Zur aktuellen Sterbehilfedebatte

Wer A sagt, kann nichts gegen B sagen

TÜBINGEN. (hpd) Vor einem Monat hat sich Edgar Dahl kritisch mit den Thesen des Tübinger Philosophen Roland Kipke auseinandergesetzt, der den Befürwortern einer Liberalisierung der Sterbehilfe vorwarf, inkonsequent zu sein. Nun meldet sich Roland Kipke im hpd mit einer Entgegnung zu Wort.

Ich habe dafür argumentiert, dass die Position der Befürworter einer begrenzten Zulassung des assistierten Suizids nicht überzeugen kann. Es ist inkonsequent, einerseits aus Achtung vor der Selbstbestimmung und aus Gründen der Humanität die Zulässigkeit der ärztlichen Suizidassistenz zu fordern, andererseits sie auf Menschen mit unheilbaren und tödlichen Krankheiten zu beschränken. Wenn die Suizidassistenz zulässig sein soll, dann müsste sie es für alle sein, die schwer leiden und sich autonom entscheiden. Und nicht nur das: Auch die Ablehnung der kommerziellen Suizidassistenz und der Tötung auf Verlangen lässt sich ethisch nicht rechtfertigen, wenn man die ärztliche Suizidhilfe für zulässig hält. Wer A sagt, kann nichts gegen B sagen.

Edgar Dahl bestreitet den Vorwurf der Inkonsequenz. Dafür bringt er vor allem zwei Argumente vor: 1. Es lasse sich durchaus rechtfertigen, den Zugang zu Suizidassistenz zu beschränken, nämlich auf volljährige und urteilsfähige Personen, die zudem eine Bedenkzeit abwarten müssten. 2. Um möglichen Gefahren des Missbrauchs zu begegnen, ist es ethisch gerechtfertigt, die Suizidassistenz zunächst begrenzt zuzulassen. Sollten sich die Befürchtungen nicht bewahrheiten, könnte man später die Kriterien für die Zulässigkeit lockern und auch Menschen in anderen Lebenssituationen die Suizidassistenz ermöglichen.

Was ist davon zu halten?

Beim ersten Punkt hat Dahl Recht. Nur geht es dabei gar nicht um die gesuchte Rechtfertigung dafür, gewissen Menschen mit einer selbstbestimmten Entscheidung zum Suizid die Assistenz zu verweigern. Bedingungen wie Volljährigkeit, Urteilsfähigkeit und Bedenkzeit dienen vielmehr allein der Aussonderung unbedachter, voreiliger, unauthentischer, also nicht wirklich selbstbestimmter Entscheidungen. Sie dienen also der Gewährleistung der Autonomie. Eine autonome Entscheidung aber ist in den Augen der Befürworter von Suizidassistenz von vornherein Voraussetzung ihrer Legitimität. Somit handelt es sich bei den genannten Kriterien gar nicht um die gesuchten Zusatzkriterien. Sie sind kein Argument dafür, manchen Menschen mit selbstbestimmten Entscheidungen Suizidassistenz zu erlauben und sie anderen Menschen mit selbstbestimmten Entscheidungen zu verbieten. Dahl trifft nicht den Punkt.

Wie sieht es mit seinem zweiten Argument aus? Dahl versucht die begrenzte Zulassung hier als einen ersten Schritt in einem länger währenden Prozess zu rechtfertigen. Mit diesem "erst einmal" verlässt er jedoch die Position, die ich kritisiere: dass nämlich die Suizidassistenz nur für bestimmte Fälle zu rechtfertigen sei. Dahl unternimmt hier gar nicht mehr den Versuch einer grundsätzlichen ethischen Rechtfertigung, sondern bietet eine politische Strategie. Die ist zwar vielleicht in sich schlüssiger, aber damit bestätigt er nur meine Vermutung, dass es nicht bei den zurzeit anvisierten Regelungen bleiben wird. Dahl unterstützt nolens volens meine Argumentation.

Darüber hinaus lässt sich aber fragen, ob eine solche Strategie für einen Befürworter der Suizidassistenz überhaupt ethisch zu rechtfertigen ist. Wenn Suizidassistenz ein Gebot der Humanität und der Achtung vor der menschlichen Autonomie ist, lässt sich die – zeitlich befristete – Verweigerung der Suizidassistenz für bestimmte Menschengruppen dann mit einem Vorsichtsprinzip rechtfertigen? Nein. Die Menschen, die heute nicht Suizidassistenz in Anspruch nehmen dürfen, weil sie zwar schwer leiden, aber nicht an einer tödlichen Krankheit und vielleicht an gar keiner Krankheit, haben nichts davon, wenn ähnlich Betroffenen in zehn Jahren die Möglichkeit eröffnet wird. Sie leiden heute. Man kann nicht einerseits Suizidassistenz als Hilfe in der Not aus ethischen Gründen für dringend geboten halten und andererseits schwer leidenden Menschen diese Hilfe aus strategischen Gründen verweigern. Dahl meint, die Suizidassistenz dürfe zunächst auf "diejenigen Patienten" beschränkt werden, "die dieser Hilfe am meisten bedürfen." Doch leiden Menschen mit einer terminalen Krankheit mehr als Menschen mit einer schweren, aber nicht tödlichen Krankheit? Das ist abwegig. Wenn man den assistierten Suizid grundsätzlich befürwortet, ließe sich eher für das Gegenteil argumentieren: Menschen, die nicht ohnehin in absehbarer Zeit durch den Tod erlöst werden, bedürften viel eher der Suizidassistenz. Es sind solche Einschätzungen von außen über das "Leidensmaß" anderer Menschen, die in so auffälligem Kontrast zur antipaternalistischen Haltung der Befürworter stehen und ihre Position so eklatant widersprüchlich machen.

Zuletzt erhebt Edgar Dahl seinerseits einen Vorwurf der Inkonsequenz: Es sei inkonsequent, Suizidassistenz abzulehnen, aber passive Sterbehilfe zu befürworten. Doch so oft dieser alte Vorwurf gegen die Gegner von Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen auch wiederholt wird, er ist unberechtigt. Denn bei der passiven Sterbehilfe geht es um ein Abwehrrecht: hier die Abwehr gegen medizinische Maßnahmen zur Lebenserhaltung bei einem Leben, das ohnehin im Sterben begriffen ist. Das Abwehrrecht gilt im medizinischen Kontext aus guten Gründen nahezu unbeschränkt. Das Recht, bei seiner Selbsttötung Hilfe in Anspruch zu nehmen, wäre dagegen etwas völlig anderes. Wir sehen: Dahls Argumentation fällt bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Es bleibt dabei, dass die Forderung nach einer begrenzten Zulassung eine ethisch inkohärente Position ist. Zweifellos sollte man mit Alles-oder-nichts-Behauptungen vorsichtig sein. In diesem Fall aber ist es so: Entweder wir sagen A, dann können wir aber auch nichts Substanzielles mehr gegen B und C sagen, auch ohne dass wir das eigentlich wollen. Oder wir verzichten auf A. Ich empfehle dringend die zweite Option.