Der Wunsch, vorzeitig zu sterben:

Suizidbeihilfe auf dem Weg in die Normalität?

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Suizid ist vielerorts noch ein Tabuthema. Auch dem wohlüberlegten, frei gewählten Suizid haftet etwas Unmoralisches an. Und doch ist es in einer liberalen Gesellschaft wichtig, über dieses Thema zu diskutieren und auch rechtliche Lösungen zu finden.

Viele wollen trotz erheblichen Leidenszuständen die medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen und so lange leben, bis keine Lebensverlängerung mehr möglich ist – viele aber auch nicht. In der Schweiz wie in Deutschland stehen zur vorzeitigen Beendigung des Lebens vom Behandlungsverzicht über das Sterbefasten bis zum assistierten Suizid hinlänglich etablierte Möglichkeiten zur Verfügung.

Es ist absehbar, dass sie künftig häufiger eingesetzt werden – vermehrt auch in Situationen, die bei vielen derzeit noch auf Bedenken stoßen: Ist die Unterstützung beim sogenannten "Alterssuizid" einer noch weitgehend gesunden Person legitim? Oder: Darf einer psychisch schwer kranken Person mit äußerst geringen Heilungschancen nach einem langen Leidensweg beim Suizid geholfen werden?

Gerichtsurteile zu beiden Fragen sorgten in den letzten Monaten für Aufsehen. In der Schweiz wurde Pierre Beck, der frühere Präsident von Exit Westschweiz, höchstrichterlich freigesprochen. Er hatte der Ehefrau eines schwer Kranken ermöglicht, mit diesem zugleich zu sterben, weil sie ohne ihn nicht weiterleben wollte. In Deutschland wurden zwei Ärzte in erster Instanz zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Beide hatten psychisch Kranken geholfen, sich das Leben zu nehmen.

Suizidbeihilfe steht auch "Gesunden" zu

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht 2020 bestätigt, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Leben vorzeitig zu beenden – aus welchen Gründen auch immer. In der Schweiz gilt dieser Aspekt des Selbstbestimmungsrechts ebenso, auch wenn manche die Beihilfe zum Suizid nicht ohne Grenzen erlauben möchten.

Dies per Gesetz zu regeln, dürfte aber kaum eine Chance haben. Es existieren jedoch medizinethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die festlegen, wem Ärzte nicht beim Suizid helfen sollen, zum Beispiel denen, die noch weitgehend gesund sind. Im Fall Beck wurde allerdings höchstrichterlich klargestellt, dass diese Richtlinien nicht allgemein, sondern nur für Mitglieder der Ärztevereinigung FMH, der die meisten Ärztinnen und Ärzte der Schweiz angehören, verbindlich sind.

Unklar ist, wie oft Haus- oder Klinikärzte Suizidbeihilfe leisten und nach welchen Kriterien sie darüber gegebenenfalls entscheiden. In Deutschland ergab eine Umfrage von 2023 unter 1.163 jüngeren Klinikärzten, dass sich 62 Prozent der Befragten vorstellen können, beim Suizid von Patienten in der Palliativversorgung mitzuwirken. In der Schweiz liegt eine vergleichbare Umfrage über zehn Jahre zurück.

Dass in Kliniken Suizidbeihilfe zugelassen ist, dürfte bis jetzt eher eine seltene Ausnahme sein. Ob aber zumindest im Rahmen von Palliative Care Suizidbeihilfe als Ultima Ratio möglich wäre, sollte auch in Deutschland von Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) neu diskutiert werden.

Menschen mit psychischen Erkrankungen Suizidbeihilfe gewähren?

Die erstinstanzliche Verurteilung zweier deutscher Ärzte wegen Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken bedeutet nicht, dass solchen Patienten überhaupt keine Suizidbeihilfe gewährt werden darf. Vielmehr hatten die Staatsanwälte, die die Todesbescheinigungen zu begutachten hatten, den Verdacht, dass bei den Verstorbenen die sogenannte "Freiverantwortlichkeit" nicht gegeben war. Diese darf bei einer suizidwilligen Person nicht infrage stehen, wenn man ihr beim Suizid helfen will.

Unabdingbare Voraussetzung für Freiverantwortlichkeit ist die Urteilsfähigkeit: Die suizidwillige Person muss ihre Lage richtig verstehen und beurteilen können. Zudem muss die Entscheidung zum Suizid auf einer Abwägung der verfügbaren Optionen beruhen. Die Entscheidung darüber, wie weit die Bedingungen für die Freiverantwortlichkeit erfüllt waren, liegt nachträglich gegebenenfalls bei den vom Gericht bestellten psychiatrischen Gutachtern, falls es – wie in den beiden eingangs erwähnten Fällen – zu einer Anklage kommt.

Das Thema "Suizid und Psychiatrie" hat eine lange Geschichte. Erst allmählich lösen sich manche Fachgesellschaften in der Schweiz und in Deutschland von der traditionellen Sicht, ein Suizidwunsch sei immer pathologisch und seine Erfüllung müsse in jedem Fall verhindert werden. Hier besteht ein naheliegender Zusammenhang mit den tagtäglichen, oft sehr belastenden Erfahrungen der Psychiatrie, denn viele Suizidversuche erfolgen seitens psychisch kranker Personen in akuten Krisensituationen.

Zur Prüfung der Freiverantwortlichkeit stehen in der Schweiz die medizinethischen Richtlinien "Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis" der SAMW von 2019 zur Verfügung. In Deutschland wird es wohl erst ab Ende 2024 die "S2k-Leitlinie Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung" der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) geben, welche die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit einbezieht.

Nun hat aber das Schweizerische Bundesgericht bereits 2006 in einem Grundsatzurteil festgehalten, beim Wunsch nach Suizidbeihilfe von Personen mit psychischen Erkrankungen sei ein vertieftes psychiatrisches Fachgutachten nötig. Andererseits stellte die SAMW 2019 fest: "Die Richtlinien (...) gehen nicht vom Konzept aus, die Urteilsfähigkeit sei ein objektiv feststellbarer Befund."

Wie könnte man mit diesem Problem umgehen? Ein Modell, auf das in dieser Situation zumindest zurückgegriffen werden sollte, ist das "Vier-Augen-Prinzip" – also die Idee, dass beim Wunsch nach Suizidbeihilfe die Prüfung der Freiverantwortlichkeit der betreffenden Person immer durch zwei unabhängige Experten vorgenommen wird. Der Erstgutachter sollte dabei keinen Einfluss darauf haben, wer Zweitgutachter wird. Wenn es um psychisch Kranke geht, kommen dabei außer Psychiatern auch Psychologen mit einschlägiger Erfahrung in Betracht.

Normen entwickeln sich – wohin sollte die Reise gehen?

Noch immer haftet für viele nicht nur dem impulsiven, sondern auch dem wohlüberlegten, freiverantwortlichen Suizid etwas Unmoralisches, oft auch Beängstigendes an. Zudem spielen religiöse Sichtweisen im Zusammenhang mit Suizidbeihilfe auch heute noch eine Rolle. Sie dürfen indes nicht der weitgehend nichtreligiösen Mehrheit unserer pluralistischen Gesellschaft übergestülpt werden.

Allerdings sollte an dem Prinzip, dass jeder Arzt Suizidbeihilfe aus Gewissensgründen ablehnen darf, nicht gerüttelt werden. In der Schweiz sollte jedoch die heutige Praxis zur Diskussion gestellt werden, dass Kliniken zwar Sterbehilfeorganisationen für Vorgespräche mit Suizidwilligen zulassen, aber selbst keine Suizidbeihilfe leisten. Zu fragen wäre auch, ob psychiatrische Kliniken – genauso wie etliche niedergelassene Psychiater – bereit sind, die Freiverantwortlichkeit von Personen zu evaluieren, die beispielsweise eine Demenzdiagnose erhalten haben und nun ihr Leben beenden wollen.

In Deutschland ist hinsichtlich vieler solcher Fragen derzeit eine gewisse Lähmung zu beobachten. Es gibt zum Beispiel keine Anzeichen dafür, dass die "Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung" von 2011 bald aktualisiert werden. Drei Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, das eigentlich nur die seit Jahrzehnten bestehende Rechtslage bestätigte, von Liberalen aber als Durchbruch und von Konservativen als Schlag ins Gesicht empfunden wurde, kamen zwei Gesetzesentwürfe zur Regulierung von Suizidbeihilfe in den Bundestag. Beide scheiterten.

Bei der Bundesärztekammer will man erst einmal zuwarten, ob es doch noch zu einem Gesetz kommt, statt sich zeitnah wichtigen Fragen zum assistierten Suizid zu widmen. Doch mögliche neue Anläufe für ein "Sterbehilfegesetz" treffen auf Vorbehalte: "Liberalisierer" fürchten die in bisherigen Entwürfen zutage getretene – aus Schweizer Sicht "typisch deutsche" – Bürokratisierung des Verfahrens, während Konservative es nicht verwinden könnten, dass eine gesetzliche Regulierung der befürchteten "Normalisierung" von Suizidbeihilfe Vorschub leisten würde.

Dies jedoch erscheint ohnehin unabwendbar. Sich die Chance auf einen selbstbestimmten Tod offenzuhalten, ist ein Bestandteil des modernen Selbstbildes und wird es sicherlich auch bleiben.

Der Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der NZZ-Redaktion und der drei Autoren.

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