forschung zu Fragen der Sexualität und des Geschlechts verschrieben hat.
Das Institut für Sexualwissenschaft war bereits in den 1920er Jahren weit mehr als "nur" eine Bibliothek oder Klinik. Als weltweit einziges Sexualforschungsinstitut war es ein sicherer Hafen für Menschen, die in ihrem Alltag schlimmster Diskriminierung und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Gleichzeitig war es eine Beratungsstelle für Eheprobleme und Familienplanung, behandelte Geschlechtskrankheiten und leistete Sexual- und Verhütungsaufklärung. Mehr noch, das IfSW war die weltgrößte Sammlung sexualanthropologischen und -psychologischen Materials überhaupt. Eine beispiellose Zahl von "Sexualartefakten" gab Zeugnis von der universellen Existenz von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch das Institut für Sexualwissenschaft bisweilen auf dubiose Weise zu seinen Exponaten kam. Dies soll nicht ausgeklammert werden. Jedoch ist vom Material des Instituts kaum etwas übrig geblieben. Was die Nazis 1933 nicht verbrannten oder konfiszierten, fiel spätestens im Kampf um Berlin dem Feuer zum Opfer. Was uns geblieben ist, ist die Geschichte des Instituts und seiner Patient*innen.
Dora Richter: Märtyterin für die Diversität
Eine dieser Patientinnen war Dora Richter. Sie war einer der ersten Menschen, die sich mit modernen medizinischen Methoden durchgeführten geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen. Bereits im Alter von sechs Jahren soll sie versucht haben, ihren Penis zu amputieren – 1922 wurden ihre Hoden operativ entfernt, 1931 erhielt sie schließlich die weltweit erste Vaginoplastie im Institut für Sexualwissenschaft.
Hirschfeld, der diesem heutzutage als "physiologische Transition" bekannten Prozess ursprünglich skeptisch gegenüberstand, hatte seine Meinung während der Arbeit im IfSW geändert. Der Grund hierfür war die astronomische Suizid- beziehungsweise Suizidversuchs-Rate unter trans Patient*innen, die ihn an das gleiche Phänomen unter Homosexuellen erinnerte.
Der Mensch bringt sich um, wenn sein innerstes Sein von der ihn umgebenden Gesellschaft als degeneriert und abartig bezeichnet wird, konstatierte Hirschfeld, und schloss daraus, dass trans Menschen ebenso wie Homosexuelle keinerlei willentlichen Einfluss auf ihre Neigungen und ihre Persönlichkeit ausüben können. Ihnen den Wunsch nach einer Transition zu erfüllen, ob sozial oder physiologisch, ist schlicht und ergreifend der einfachste Weg, die psychische Resilienz und die Lebensqualität zu erhöhen. An dieser Erkenntnis hat sich in 100 Jahren übrigens nicht das Geringste geändert, Hirschfelds pragmatischer Ansatz ist durch kontemporäre Forschung validiert.
Dora Richter, liebevoll "Dorchen" genannt, die lange Zeit im Institut für Sexualwissenschaft lebte und arbeitete, starb mutmaßlich an jenem 6. Mai durch die Hand eines Faschisten, der in der bloßen Existenz einer trans Frau das Wirken "jüdischer Wissenschaft" zu erkennen glaubte. Der "Müll der Vergangenheit" sei "auszulöschen", geiferte Joseph Goebbels vier Tage später. Gemeint waren aber nicht nur die zu seinen Füßen brennenden Bücher. Gemeint waren Menschen wie Dora Richter, Magnus Hirschfeld und Heinz Heger.
Heinz Heger: "Die Männer mit dem rosa Winkel"
Am 27. Januar 2023 würdigte der Deutsche Bundestag in seiner Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus erstmals explizit die queeren Opfer der Nazidiktatur. Diesen hatte die Politik bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, auch, weil Homosexualität in der Bundesrepublik Deutschland ein paar Jahrzehnte nach dem Fall Berlins noch immer ein Verbrechen war. Die queeren Häftlinge, die die Konzentrationslager überlebt hatten, waren nach 1945 zwar keiner systematischen Vernichtung mehr ausgesetzt, wohl aber immensen staatlichen, strafrechtlichen und sozialen Repressionen.
In seinem 1972 erschienenen Buch "Die Männer mit dem rosa Winkel" schildert der Zeitzeuge und KZ-Überlebende Heinz Heger (Pseudonym) – selbst wegen Homosexualität in Sachsenhausen und später Flossenburg inhaftiert – das vergessene Schicksal queerer Häftlinge. Von den Wachen und Kapos als Sexsklaven missbraucht, standen Homosexuelle zusammen mit jüdischen Menschen sowie den Sinti und Roma auf der niedrigsten Stufe der Häftlingshierarchie: "Juden, Homos und Zigeuner (sic), also die gelben, rosa und braunen Winkel, waren die Häftlinge, die am häufigsten und schwersten unter den Martern und Schlägen der SS und Kapos zu leiden hatten. Sie wurden als Abschaum der Menschheit bezeichnet, die überhaupt kein Lebensrecht auf deutschem Boden hätten und daher vernichtet werden müssten". Wenig verwunderlich also, dass gerade Magnus Hirschfeld – schwul und jüdisch – in den irren Augen der Nazis die Ausgeburt alles Bösen auf der Welt war.
Konklusion: trans Menschen sind eine Kulturkonstante
Wir können festhalten, dass die Geschlechter- und Sexualforschung kein Produkt der Postmoderne ist. Die vergleichsweise liberale Weimarer Republik und Magnus Hirschfeld waren globale Pioniere des wissenschaftlichen Felds, das wir heute Gender Studies nennen. Vor 100 Jahren fanden sich im Institut für Sexualwissenschaft zahllose Materialien zu und Nachweise für die anthropologische und soziologische Realität des geschlechtlichen und sexuellen Spektrums.
Der römische Kaiser Nero soll, gewandet in ein Brautkleid, den befreiten Sklaven Pythagoras geheiratet haben. Elagabalus trat als Frau auf, betätigte sich als Prostituierte und soll neben drei Frauen auch noch einen Mann geehelicht haben. Es gibt zahllose Kulturen, die ein drittes, viertes oder fünftes (und so weiter und so fort) Geschlecht kennen: Die Navajo auf dem amerikanischen Kontinent bezeichnen diese Menschen als "two spirits" und sehen darin ein Geschenk der Natur. Das Volk der Bugi, die auf der Insel Sulawesi in Indonesien leben, kennt drei biologische und fünf soziale Geschlechter.
Dass die westliche Welt mit diesen Konzepten nicht vertraut ist, muss – wie so viel des Leids, das wir auf die gleiche Weise über die Menschheit gebracht haben – als Konsequenz einer puristischen Auslegung des Christentums gelten. In der Genesis ist nur die Rede von Adam und Eva. Der christliche Gott schuf kein drittes Geschlecht, keine intersexuellen Menschen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, durfte es diese Menschen jahrhundertelang nicht geben – denn ihre bloße Existenz beweist, dass die Bibel entweder nicht stimmt, oder der unfehlbare Gott einen Fehler gemacht hat. Und das sind keine guten Nachrichten für brokatbewandete Päpste und ihr Geschäftsmodell. Wenn wir also über die Rechte von trans Personen sprechen, sollten wir uns stets an Magnus Hirschfeld erinnern: per scientiam ad justitiam – mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit.
24 Kommentare
Kommentare
malte am Permanenter Link
Wie der Text mehrfach erwähnt, war Hirschfeld SEXUALforscher. Das hat mit dem, was heute als „Geschlechterforschung“ oder „Gender Studies“ bezeichnet wird, wenig zu tun.
Die letzten Absätze sind wirklich ein Unding. Zum x-ten Mal wird hier das Märchen vom „Geschlechterspektrum“ und den „weiteren Geschlechtern“ aufgetischt und wie so häufig wieder mit dem Verweis auf „fremde Kulturen“ begründet. Dabei handelt es sich meist um extrem patriarchalische und homophobe Kulturen, in denen Homosexuelle nicht als „richtige Männer“ gelten – und daher als ein drittes Geschlecht angesehen werden. Ich denke nicht, dass das ein Vorbild sein sollte. Letztlich ist es auch egal, was irgendwelche „Kulturen“ glauben. Es gibt bzw. gab auch Ethnien, in denen die Überzeugung verbreitet war, Tiere seien auch Menschen, die, wenn die Menschen nicht hinschauen, ihr Tiergewand abstreifen und in Menschengestalt in geheimen Siedlungen leben würden. Ist das auch so ein „unvertrautes Konzept“, das wir übernehmen sollten?
Die Sichtweise, dass es nicht drei, fünf oder acht Milliarden, sondern genau zwei Geschlechter gibt, ist nicht „westlich“ oder gar „christlich“, sondern schlicht eine wissenschaftliche Erkenntnis. Es hat schon eine gewisse Komik, dass der Autor zeigen will, „Geschlechterforschung“ habe nichts mit Postmoderne zu tun, um am Ende dann mit diesem postmodernen Kulturrelativismus um die Ecke zu kommen. Und wie so oft wird wieder Trans- mit Intersexualität wild durcheinandergewürfelt. Nach dem guten Text zum „Selbstbestimmungsgesetz“ hätte ich hier vom hpd wirklich mehr erwartet.
Ziemlich seltsam ist auch die verlinkte Studie, die belegen soll, dass „kontemporäre Forschung den Ansatz Hirschfelds validiert“. In dieser Studie geht es um Pubertätsblocker, die gab es meines Wissens zu Hirschfelds Zeiten noch gar nicht. Was hat diese Studie mit dem Thema zu tun?
Zorro am Permanenter Link
Die verlinkte Studie besagt, dass eine Erfüllung des Transitionswunsches, in diesem Fall durch Pubertätsblocker, zu weniger Suizidgedanken führt. Und um diese Wunscherfüllung geht es auch im Text.
Wo genau werden Trans- und Intersexualität durcheinandergewürfelt?
Es gibt nun mal Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter Mann/Frau eindeutig zugehörig fühlen. Ist das allein nicht schon Grund genug, von einem Spektrum zu sprechen?
malte am Permanenter Link
Pubertätsblocker verhindern, dass ein Mensch in die Pubertät kommt. Wie sollten solche Präparate also „einen Transitionswunsch erfüllen“?
Der Autor will laut der Zwischenüberschrift zeigen, dass Trans-Menschen eine Kulturkonstante sind. Im nachfolgenden Textabschnitt geht es dann aber um Intersexualität und die Behauptung, es gebe mehr als zwei Geschlechter. Das sind aber vollkommen unterschiedliche Phänomene. Transsexuelle lehnen ihren Körper ab und wünschen sich eine (eindeutige) Zuordnung zum anderen Geschlecht, Intersexuelle sind nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen (und stellen kein drittes Geschlecht dar). Diese Vermischung von Trans- und Intersexualität ist häufig zu beobachten. Die Existenz intersexueller Menschen wird ständig als Argument für die „Self-ID“ transgeschlechtlicher Menschen angeführt, obwohl beide Phänomene überhaupt nichts miteinander zu tun haben.
Ich fühle mich nicht dem männlichen Geschlecht zugehörig – ich BIN ein Mann, weil ich einen bestimmten Körper habe. Das ist kein Gefühl. Mir hat noch niemand erklären können, wie sich „männlich sein“ anfühlt. Die Aussage, man würde sich nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, ist daher sinnlos. Natürlich ist das kein Grund, von einem Spektrum zu sprechen.
malte am Permanenter Link
Sie werfen übrigens noch gleich eine dritte Gruppe mit in den Topf: die "Non-Binären", was ja noch einmal etwas vollkommen anderes ist als Trans- und Intersexualität.
Zorro am Permanenter Link
Zuerst war es "Durcheinanderwürfeln", jetzt ist es "in den Topf werfen". Aber wo ist das Problem?
Nur weil Ihnen noch niemand erklären konnte, wie sich Männlich-sein anfühlt, ist die Aussage, man würde sich nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, nicht sinnlos. Das ist ein unlogischer Schluss.
Sie erkennen hoffentlich an, dass es gesellschaftlich ziemlich klare Vorstellungen gibt, was männliches und was weibliches Verhalten ist bzw. sein sollte? Und dass diese Vorstellungen durch die Erziehung der Kinder Einfluss auf ihre Entwicklung haben? Dass es ein soziales Geschlecht gibt?
Wenn ja, sollte es Ihnen eigentlich auch ein Leichtes sein, daraus rückzuschließen, dass es innerhalb der Pole männliches soziales Geschlecht und weibliches soziales Geschlecht unzählige Abstufungen gibt. Das ist das Spektrum.
Eine Transition ist ein längerer Prozess, Pubertätsblocker können dabei ein erster Schritt sein.
malte am Permanenter Link
Natürlich gibt es gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was typisch männliches bzw. weibliches Verhalten sein sollte. Und natürlich entspricht fast niemand diesen Vorstellungen zu 100 Prozent.
Es kann nicht das Ziel sein, neue "Geschlechtsidentitäten" zu erfinden, vielmehr sollten die mit den Geschlechtern verknüpften Klischeevorstellungen überwunden werden. Kim de l'Horizon ist genauso männlich wie Bruce Willis oder der Bauarbeiter von nebenan.
Ein sehr kluger Kommentar zum Thema: https://www.ruhrbarone.de/die-heimlichen-konservativen-warum-queerfeminismus-und-genderideologie-keinen-fortschritt-bringen/197664/
Zorro am Permanenter Link
Ich gebe Ihnen ja recht, dass die Klischeevorstellungen überwunden werden sollten. Aber machen Sie doch mal einen Vorschlag, wie man das am besten machen könnte.
"Ich entspreche nicht dem männlichen Stereotyp" und "Ich fühle mich keinem der beiden Geschlechter zugehörig" können ergänzende Aussagen sein. Warum sollten sie widersprüchlich sein?
Die Vorgehensweise, weitere Geschlechter, oder zumindest ein drittes, ins Spiel zu bringen, halte ich für eine recht elegante Variante, weil sich dadurch diejenigen, die ihre Klischeerolle behalten wollen, nicht genötigt fühlen müssen, ihr Verhalten zu ändern.
Was Sie und der ruhrbarone-Artikel als Affirmation bezeichnen, ist mMn schlicht die Benennung dessen, was man bekämpft. Ich muss doch die Existenz einer Sache bestätigen, wenn ich sie bekämpfen will. Wenn ich ihre Existenz nicht bestätige, käme es einer Negierung des Problems gleich. So wie der ruhrbarone-Artikel es tut, wenn er sagt: "[...] Rückkehr zu dem, was Geschlecht eigentlich ist: Ein bloßer Indikator für die Funktion, die der Organismus Mensch beim Fortpflanzungsakt einnimmt, ohne jede zwingende soziale Implikation." Er lässt einfach weg, was wir hier schon geklärt hatten, dass Geschlecht mit gesellschaftlichen Vorstellungen verbunden ist. Diese Rückkehr kann keine sein, weil es diesen Zustand nie gab. Aus demselben Grund ist es auch unsinnig, von gesellschaftlichem Rückschritt zu sprechen, weil die Dinge bereits gesellschaftliche Realität sind!
Das dritte Geschlecht im rechtlichen und öffentlichen Raum ist die Sichtbarmachung der Aussage "Es ist gut bzw. normal, anders zu sein." Meinen Sie nicht, dass das ein Fortschritt ist?
malte am Permanenter Link
Ich sage nicht, dass diese Aussagen sich widersprechen. Ich sage, dass es unterschiedliche Aussagen sind. Sie sind nicht logisch verknüpft, die eine lässt sich nicht aus der anderen ableiten.
Es ist interessant, wie Sie die These von den „heimlichen Konservativen“ bestätigen. Sie scheinen die sexistischen Stereotype einfach als gegeben hinzunehmen. Obwohl es offensichtlich ist, dass sie zeitlichen Veränderungen unterliegen. In den 50er Jahren wäre eine Frau in einer Führungsposition undenkbar gewesen, ja sogar eine Frau, die Hosen trägt. Heute ist das nicht mehr so. Heute gibt es viele Männer, die Elternzeit nehmen, die Vorstellung vom Mann als „Ernährer“ erscheint geradezu lächerlich. Alle diese Fortschritte wurden erreicht, ohne dass sich irgendjemand gezwungen fühlte, ein „drittes Geschlecht“ zu erfinden.
Wieso sollte es notwendig sein, „Anderssein“ irgendwie rechtlich zu institutionalisieren? Es gibt unzählige Arten, auf die ein Mensch „anders“ sein kann. Haben Homosexuelle jemals gefordert, dass ihre sexuelle Orientierung amtlich bestätigt wird? Gibt es einen behördlichen Eintrag „Linkshänder“? Zumal die meisten, die sich als „non-binär“ bezeichnen, ja gar nicht „anders“ sind. Praktisch niemand entspricht zu 100 Prozent den traditionellen Vorstellungen von „maskulin“ oder „feminin“. Eben deswegen ergibt der Begriff „non-binär“ keinen Sinn: Er trifft auf jeden Menschen zu.
Zorro am Permanenter Link
"Es gibt unzählige Menschen, die nicht den Geschlechterklischees entsprechen, aber niemals auf die Idee kommen würden, deshalb ihre Geschlechtszugehörigkeit in Frage zu stellen."
Die von Ihnen erwähnten Fortschritte wurden erreicht, ja. Aber so, wie Sie jetzt gegen Gender argumentieren, argumentierte man vor 30 oder 40 Jahren gegen Feminismus. Da hätte ein entsprechendes Argument sein können: "Dass Frauen wählen dürfen, hat man auch ohne Feminismus geschafft, wozu also Feminismus?"
Und auch wenn die unsinnigen Gegenströme zum Feminismus mehr und mehr versiegt sind, leben wir 30 oder 40 Jahre später noch immer in der Hegemonie der binären Geschlechterrollen. Schauen Sie sich doch mal männliche oder weibliche Influencer an, da werden Stereotype stärker denn je zur Schau gestellt.
Ich bin auch der Meinung, dass jeder Mensch non-binär ist, aber genau deshalb ergibt der Begriff Sinn, und seine Einführung war längst überfällig. Das Beispiel mit dem Linkshänder ist unpassend, da es die Identität und rechtliche und soziale Konsequenzen weit weniger, wenn überhaupt, betrifft. Auch geht es nicht um sexuelle Orientierung!
(Junge) Menschen, die merken, dass in ihnen etwas (deutlich) anders ist, sollten niemals den Gedanken bekommen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, dass sie nicht "normal" sind. Von diesem Wunsch sind wir aber noch weit entfernt. Deshalb muss der Kampf weitergehen, mit den Errungenschaften des Feminismus ist nicht das Ende der Geschichte erreicht!
malte am Permanenter Link
„Die Existenz des sozialen Geschlechts ist den meisten Menschen vermutlich noch nicht wirklich im Bewusstsein.“
Ich denke, das ist Ihr Hauptproblem: dass Sie „Gender“ mit „soziales Geschlecht“ übersetzen. Das ist ein irreführender Begriff. Präziser ist es, stattdessen von GeschlechterROLLE zu sprechen. Ich empfehle Ihnen das Buch „Material Girls“ von Kathleen Stock, da werden die Irrungen und Wirrungen um den Begriff „Gender“ gut auf den Punkt gebracht.
Ich stimme Ihnen zu, dass Geschlechter-Stereotype nach wie vor eine große Rolle spielen. Was Sie aber nicht verstehen wollen: Diese Stereotype werden durch den Non-Binary-Trend nicht gebrochen, sondern zementiert! Die Fortschritte beim Abbau der Stereotype wurden nicht nur ohne die Erfindung eines „dritten Geschlechts“ erreicht, sie lassen sich so BESSER erreichen.
Merken Sie nicht, wie Sie sich selbst widersprechen? Einerseits stimmen Sie mir zu, dass „non-binär“ auf jeden Menschen zutrifft, gleichzeitig behaupten Sie, das sei etwas, was einen Menschen zu etwas Besonderem macht. Sie sollten sich schon entscheiden, was Sie vertreten wollen. Welche rechtlichen Konsequenzen sollte es haben, wenn ein Mann sich die Fingernägel lackiert, oder eine Frau statt „Dirty Dancing“ lieber die Fußball-Bundesliga schaut? Das sind Fragen des persönlichen Geschmacks, die den Staat nichts angehen. Dass die Frage nach der Übereinstimmung mit Geschlechter-Klischees eine wichtige Rolle für die Identität spielen muss, bestreite ich. Wenn jemand seine Identität auf solchen Oberflächlichkeiten gründet, ist dass Anlass für Kritik und sollte nicht auch noch unterstützt werden, erst recht nicht von staatlicher Seite. Und wo wir schon beim Unwort „Identität“ sind: Es gibt auch viele Menschen, für die die bevorzugte Fußballmannschaft oder die Zugehörigkeit zu einer Subkultur einen wichtigen Teil ihrer Identität darstellen. Wollen Sie das etwa auch staatlich anerkennen lassen?
Zorro am Permanenter Link
"Merken Sie nicht, wie Sie sich selbst widersprechen?
Was Sie in Ihrem letzten Absatz zusammenfabulieren, macht weiteres Diskutieren sinnlos. Sie erzeugen einen Strohmann nach dem anderen. Männlich und weiblich IST bereits von Bedeutung, wenn es um rechtliche Dinge geht, da muss man keine Präferenz anerkennen lassen.
Und wenn Sie Dinge des persönlichen Geschmacks mit Geschlechtszugehörigkeit gleichsetzen, haben Sie entweder nichts verstanden oder wollen alles lächerlich machen.
malte am Permanenter Link
Wie bitte? SIE sind doch derjenige, der will, dass das Geschlecht am Verhalten festgemacht wird.
Ja, jeder Mensch ist einzigartig. Manche Menschen schminken sich und manche nicht, manche haben eine große Klappe und manche sind eher zurückhaltend, manche gehen gerne auf Großwildjagd und manche machen lieber Yoga – und manche davon sind Männer und manche Frauen. Das eine muss nicht notwendigerweise mit dem anderen zusammenhängen. Was Sie als „Geschlechterspektrum“ bezeichnen ist nichts anderes als die Individualität. Aber einige sind Ihrer Meinung nach dann doch „besonderer“ als alle anderen und sollen eine Sonderbehandlung erfahren (sprachliche „Sichtbarmachung“ durch eigene Pronomen und Sonderzeichen, separate Toilettenräume…). Warum, wenn doch jeder etwas Besonderes ist?
Natürlich ist das Geschlecht von Belang, wenn es um rechtliche Dinge geht – aber dabei geht es ausschließlich um das BIOLOGISCHE Geschlecht. Eine Frau kann bei einer Einstellung bevorzugt werden, wenn es eine Frauenquote gibt – und zwar unabhängig davon, ob sie lange oder kurze Haare hat, Röcke oder Hosen trägt oder in ihrer Freizeit lieber häkelt oder Bodybuilding macht.
Ich mache überhaupt nichts lächerlich. Wenn das so erscheint, liegt das daran, dass Ihr absurdes Verständnis von Geschlecht lächerlich IST.
Zorro am Permanenter Link
Was behaupten Sie denn da Wildes? Wo will ich, dass die Wahl des Fernsehprogramms über die Geschlechtszugehörigkeit entscheidet? Das wird ja immer absurder.
Es gibt keine Menschen, die "besonderer" sind. Das behaupte ich nirgends!
Nochmal, obwohl wir uns schon im Kreis drehen: Es gibt Menschen, die fühlen sich nicht den Polen männlich/weiblich zugehörig. So etwas kennen wir beide nicht, weil mich und Sie diese Problematik nicht betrifft. Daraus zu schließen, dass die Problematik deshalb keine sein kann, ist nur ein Hinweis auf Ihre Ignoranz.
Und nochmal, auch wenn ich es ebenfalls bereits geschrieben habe: Das BIOLOGISCHE Geschlecht hat EINFLUSS auf das SOZIALE Geschlecht. Weil die Menschen entsprechend dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht erzogen werden. Wenn nun ein Mensch aus dieser Erziehungsschublade (bei der es um mehr geht als die Farbe der Kleidung bspw.) ausbrechen will, zementiert er Ihrer Meinung nach diese Schublade. Abgesehen davon, dass das nicht schlüssig ist, was sollte er sonst tun? Sich mit seinem Schicksal abfinden? Wie würde Ihr Leben laufen, wenn Sie wie das andere Geschlecht erzogen worden wären?
malte am Permanenter Link
Sie haben folgendes geschrieben: „Sie erkennen hoffentlich an, dass es gesellschaftlich ziemlich klare Vorstellungen gibt, was männliches und was weibliches Verhalten ist bzw. sein sollte?
Wenn ja, sollte es Ihnen eigentlich auch ein Leichtes sein, daraus rückzuschließen, dass es innerhalb der Pole männliches soziales Geschlecht und weibliches soziales Geschlecht unzählige Abstufungen gibt. Das ist das Spektrum.“
Das kann ich doch nur so verstehen: Sie glauben, dass es „typisch weibliches“ und „typisch männliches“ Verhalten gibt, und dass diejenigen, die von diesem Verhalten abweichen, zum „dritten Geschlecht“ gehören. Wenn das nicht ist, was Sie sagen wollen – was wollen Sie denn sagen?
Wir drehen uns im Kreis, weil Sie mein Argument ignoriert haben. „Es gibt Menschen, die fühlen sich nicht den Polen männlich/weiblich zugehörig. So etwas kennen wir beide nicht, weil mich und Sie diese Problematik nicht betrifft.“ Doch, das kenne ich sehr wohl. Jeder Mensch kennt das. So etwas wie ein „geschlechtliches Zugehörigkeitsgefühl“ gibt es nicht. Geschlecht ist kein Gefühl, sondern eine objektive Tatsache. Das Geschlecht wird auch nicht bei der Geburt „zugewiesen“, es wird FESTGESTELLT.
Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Frauen aus der traditionellen Frauenrolle ausbrechen. Und auch ich als Mann möchte nicht stark, dominant und konkurrenzorientiert sein müssen. Aber zum gefühlt tausendsten Mal: Ich bleibe dadurch immer noch ein Mann, genauso, wie eine nicht „rollenkonforme“ Frau eben eine Frau bleibt. Sie stellen die Schubladen nicht in Frage, sondern erfinden nur eine weitere.
Zorro am Permanenter Link
"Das kann ich doch nur so verstehen: Sie glauben, dass es „typisch weibliches“ und „typisch männliches“ Verhalten gibt, und dass diejenigen, die von diesem Verhalten abweichen, zum „dritten Geschlecht“ gehören.
Tut mir leid, wenn Sie das nur so verstehen können. Wir waren doch schon weiter in der Diskussion, als sie geschrieben hatten: "Natürlich gibt es gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was typisch männliches bzw. weibliches Verhalten sein sollte."
SO sollten Sie es verstehen, das ist nämlich das soziale Geschlecht. Leider hatten Sie es in der folgenden Diskussion wieder vergessen und es einfach Individualität genannt. Das ist ein Widerspruch, denn eine gesellschaftliche Vorstellung über geschlechtsspezifisches Verhalten ist etwas anderes als Individualität.
In Ihrem dritten und vierten Absatz gehen Sie nur auf das biologische Geschlecht ein, negieren das soziale. Wie gesagt, wir waren schon weiter.
malte am Permanenter Link
Sie weichen aus. Sind Sie der Meinung, dass Menschen, die von den gesellschaftlichen Rollenerwartungen abweichen, zu einer separaten Kategorie gehören - ja oder nein?
Zorro am Permanenter Link
Nein. Sie gehören zu einer separaten Kategorie, weil sie sich dieser zugehörig fühlen. Bzw. weil sie sich den existierenden Kategorien nicht zugehörig fühlen.
malte am Permanenter Link
Wenn es nur um das Gefühl geht, verstehe ich nicht, wieso Sie das Verhalten überhaupt erwähnt haben und so lange darauf herumgeritten sind.
Ich kann nur wiederholen, was ich jetzt schon zweimal gesagt habe: So etwas wie ein "Geschlechtszugehörigkeitsgefühl" gibt es nicht. Ich kann mich dem "deutschen Volk" zugehörig fühlen, oder ich kann das ablehnen und mich als Europäer fühlen oder als Kosmopolit definieren. Ich kann mich einer politischen Bewegung zugehörig fühlen oder einer Subkultur. Aber ich kann mich nicht der menschlichen Spezies zugehörig fühlen oder der Blutgruppe AB positiv. Und genauso wenig kann ich mich einem Geschlecht zugehörig fühlen. Das fehlende Gefühl der Zugehörigkeit kann also unmöglich ein Kriterium sein, um die Kategorie "non-binär" zu definieren.
Um das offensichtliche einfach mal auszusprechen: "Non-binär" ist eine Worthülse, ein nichtssagendes Etikett, das sich narzisstische Wichtigtuer anheften, weil sie sich als etwas Besonderes fühlen wollen.
Zorro am Permanenter Link
1.: Nur weil Sie behaupten, dass es kein Geschlechtszugehörigkeitsgefühl gibt, heißt das nicht, dass das auch so ist.
2.: Ich gebe Ihnen recht, was das biologische Geschlecht angeht, aber haben Sie schon wieder vergessen, dass es auch ein soziales Geschlecht gibt? Diesem kann man sich sehr wohl zugehörig fühlen. Oder auch nicht.
3.: Das Verhalten habe ich erwähnt, weil es gesellschaftliche Vorstellungen darüber gibt, was männliches und weibliches Verhalten sein sollte. Und diese Vorstellungen haben einen Einfluss auf die eigene Identität, AUCH WENN man diese Vorstellungen nicht teilt.
malte am Permanenter Link
Das, was Sie als "soziales Geschlecht" bezeichnen, sind gesellschaftliche Rollenerwartungen. Einer Erwartung kann ich mich nicht zugehörig fühlen. Wie stellen Sie sich das vor?
Zorro am Permanenter Link
Es müssen nicht zwingend gesellschaftliche Erwartungen sein, sondern es können schlicht gesellschaftliche Vorstellungen sein. Natürlich kann ich mich einer Vorstellung über eine Sache zugehörig fühlen.
malte am Permanenter Link
Eine politische Position würde ich jetzt nicht als Vorstellung bezeichnen. Aber vor allem kommt die Zugehörigkeit zu einer politischen Strömung nicht aus dem Nichts.
Zorro am Permanenter Link
"Eine politische Position würde ich jetzt nicht als Vorstellung bezeichnen."
malte am Permanenter Link
Ihnen auch alles Gute. Meine Frage haben Sie übrigens nicht beantwortet. Vielleicht, weil Sie keine Antwort darauf haben?
Man fühlt sich einer Vorstellung über eine politische Position zugehörig??? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein. Manchmal ist es wirklich besser, einen Denkfehler zuzugeben, als sich in immer absurdere Behauptungen zu verstricken.