Ampel-Verhandlungen:

Historischer Fortschritt für säkulare Themen in Sicht?

Als noch nie so günstig wie in diesem Herbst wird die Gelegenheit für Änderungen im sogenannten Religionsverfassungsrecht in Deutschland von manchen eingeschätzt. Mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP sind zwei Parteien an den Koalitionsverhandlungen beteiligt, die sich – geht es nach den Aussagen in ihren Bundestagswahlprogrammen 2021 – für substantielle Reformen im Verhältnis "Staat und Kirche" einsetzen. Ob daraus etwas wird, werden wir vielleicht schon im Laufe dieser Woche wissen, oder auch etwas später, je nachdem wie die Ampel-Verhandlungen insgesamt vorankommen.

Die Union ist bekanntlich bei den Koalitionsverhandlungen nicht dabei, so dass die potentiell stärksten Bremser von Reformen gar nicht mitverhandeln, außen vor sind. So weit, so erfreulich. Ob es aber zu einem historischen Wendepunkt in der deutschen "Religionspolitik" kommen wird, ist eher mit großer Skepsis zu betrachten. Denn es gibt da auch noch die SPD, die sich bisher nicht mit säkularen Positionen hervorgetan hat. Der Blick in die Wahlprogramme der drei koalitionswilligen Parteien zeigt sehr starke Ungleichgewichte bei den einzelnen Parteien hinsichtlich ihrer Reformvorhaben.

Die FDP fasst ihre Vorstellungen in einem ganzen Absatz zusammen mit der Überschrift "Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht" und nennt insbesondere (für die Bundesebene) die Entwicklung eines neuen rechtlichen Rahmens "für alle Religionsgemeinschaften, die das Gleichheitsgebot und die Glaubensvielfalt, die Grundrechte sowie die Selbstbestimmung ihrer Mitglieder anerkennen", verlangt die Abschaffung der historischen Staatsleistungen an Kirchen, die Abschaffung "kirchlicher Privilegien im Arbeitsrecht, soweit sie nicht Stellen betreffen, die eine religiöse Funktion ausüben", und zum Islam heißt es, dass "liberale und progressive Muslime" ein stärkeres politisches Gewicht erhalten sollten. Die Finanzierung und Steuerung von Islamverbänden aus dem Ausland soll beendet werden zugunsten der Stärkung der Mitgliedschaft in Deutschland. Als eine Maßnahme dazu wird die Ausbildung von Imamen in Deutschland gesehen.

Bei der SPD findet man im Wahlprogramm 2021 lediglich eine einzige Aussage aus diesem Themenspektrum: "Gemeinsam mit den Kirchen wollen wir einen Weg erarbeiten, ihr Arbeitsrecht dem allgemeinen Arbeits- und Tarifrecht sowie der Betriebsverfassung anzugleichen." Sonst sucht man im Wahlprogramm Aussagen zu säkularen Themen vergebens.

Im Wahlprogramm 2021 von Bündnis 90/Die Grünen hingegen finden sich in ganz unterschiedlichen Kapiteln, mit einem Schwerpunktkapitel "Verhältnis Staat und Kirchen weiterentwickeln", eine ganze Reihe von Reformaussagen zum säkularen Staat und dessen Verhältnis zu Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Darunter befinden sich für Betriebe in kirchlicher Trägerschaft unter anderem die Forderung nach Reform des kirchlichen Arbeitsrechts (soweit nicht der "religiöse Verkündigungsbereich" betroffen ist) und die Förderung der gewerkschaftlichen Mitbestimmung sowie die Aufhebung der Ausnahmeklauseln im Betriebsverfassungsgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Damit sollen kirchliche Betriebe anderen Betrieben im sozialen und karitativen Bereich (etwa AWO, DRK, Volkssolidarität …) gleichgestellt werden als "Tendenzbetriebe".

Das Wahlprogramm enthält Forderungen nach der Abschaffung des sogenannten Blasphemieparagrafen 166 StGB und der Ablösung der historischen Staatsleistungen an die Kirchen. Weitere säkulare Positionen, die in das Wahlprogramm Eingang gefunden haben, sind: ein klares politisches Bekenntnis zum säkularen Staat und zum Neutralitätsprinzip, zur Reform des Verhältnisses "Staat/Kirchen", für eine lückenlose Aufklärung der Fälle sexualisierter Gewalt in Religionsgemeinschaften und die weltweite Stärkung des Rechts auf Religions-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit sowie die Unterstützung religiös und weltanschaulich Verfolgter weltweit.

Hinsichtlich "Islam" wird festgehalten, nur mit islamischen Verbänden zu kooperieren, die "in keiner strukturellen Abhängigkeit zu einem Staat, einer Partei oder politischen Bewegung und dessen oder deren jeweiliger Regierungspolitik stehen und sich religiös selbst bestimmen" sowie die Aussage, "progressive, liberale muslimische Vertretungen (in die politische Kooperation einzubinden), die für Werte wie Gleichberechtigung der Geschlechter, LSBTIQ*-Rechte und Feminismus einstehen und einen lebendigen Glauben innerhalb des islamischen Religionsspektrums praktizieren". Und schließlich findet sich eine Erklärung, die bei den Grünen lange Zeit nicht opportun war: "Auch zeigen wir uns solidarisch mit Kritiker*innen von fundamentalistisch-politischen Kräften, wenn sie massiv bedroht werden." Perspektivisch soll das islamische religiöse Personal in Deutschland ausgebildet werden, auch um die Abhängigkeit vom Ausland zu beseitigen.

Die gesellschaftlichen Veränderungen durch Abnahme der Zahl der konfessionsgebundenen und Zunahme der Zahl der konfessionsungebundenen Gesellschaftsmitglieder werden im Wahlprogramm erfasst mit der ausdrücklichen Formulierung: "Auch Konfessionsfreie haben einen Anspruch auf umfassende Berücksichtigung ihrer Belange und auf gleichberechtigte Teilhabe." Und schlussendlich wird "die Schaffung einer unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtung zur Erforschung der religiösen und weltanschaulichen Landschaft in Deutschland" verlangt.

Unterschiedliche Gewichtungen säkularer Themen

Bereits in den Wahlprogrammen der Ampel-Parteien in spe zeigen sich somit sehr unterschiedliche Gewichtungen zu säkularen Themen. Auch wenn das Programm von Bündnis 90/Die Grünen viele Aspekte erfasst und auch in Details geht (im Wesentlichen auf Bestreben der Säkularen Grünen), wird man eine generelle umfassende Reformbereitschaft bei der FDP annehmen können, denn deren Wahlaussage nach einer grundsätzlichen Reform zielt durchaus auf weitgehende Veränderungen.

Schon anhand der Wahlprogramme zeigt sich aber deutlich, dass die SPD zu säkularen Themen nicht nur nicht gut, sondern überhaupt nicht aufgestellt ist. Lediglich den Parteitagsbeschlüssen 2013 folgend wird auf eine Reform des kirchlichen Arbeitsrechts hingewiesen, allerdings mit der Einschränkung, dass gemeinsam mit den Kirchen ein Weg zu Reformen erarbeitet werden solle. Aus der politischen Szene kennt man, dass die Formulierung "mit den Kirchen gemeinsam" eine Reform anzugehen, die Beerdigung eines Themas bedeutet, bevor man überhaupt damit begonnen hat.

So erfreulich grundsätzlich die Parteiaussagen zur Säkularität in den Wahlprogrammen 2021 sind, so sehr sollte man sich aber im Reformwillen der SPD nicht täuschen. Je mehr Illusionen, umso größer die Enttäuschung.

Auch wenn mancherlei Hoffnungen damit verknüpft sind, dass auf grüner Seite in den einzelnen Verhandlungsgruppen starke Verhandler*innen dabei sind: beim kirchlichen Arbeitsrecht etwa Frank Bsirske (langjähriger Ver.di-Vorsitzender) und Beate Müller-Gemmeke (Fraktionssprecherin für Arbeitnehmer*innenangelegenheiten), beim Thema "Islam" Lamya Kaddor, in die viele Hoffnungen auf einen kritischeren Umgang mit den Islamverbänden setzen, und bei der Masse der säkularen Themen: Sergey Lagodinsky (MdE), der für die Europafraktion Delegierter bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne ist – zaubern können sie alle nicht (auch nicht gemeinsam mit den FDP-Verhandler*innen).

Annalena Baerbock hat auf dem grünen Landesparteitag in Brandenburg auf ein "heftiges Ringen" der drei Ampel-Parteien hingewiesen. Ob es um die säkularen Themen auch solch ein "heftiges Ringen" gegeben hat? Wohl eher nicht. Im politischen Ranking der vielen Koalitionsthemen stehen säkulare Angelegenheiten leider ganz weit unten. An unterschiedlichen Parteipositionen hierzu wird gewiss niemand eine Koalition scheitern lassen.

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