Kreuz-Erlass in Bayern

Di Fabios Besinnungsaufsatz zeigt dessen juristische Defizite

Ab 1. Juni 2018 ist nach einem Beschluss der bayerischen Landesregierung im Eingangsbereich aller Behörden ein Kreuz anzubringen. Es ist die erste große Entscheidung seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Dieser Beschluss ist von namhaften Juristen wie dem Verfassungsrechtler Horst Dreier scharf kritisiert worden. Jüngst erhielt Söder jedoch auch prominenten Zuspruch vom ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo Di Fabio, in dem Artikel "Gott steht im Grundgesetz" in DIE ZEIT vom 3. Mai 2018. Di Fabio erklärte die Regelung für verfassungsgemäß. In einer Bewertung des ZEIT-Beitrages stellen Gerhard Czermak und Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) fest, dass es sich um einen "Besinnungsaufsatz mit großer religionspolitischer Schlagseite" handele. Er zeige "enorme juristische Defizite Di Fabios bei der Bewertung des Neutralitätsgebots des Grundgesetzes". 

Am 3. Mai 2018 veröffentlichte der Juraprofessor und ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in DIE ZEIT den Artikel "Gott steht im Grundgesetz" (Druckausgabe DIE ZEIT, Nr. 19/2018, S. 4). Di Fabios Absicht ist erklärtermaßen die Verteidigung des Kreuz-Erlasses der bayerischen Landesregierung. Allerdings sind seine Thesen und sein methodisches Vorgehen, bei dem er nicht vor evidenzfreier Stimmungsmache zurückschreckt, gerade aus der Feder eines langjährigen Verfassungsrichters reichlich fragwürdig.

Der Text liest sich wie eine Unmutsbekundung gegenüber Kritikern des Kreuz-Erlasses – verfasst von einem in Sachen Neutralitätsgebot verfassungsrechtlich Halbgebildeten. Sein Beitrag schließt sogar mit der Überlegung, dass viele Muslime und manche Atheisten ihre Kinder in konfessionelle Kindertagesstätten und Schulen schickten, und muslimische Familien eine "gottlose" Gesellschaft mehr als konkurrierende Religionen fürchteten. Ein Gebet unter einem Kreuzzeichen sei für sie kein Problem und "ein Kreuz beim Betreten einer öffentlichen Behörde" für sie vielleicht "eher Beruhigung denn Provokation". Es wäre angebracht gewesen, dass Di Fabio Belege für derartige Thesen anführt. Er stellt jedoch diese Behauptungen nur unbegründet in den Raum. Die Sichtweisen der zahlreichen Nicht- und Andersgläubigen berücksichtigt er nicht. Dabei bilden Konfessionsfreie vielerorts in Bayern sogar die Mehrheit – nicht zuletzt in der Landeshauptstadt München.

Neutralitätsgebot

Schwerer wiegt allerdings das Versagen Di Fabios, ohne jeden Definitionsversuch von einem "Neutralitätsprinzip" auszugehen. Laut Di Fabio habe das BVerfG zwar Kreuze in Klassenräumen untersagt, aber die dann erfolgte bayerische gesetzliche Regelung mit Konfliktlösung habe bisher Bestand. Von einer klaren Verfassungswidrigkeit der Söder'schen verwaltungsinternen Anordnung, Kreuze im Eingangsbereich von Landesbehörden anzubringen, könne vor diesem Hintergrund keine Rede sein. Ex factis ius oritur? Zudem habe der Europäische Gerichtshof die Kreuze in italienischen Schulzimmern zumindest in zweiter Instanz für vereinbar mit der Menschenrechtskonvention (EMRK) erklärt. Der Menschenrechtsgerichtshof sei der Ansicht gewesen, jeder Staat dürfe religiöse Symbole auch als eigenes Identitätsymbol verwenden, solange daraus keine "Indoktrination" werde. Eine solche suggestive Wirkung entfalte das bloße Kreuz nicht, es habe keine "überwältigende Symbolkraft". Ein unverhältnismäßiger Eingriff in die negative Religionsfreiheit liege hier noch nicht vor.

Anders sei es, so Di Fabio, bei einem großen, ständig und unausweichlich im Blick liegenden Kruzifix. Regierungen dürften das Kreuzsymbol für sich deuten. Selbst das Grundgesetz spreche in seiner Präambel von "Gott". Das sei wohl keine "unzulässige Provokation für jeden religionsaversen Bürger …", sondern die "ideengeschichtlich bewusste Selbstermahnung der verfassungsgebenden Gewalt, jene Erinnerung für das unverkennbar Andere, jene Grenze der menschlichen Vernunft, die nicht zugängliche Dimension des Transzendenten." Die Rechtsprechung der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts sei nicht besonders konsistent und die Gerichte könnten nicht "autoritativ die Wertegrundlagen einer Gesellschaft bestimmen".

Dass dennoch die aktuelle Kreuzesdiskussion ein größeres politisches Thema sei, räumt Di Fabio immerhin ein. Im Weiteren beschwört der Autor das Gespenst eines laizistischen Konzepts, das auch die Verbannung friedlicher Symbole aus öffentlichen Räumen fordere. Dabei vertritt in Deutschland keine ernsthafte Gruppierung einen Laizismus, der jegliche Religion ganz aus der Öffentlichkeit drängt. Nach dem Grundgesetz dürfe der neutrale säkulare Staat, so Di Fabio weiter, den Religionsgemeinschaften wohlwollend die Hand zur Kooperation ausstrecken und Glaubensbotschaften übernehmen, "solange das nicht Parteinahme oder gar theologische oder inhaltliche Positionierung bedeutet". Die Frage sei, ob der bayerische Staat als Inhaber neutraler Gewalt sich mit dem Kreuzzeichen definieren könne, ohne den religiösen Frieden zu gefährden. Das wird von ihm aber nicht näher erläutert.

Hätte er versucht, eine konsistente verfassungsrechtliche Beurteilung des Kreuz-Erlasses zu finden, so wäre Folgendes festzustellen gewesen: Ausgangspunkt ist die religiös-weltanschauliche Unparteilichkeit des Staates. Di Fabio spricht stattdessen vage von "Neutralitätsprinzip" statt von Neutralitätsgebot. Er unternimmt nicht einmal den Versuch einer Definition. Was ist das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes?

Das Neutralitätsgebot betrifft die gesamte öffentliche Gewalt in Bund und Ländern. Es handelt sich um ein bundesrechtliches, objektives Verfassungsgebot und schreibt nicht nur individualrechtliche Gleichheit vor, wenngleich es ein wesentlicherAspekt des Gleichheitsgrundsatzes ist. Folglich haben es alle staatlichen Einrichtungen stets einzuhalten, ohne dass man sich grundrechtlich darauf berufen müsste. Die religiös-weltanschauliche Neutralität ist zwar kein Begriff des Verfassungstextes, jedoch mit dem Bundesverfassungsgericht normativ abzuleiten aus den Art. 3 III, 4 I, 33 III GG und Art. 136 I, IV WRV sowie Art. 137 I und VII WRV i.V.m. Art. 140 GG. Neutralität ist demnach kein bloßes Prinzip im Sinn einer allgemeinen Richtschnur, von der nach politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten durch Gesetz abgewichen werden könnte. Es ist vielmehr ein striktes Gebot des deutschen Weltanschauungsrechts bzw. Religionsverfassungsrechts (wie man herkömmlich sagte) und bedeutet schlicht die weltanschauliche Unparteilichkeit oder Nichteinmischung des Staates.

Vom Präambel-Gott und Eingangshallen-Gott

Di Fabio lässt die Frage der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Söder’schen Anordnung offen, tendiert aber dazu, keinen indoktrinierenden und unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff anzunehmen, weil das Behördenkreuz nicht groß und ständig unausweichlich im Blickfeld des Bürgers liege. Auch verweise "Gott" in der Grundgesetz-Präambel auf das Transzendente und der Staat sei nicht laizistisch.

Zwischen der objektiv-rechtlichen Neutralität des Staats und dem persönlichen Grundrecht der Weltanschauungsfreiheit besteht juristisch ein entscheidender Unterschied. Denn nur, wenn ein subjektives Grundrecht verletzt ist, kann der Rechtsweg erfolgreich beschritten werden. Der bloße, wenngleich verfassungswidrige Neutralitätsverstoß allein würde dem Bürger juristisch nichts nutzen. Di Fabio meint, den ZEIT-Lesern diesen entscheidenden Unterschied nicht darlegen zu sollen. Wenn die Kreuze wie geplant in den Eingangsbereichen der Landesbehörden aufgehängt werden, wäre es im Streitfall wegen des nur vorübergehenden Blickkontakts der Behördenbesucher mit dem Kreuzsymbol immerhin fraglich, ob der Rechtsweg erfolgreich sein kann. Der von der Söder-Regierung beabsichtigte ‚Eingangshallen-Gott‘ ist juristisch schwer greifbar.

Wenn man allerdings einen selbst noch so geringfügigen Grundrechtseingriff annimmt (immerhin wird hier dem rechtssuchenden Bürger sogar augenfällig demonstriert, welche weltanschauliche Richtung in der Behörde das Sagen hat), so muss dieser verfassungsrechtlich in vollem Umfang gerechtfertigt sein. Solche Rechtfertigungsgründe sind aber nicht im Ansatz ersichtlich, weil es das im Grundgesetz durch mehrere Normen im Grundsatz klar statuierte Neutralitätsgebot (Unparteilichkeit, Äquidistanz, Gleichbehandlung, Nichtidentifikation) dem Staat von Haus aus nicht gestattet, religiös beeinflussende Symbole an seinen Gebäuden anzubringen. Ob die Schwelle zur "Indoktrinierung" überschritten wird, spielt dabei keine Rolle. Da Symbole wesensgemäß auf jeden Betrachter anders wirken, kann der mindestens überwiegende religiöse Charakter des Kreuzes nicht staatlich wegdefiniert werden. Noch gravierender ist die Situation für Behördenangehörige, die täglich zwangsläufig am Kreuzsymbol vorbeikommen und vielleicht (z. B. in der sogar formal überwiegend nicht-religiösen Stadt München) aus wohlbegründeten historischen und philosophischen Erkenntnissen nicht an Gott im katholischen oder evangelischen Sinn glauben. Dennoch werden sie grundlos immer wieder von Unwissenden verunglimpft. Dabei ist der ‚Präambel-Gott‘ ein recht unterschiedlich (meist nicht als Person) verstandener und als solcher ein nichtssagender Begriff. Nach Überzeugung so gut wie aller Verfassungsrechtler ist er nicht geeignet, den säkularen und neutralen Inhalt der Verfassung zu ändern (siehe dazu: weltanschauungsrecht.de). Die Ausführungen Di Fabios dienen also nur der Stimmungsmache. Zu dieser zählt auch sein überflüssiger Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Lautsi, Italien, weil die Rechtslage in Deutschland gesondert zu beurteilen ist.

Rechtsprechung beachten

Statt nur auf die EGMR-Rechtsprechung in Straßburg hinzuweisen, hätte sich di Fabio auch mit der Rechtsprechung in Deutschland auseinandersetzen können. Das VG Darmstadt hat im Jahr 2003 für einen Kreistags-Sitzungssaal erstmals (nach Abschluss eines im gleichen Sinn entschiedenen Eilverfahrens in zwei Instanzen) den Kreistagsvorsitzenden durch sein Urteil verpflichtet, während der Sitzungen bei Anwesenheit der klagenden Kreistagsabgeordneten das Kreuz zu entfernen. In den Urteilsgründen ist ausgeführt, das Kreuz habe appellativen Charakter und beeinträchtige die "Bekenntnisfreiheit" (nach hier vertretener Terminologie: Glaubensfreiheit) bei der Amtsausübung. Das Ergebnis resultiere auch aus dem Umstand, dass "die Anbringung eines Kreuzes in einem Saal, in dem ein (mittelbar) staatliches Gremium wie der Kreistag tagt, um seinen Aufgaben im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung ... nachzukommen, rechtswidrig ist." Die Anbringung des Kreuzsymbols überschreite die Kompetenz des Kreistagsvorsitzenden und verstoße gegen das Neutralitätsgebot. Damit werden eigens angebrachte religiöse Symbole in derartigen Amtsräumen zutreffend generell untersagt, ohne Rücksicht auf den etwaigen Antrag eines Betroffenen. Entsprechendes muss für sämtliche anderen kommunalen Sitzungsräume und staatlich-öffentlichen Einrichtungen gelten.

Ebenfalls aufschlussreich wäre ein Blick in die Begründung des im Juni 2017 in Kraft getretenen "Gesetzes zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften", also zur Frage der Verschleierung von Beamtinnen und Beamten, gewesen. Zur Beachtung des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebots in der Exekutive heißt es: "Der Staat ist darüber hinaus verpflichtet, weltanschaulich-religiös neutral aufzutreten. Eine religiös oder weltanschaulich motivierte Verhüllung des Gesichts bei Ausübung des Dienstes oder bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug steht dieser Neutralitätspflicht entgegen." Was für – zumeist islamische Gesichtsverhüllungen – gilt, soll nach di Fabio nicht auch für das christliche Kreuz gelten? Di Fabio bleibt eine Antwort schuldig. Das bayerische Kabinett hat also zu erklären, warum es diese Auffassung des Bundesgesetzgebers für unzutreffend hält und eine gegenteilige Regelung beschließt. 

Zweierlei Maß

Di Fabio scheint überdies mit zweierlei Maß und damit gleichheitswidrig zu messen, wenn er das christliche Kreuz in bayerischen Behörden für mit dem Neutralitätsgebot vereinbar hält, hingegen das Kopftuch im Gerichtssaal oder der Schule nicht. So betonte er beispielsweise in einem Gastbeitrag "Begegnung mit dem Absoluten" der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) am 11. Januar 2017: "Neutral kann die Demokratie nur sein, wenn sie trotz wohlwollender Kooperation inhaltlich sichtbar Distanz zu Glaubensgewissheiten und Weltanschauungen hält. Das gerade ist der Sinn einer Amtstracht wie der Richterrobe – Ausdruck der Regel: Funktion vor Person." Weiter heißt es dort zum Kopftuch einer Richterin: "Ist es zu viel verlangt, dass eine Muslimin, die als Richterin diese voraussetzungsvolle Rechtsordnung repräsentiert, im Gerichtssaal ihrerseits ein Zeichen der Neutralität gibt? Wenn sie (nur) während öffentlicher Sitzungen, nur im Amt ihr Kopftuch ablegt, setzt sie ein Zeichen gegen das religiös Absolute." Auch bezogen auf die Schule und eine Lehrerin mit Kopftuch argumentiert er wohl für eine Neutralitätsregelung, wie sie beispielsweise in Berlin in Form des Neutralitätsgesetzes besteht: "Der verfassungsrechtliche Rang von Institutionen wie der funktionstüchtige und neutrale öffentliche Dienst als Baustein des Rechtsstaats verblasst, wenn religiöse Symbolik dem Beamten oder der Beamtin nur dann untersagt werden darf, wenn von ihnen in der Begriffswelt des Polizeirechts eine nachweisbare Gefahr ausgeht, wie etwa die konkrete Störung des Schulfriedens." In beiden Fällen ist jedoch eine Repräsentation des Staates zu bejahen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese unzulässige Repräsentation in seiner Kopftuch-Entscheidung aus dem Jahr 2015 für das staatlich verordnete Kreuz oder Kruzifix angenommen. Nach hiesiger Auffassung impliziert sowohl das islamische Kopftuch wie auch das christliche Kreuz eine Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Weltanschauung. Dies ist dem Staat untersagt. 

Fazit

Der bayerische Kreuz-Erlass verletzt ab dem 1. Juni 2018 das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot. Das dürfte auch den Rechtsexperten der bayerischen Landesregierung bewusst sein. Würden Söder und seine Kabinettskollegen den Gott-steht-im-Grundgesetz-Ansatz von Di Fabio juristisch ernst nehmen, hätten sie ihre Anweisung sicherlich nicht zwischenzeitlich halb zurückgenommen. Jedenfalls hat das Innenministerium erklärt, dass keine Kontrollen durchgeführt würden. Von Sanktionen bei Nichtbefolgung ist keine Rede. Und den Kommunen, Landkreisen und Bezirken kann die Landesregierung den neuen 'Eingangshallen-Gott’ ohnehin nur empfehlen und nicht vorschreiben. 

Resümierend sei festgestellt: Di Fabios weithin rezipierter Beitrag in DIE ZEIT ist nicht mehr als eine Art Besinnungsaufsatz mit großer religionspolitischer Schlagseite und lässt enorme juristische Defizite Di Fabios bei der Bewertung des Neutralitätsgebots des Grundgesetzes zu Tage treten.

Erstveröffentlichung auf der Webseite des ifw.