Zwischenbericht zur Causa Christophorus

Ein Dorf deeskaliert

Der hpd berichtete mehrfach über einen unglaublichen Fall im südhessischen Hambach. Ein atheistischer Vater wollte nur seine sechsjährige Tochter vor religiösen Veranstaltungen in ihrer staatlichen Grundschule schützen. Am Ende wurde er mittels einer völlig überzogenen Polizeiaktion in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Unser Autor Bernd Kammermeier begleitet diesen Konflikt seit seinen Anfängen und legt hier einen Zwischenbericht vor, denn die Causa Christophorus ist zwar noch nicht erledigt, aber die Hoffnung darauf wächst.

Ich gebe es offen zu: Diese kleine Familie in Hambach an der Bergstraße ist mir inzwischen ans Herz gewachsen. Die Ereignisse um die unnötige und in ihrer Ursache noch nicht völlig aufgeklärte Aktion der Polizei – der hpd berichtete – hat ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur Alexander Michael Stier wurde massiv traumatisiert, auch seine kleine Tochter E. (der Name ist der Redaktion bekannt) und seine Ehefrau wurden derart belastet, dass sie sich in psychologischer Betreuung befinden. Alex Stier steht unter schwersten Psychopharmaka, seine Diagnose liegt mir vor. Erst die Polizeiaktion, die dabei empfundene Ohnmacht, der temporäre Verlust der Kinder, die sich von ihrem Vater nicht verabschieden durften, haben ihn in diese Lage gebracht. Alte Kindheitserlebnisse sind aufgebrochen. Alex Stier geht damit offen um. Er hat mir alle Dokumente zur Verfügung gestellt, sein Innerstes nach außen gekrempelt. Bei jedem unserer Gespräche sehe ich einen ehrlichen Menschen vor mir, der unerwartete Reaktionen für sein ursprüngliches Anliegen erleben musste.

Was war sein Anliegen?

E. geht seit letztem Jahr auf die einzige staatliche Grundschule in Hambach. Sie besucht sie gerne, lernt begeistert, ist aufgeweckt, intelligent, redegewandt und selbstbewusst. Sie hat Freunde, ist sozial integriert. Doch sie wurde auch im Bewusstsein erzogen, dass es keine Götter gibt, dass sich Menschen im Laufe der Zeit viele solcher Mythen ausgedacht haben. So kam es für das Mädchen zu einem Loyalitätskonflikt, als der Pfarrer des Ortes – der offiziell nichts mehr mit der Schule zu tun hat – bei mehreren Gelegenheiten alle Schüler, also auch E., auf dem Schulhof das kreationistische Lied "Laudato si" anstimmen ließ. E. fühlte sich unwohl, weil sie sich genötigt sah (auch wenn dies von den Lehrern anders gedacht war), für "Gott" zu singen und zu klatschen.

Als ich das erste Mal vor der Schule stand, ist mir die deutliche Verquickung dieser Einrichtung mit der Kirche aufgefallen. Zunächst steht ihr unmittelbar gegenüber eine mächtige Wallfahrtskirche, die durch Kinderaugen noch bedrohlicher wirken mag. Auf der Fassade der staatlichen (!) Schule prangt ein riesiges Graffito mit einem Heiligen (Christophorus), der auf seiner Schulter ein Jesuskind trägt, das wiederum einen Reichsapfel in Händen hält. Auf die Problematik dieser Darstellung ist der hpd bereits eingegangen. Was mich bei der Inaugenscheinnahme sofort ergriff, waren die Gesichter der dargestellten Figuren. Der Mann, eine riesenhafte Erscheinung, blickt finster auf den Schulhof, das Jesuskind wirkt traurig mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Nichts Kindgerechtes, Fröhliches geht von diesem Bild aus – ganz abgesehen vom üblichen Herrenmenschenduktus der NS-Kunst, den der Maler Hans Kohl selbst nach der Nazi-Zeit weiterhin pflegte. In diesem Umfeld kann ich gut nachempfinden, wie sehr sich ein kleines Mädchen wie E. zusammen mit Pfarrer und christliche Lieder singenden Mitschülern unwohl fühlte und zu Hause weinte.

Alex Stier musste als Vater, der wie ein Fels vor seiner Familie steht, handeln. Er stellte eine mangelhafte Säkularisierung an der Schule fest, die mit Dorftraditionen begründet wird. Da aber das Grundgesetz (insbesondere Art. 4 und 140) auch Kinder schützt, wollte er das nicht auf sich beruhen lassen. Er schrieb an die Verantwortlichen und bestand auf einer klaren Trennung von Staat und Kirche auch in der Schule. Nach dem hessischen Schulgesetz ist dies sogar noch schärfer geregelt als in anderen Bundesländern. Da man offenbar sein Anliegen nicht verstand oder ernst nahm, eskalierte die Angelegenheit. Einzelne Bürger Hambachs traten dabei besonders hervor, schütteten literweise Öl ins ursprünglich kleine Feuer, das Alex Stier entfachte. Dabei – so sieht es zur Zeit aus – hatte das Schulamt intern den Forderungen Alex Stiers bereits zugestimmt, doch leider bis heute keinen schriftlichen Bescheid geschickt. Dies hätte sicher viel der folgenden Eskalation verhindern können. Bedauerlicherweise hat sich der kämpferische Vater provozieren lassen. Er sah subjektiv eine Bedrohungslage gegen seine Familie, als sich erzürnte Eltern auf dem Fußballplatz treffen wollten, um gegen das Anliegen von Herrn Stier zu protestieren. Dies wurde von der Polizei verhindert. Der Vater bekam definitiv Angst um E. und bat die Polizei per Fax (dieses liegt mir vor), sich um den Schutz seiner Tochter zu kümmern.

Er kann auch glaubhaft vermitteln, wie es zu seinem ersten und einzigen schriftlichen Ausraster kam, den er in keiner Weise beschönigt. Alles davor und danach sieht er im Rahmen von Satire, Ironie, Zynismus und freier Meinungsäußerung. "Die Allgemeinheit muss mit Menschen wie Ihnen klarkommen", habe auch der Psychiater der Vitos-Klinik zu ihm gesagt. Alex Stier erinnert sich: "Ich hatte angehalten auf einem Autobahnparkplatz, weil mich ein Herr T. (der Name ist der Redaktion bekannt) als Feigling bezeichnet hatte. Da kam es erstmals zur sprachlichen Eskalation. Ich war nach einem Arbeitstag bei der SRH (IT-Fachschule) einfach fertig, meine Nerven lagen blank, da das dort anstrengend für mich ist. Und dann kommt ein mir Unbekannter und labert mich voll wegen eines Pfarrers."

Vorausgegangen waren Facebook-Kommentare von Alex Stier, in denen er den Pfarrer von Hambach als "Lügenbeutel" bezeichnete und ihn des Vertragsbruchs bezichtigte. Dies war die Folge des Interviews mit dem Pfarrer im Bergsträßer Anzeiger, das ein Stillhalteabkommen aller Parteien in der Causa Christophorus brach. Alex Stier: "Ich hatte dem Pfarrer ein 'Ultimatum' gesetzt, zu dem er den Unfug, den er über mich in einem Interview verbreitet hatte, korrigieren sollte. Und genau das war der Anlass, warum Herr T. mich anschrieb, denn dessen Familie ist nichts heiliger als ihr Pfarrer." Danach hat Alex Stier auf dem Autobahnparkplatz mit seiner privaten (!) Nachricht an Herrn T. heftig provoziert (er wolle "ein Blutbad" anrichten, allerdings im Kontext "letaler Notwehr", falls seiner Tochter E. etwas zustoßen sollte). Das tut ihm heute aufrichtig leid, weil es die Lage für seine Familie verschlimmerte. In der zeitlichen Abfolge der Ereignisse kann ich jedoch sein Verhalten menschlich nachvollziehen. Vor allem vor dem Hintergrund seiner Kindheit voll traumatisierender Erlebnisse (die mir bekannten grauenvollen Fakten möchte ich aus Gründen des Schutzes der Persönlichkeit Alex Stiers nicht veröffentlichen), seien ihm die auslösenden Erlebnisse seiner Tochter an der Grundschule wie eine "religiöse Vergewaltigung" vorgekommen. Alex Stier: "Das war mein reales Erleben. Und das ist Gewalt aus meiner Sicht. Ich bin da sehr sensibel." Herr T. habe leider ausschließlich die Provokation von Alex Stier überall in dem Bergsträßer Dorf herumgezeigt – exklusive seiner eigenen vorangegangenen Äußerungen. Letztlich landete dieser Vorgang bei der Polizei, ohne dass jemand ein klärendes Gespräch mit ihm geführt hätte. Das habe in der Summe das Fass in Hambach zum Überlaufen gebracht.

Wie sieht es aktuell aus?

Mittlerweile hat sich die Lage dort weitgehend beruhigt. Zum einen hat Alex Stier als vertrauensbildende Maßnahme seinen alten Facebook-Account gelöscht. Doch er möchte grundsätzlich Twitter oder Facebook auch in Zukunft nutzen. Er ist überzeugt: "Ich habe eines gelernt: Nur mit ruhigem oder beruhigtem Gemüt kann eine gelungene Kommunikation stattfinden." Zum anderen konnte ich selbst auch helfend eingreifen. Zunächst bestand zwar von Verantwortlichen des Dorfes oder der Schule kein großes Interesse an Gesprächen, aber der erste kleine Sieg der Vernunft konnte gefeiert werden, als dem ersten Opfer der Causa Christophorus – der Tochter E. – geholfen wurde. Es war eine vermeintlich kleine Sache, aber für das Mädchen sehr bedeutsam. Ihre beste Freundin durfte die Wohnung der Familie Stier nicht betreten, weil – so das Gerücht unter Kindern – Alex Stier an einer ansteckenden Krankheit leiden würde. Da er davon ausging, die Eltern hätten die Besuche der Schulfreundin bei E. verboten, habe ich mit der Mutter dieser Freundin telefoniert. Das Ergebnis war überaus erfreulich: Hier lagen Missverständnisse vor, die die Kinder mit ihrer Fantasie ausgebaut hatten. Am Ende war die Sache geklärt und die sechsjährige E. überglücklich. Das zeigt, dass miteinander reden hilfreich ist und viel zur Deeskalation beiträgt.

Derart ermutigt haben Alex Stier und ich am vergangenen Freitag ein Gespräch mit einer wichtigen Person aus Hambach geführt. Ich will hier noch nicht zu viele Details verraten, weil die Sache noch schwebt und ich den positiven Fortschritt nicht gefährden will. Aber so viel darf ich sagen: Der kämpferische Vater hatte am Ende des Gesprächs zum ersten Mal das Gefühl, dass ihm jemand ernsthaft zugehört hat, dass sein Anliegen verstanden wurde und dass jemand die Gründe für die Eskalation nachempfinden konnte. Es wurden am Ende einige Ziele festgelegt, was als nächstes erfolgen muss, um zu dem Ziel zu gelangen, dass uns alle an diesem Tisch einte: den Frieden in Hambach wieder herzustellen – einen Frieden ohne Verlierer, einen Frieden auf Augenhöhe, der die Familie Stier vollständig rehabilitiert. Erst dann – so die Einschätzung des behandelnden Arztes von Alex Stier – wird er die Chance auf vollständige Genesung nach der Causa Christophorus haben.

Spätestens wenn dies erreicht ist – und wir haben großartige Unterstützung durch die gbs (Giordano Bruno Stiftung) –, werde ich hier meinen Abschlussbericht vorlegen. Alex Stier meinte bei unserem letzten Abschied hoffnungsvoll: "Vielleicht gibt es ja das Wunder von Hambach." Wenn sich Menschen darum kümmern – und es keinem höheren Wesen überlassen –, dann wird das möglich sein.


Siehe dazu auch:

Streit um die Christophorus-Schule in Hambach – Wo Jesus die Kinder begrüßt
Hexenjagd in Hambach? – Unliebsamer Atheist in Psychiatrie verbracht
Causa Christophorus – Ein Vater kämpft für seine Tochter