Sterbehilfedebatte

Staatlicher Regulierungseifer am Sterbebett

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Gita Neumann
Gita Neumann

BERLIN. (hpd) Drei Viertel der Bevölkerung wollen am Ende ihres Lebens kompetente Hilfe finden können, falls sie ein für sie unerträgliches Leiden freiwillig beenden möchten. Das bereitet vielen Bundestagsabgeordneten große Sorge – als Gesetzgeber wollen sie nunmehr sterbewillige Bürger/innen vor sich selbst und vor vermeintlich normal werdenden Angeboten von einem Suizidhilfeverein in Deutschland und in der Schweiz schützen.

Im schlimmsten und gleichzeitig wahrscheinlichsten Fall kann es dazu kommen, dass sogar die Hilfsmöglichkeit in der Schweiz für Deutsche kriminalisiert würden. Die Lage, was zukünftig wie reguliert oder wer mit Gefängnis bedroht werden soll, ist höchst verworren. Die beiden großen christlichen Kirchen haben allerdings eine klare Botschaft.

Wie Sand in die Augen gestreut wird

"Wir müssen verhindern, dass die Suizidbeihilfe in unserem Land zur alltäglichen Selbstverständlichkeit wird", heißt es in einer Erklärung vom 1. Juli 2015 des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. "Ohne ein klares gesetzliches Zeichen gegen geschäftsmäßig angebotene Beihilfe zum Suizid befürchten wir eine zunehmende Aufweichung des Tötungstabus in unserer Gesellschaft." So lautet ihr gemeinsamer Appell an die Bundestagsabgeordneten.

Mit diesen ist in den letzten Monaten landauf, landab bei öffentlichen Veranstaltungen über die Neuregelung der Suizidhilfe diskutiert worden. Dabei vermeiden diese tunlichst, sich als paternalistisch erkennen zu geben und streuen der Bevölkerung Sand in die Augen. So werden von den Vertreter/innen der einzelnen Anträge immer wieder Absichtserklärungen und zustimmungsfähige Ziele in den Vordergrund gestellt wie: "Keine Kommerzialisierung der Hilfe mit verzweifelten Schwerkranken - Straffreiheit für alle anderen; Wahrung der Selbstbestimmung und gebotenen Pluralität der Wertvorstellungen". Diese stimmen dann aber mit den konkret vorliegenden Gesetzestexte und ihren Folgen gar nicht überein. Teilweise wird in den Veranstaltungen auch schlicht gelogen. Wenn etwa behauptet wird, es ginge um Straffreiheit der Suizidhilfe wie bisher oder diese solle sogar gefördert bzw. für Ärzte jetzt ausdrücklich erlaubt werden.

So erklärt sich ein beunruhigendes Phänomen: Die drastische Knebelung einer möglichen Selbstbestimmungsoption am Lebensende durch den Deutschen Gesetzgeber ist kaum noch abwendbar. Dies geschieht gegen den Willen der meisten Bürger/innen in eigener Sache – doch ist von ihnen bisher unbemerkt geblieben. Denn argumentiert wird von der Politik nicht weltanschaulich, sondern mit dem folgenden Argument: Die Menschen wüssten eben nicht Bescheid über die Segnungen von Palliativmedizin und Hospiz. Und wenn man da jetzt nachbessere, würden so gut wie alle Suizidwünsche verschwinden und einer Kommerzialisierung Einhalt geboten. So finden sich auch unter einem drastischen Verbotsentwurf bekennende Christen, Atheisten, Lebensschützer und Kapitalismusgegner zusammen, deren Wertewelten sonst weit auseinanderliegen.

Fraktionsübergreifendes Durcheinander - drei Entwürfe

Auch Parteifreunde positionieren sich selbstverständlich in unterschiedlichen "Lagern". Fraktionsübergreifend liegen für die Bundestagsdebatte drei Gesetzentwürfe vor (ein vierter, der ein absolutes Verbot jeglicher Form der Suizidhilfe als Tötungsdelikt vorsah, hat keine Chance)*. Alle drei bezeichnen sich selbst als "liberal" bzw. "moderat". Das macht es für das Publikum nicht einfacher zu durchschauen, was auf uns alle zukommen wird. Endgültig entscheiden will der Bundestag im Herbst, wobei höchstwahrscheinlich die drei folgenden Entwürfe überhaupt nur zur Abstimmung kommen werden.

  1. Drastisch berichtet Peter Hintze (CDU) immer wieder von Extremfällen, für die es eine Lösung geben müsse – etwa für einen Patienten mit Mundbodenkrebs, "der sich stinkend nach außen frisst". Nur für solche Menschen in extrem drastischen Situationen will Hintze unter anderem zusammen mit Carola Reimann und Karl Lauterbach (beide SPD) eine Regelung im Zivilrecht einführen. Die Verfasser betonen den Grundsatz vom "weltanschaulich neutralen Staat", dem es obliege, beim ärztlich assistierten Suizids "ausreichend Raum für vom individuellen Gewissen und individueller religiöser Überzeugung geleitete Entscheidungen zu lassen". Doch halten sie sich selbst daran? Einem Patienten bei der "selbst vollzogenen Beendigung seines Lebens" zu helfen, soll dem Arzt nämlich "nur dann" (!) erlaubt sein, wenn "die Wahrscheinlichkeit des Todes medizinisch festgestellt" worden ist. Dies soll dann medizinisch fachgerecht durchzuführen sein. Ohne das in Deutschland ja in der Humanmedizin gar nicht zugelassene Natriumpentobarbital oder ein vergleichbares Mittel? Offen bleibt auch, wie der Entwurf seine ausdrückliche Absicht verwirklicht sehen will, dem in Deutschland tätigen Suizidhilfeverein Sterbehilfe Deutschland das Wasser abzugraben und ihrem Vorsitzenden Roger Kusch das Handwerk zu legen.
  2. Mit Abstand den größten Unterstützerkreis hat bisher eine überfraktionelle Initiative aus allen Parteien um Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD). Sie wollen – durchaus im Sinne des Kirchenappells - jede "geschäftsmäßige", d.h. wiederholt durchgeführte Suizidhilfe verbieten. Und dies auch, wenn sie unentgeltlich erfolgt, denn "geschäftsmäßig" hat nur umgangssprachlich mit "Geschäftemacherei" zu tun und bedeutet juristisch nichts anderes als "wiederholt oder regelmäßig durchgeführt oder angeboten". Das neue Verbot soll in einem neuen Straftatbestand im Umfeld der Tötungsdelikte angesiedelt werden. Davon wäre auch die Suizidhilfe für Deutsche in der Schweiz potentiell betroffen. Es könnte gar eine Verhaftung des Schweizer Vorsitzenden der Sterbehilfeorganisation Dignitas geben, wenn dieser dann deutschen Boden beträte. Nur die (laienhafte oder teilnehmende) Hilfe im privaten Kontext (durch Angehörige, Nahestehende) soll nicht sanktioniert werden. Nach dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Kauder und den Parteivorsitzenden Merkel und Seehofer hat sich auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Oppermann bereits demonstrativ hinter diesen Antrag gestellt.
  3. Die Gruppe um Renate Künast (Grüne) und Petra Sitte (Linke) tritt mit einem Gegenvorschlag zu Brand/Griese an und hat ein sehr ausführliches Gesetz "über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung" formuliert. Zielbestimmung soll sein "Fürsorge statt Strafe". Hierin wird positiv die derzeitige Rechtslage normiert und beschrieben, dass die Hilfe zum Freitod nicht rechtswidrig ist. Nur eine gewerbsmäßige, auf dauerhafte Gewinnerzielung angelegte Hilfe zur Selbsttötung soll mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Die (wiederholte) einschlägige Tätigkeit von Ärzten, Sterbehilfevereinen und auch Mitarbeiter/innen von gemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen soll peniblem Sorgfaltskriterien unterworfen werden – bei Missachtung drohen auch diesen bis zu zwei Jahre Gefängnis. Insofern kann der Titel des Entwurfs ("über die Straffreiheit") eigentlich nur meinen, dass es keine Strafrechtsregelung im Umfeld der Tötungsdelikte geben soll.

Mit ihren teilweise doch recht strengen Regularien setzt Künast nach eigenen Auskünften darauf, noch Abgeordnete, die sich ernste Sorgen machen, auf ihre Seite ziehen zu können. Damit ist strategisch eine "Abwerbung" der Unterstützer für den Brand/Griese-Entwurf gemeint.

Bewertungen aus humanistischer Sicht

Zwar ist der Brand/Griese-Vorschlag als besonders drastische Verbotsregelung am schärfsten abzulehnen. Aus humanistischer Sicht sind aber auch die beiden anderen vorliegenden Entwürfe für ein Gesetz zur Suizidhilfe mit ihren Einschränkungen (etwa nur auf schwerstleidende Sterbende) oder Überregulierungen (etwa für nicht-ärztliche Mitarbeiterinnen von gemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen) abzulehnen.

Vermeintliche Begründungen für einen Kontroll- oder Verbotseifer stellen sich als Behauptungen, Ressentiments, strategische Überlegungen oder – meist religiös geprägte - Vorbehalte heraus. Tatsache ist demgegenüber, dass es weder eine "Geschäftemacherei" mit der selbstverantworteten Lebensbeendigung gibt noch Verstöße und Gefahren, denen nicht mit der bisherigen Rechtslage zu begegnen wäre. Nur ein Antrag der Bundestagsabgeordneten Katrin Keul (Die Grünen) stellt völlig zurecht und auf Tatsachen gestützt fest, dass es gar keinen staatlichen Regelungsbedarf gibt – und erst Recht nicht im Strafrecht. Katja Keul erhielt bei der Debatte am 2. Juni jedoch nicht einmal Rederecht ihr Antrag hat keine Chance.

Es gibt keinen Bedarf für Einschränkungen – die dann wieder eine Sondererlaubnis für bestimmte Personengruppen oder bestimmte Formen der Suizidhilfe ("nicht-organisiert", laienhaft, einmalig) nach sich ziehen. Gegen eine vermeintliche Verleitung zur Selbsttötung reicht die bestehende Rechtslage völlig aus. Deshalb bleibt deshalb weiterhin richtig, was das Bündnis zur Selbstbestimmung am Lebensende im März 2014 in seinen Leitsätzen formuliert hat:

"1. Die Beihilfe zur Selbsttötung (Suizidbeihilfe) ist in Deutschland straffrei (oder "keine Straftat"), wenn der Entschluss zur Selbsttötung freiverantwortlich ist. Wer hingegen Suizidbeihilfe leistet, wenn der Tatentschluss des Suizidenten aus einer krankhaften Störung entspringt, macht sich nach geltendem Strafrecht wegen Tötung strafbar.
2. Es besteht keine Notwendigkeit, an dieser geltenden Rechtslage etwas zu ändern."

Insbesondere ist eine neue Verbotsregelung im Strafrecht zurück zu weisen, was in einem beeindruckenden Appell von 140 namhaften Strafrechtsprofessoren bekräftigt wird. Die vielen noch unentschiedenen Bundestagsabgeordnete aller Parteien sind dazu aufgefordert, dies ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die Stellungnahmen von medizinischen Vereinigungen wie der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin oder der Hämatologen und Onkologen, die sich gegen das Mittel des Strafrechts aussprechen.

Jedoch dürfte der Zug abgefahren sein in Richtung des Gesetzentwurfs Brandt/Griese (Strafrechtsverbot geschäftsmäßiger Hilfe zur Selbsttötung). Da erscheint es fast müßig, wenn innerhalb des humanistischen Spektrums uneinheitliche Bewertungen darüber bestehen, welcher Alternativentwurf (der von Künast/ Sitte oder der von Hintze/ Reimann) stattdessen vorzugswürdig wäre. Einige Strategen gehen soweit, dass es das Beste sei, wenn der Strafrechtsentwurf von Brand/ Griese durchkommt. Dieser sei verfassungsrechtlich wohl am ehesten zu kippen. Denn wie sollte zu begründen sei, dass Menschen, die bei einer dann strafbaren geschäftsmäßigen Suizidhilfe nur "Teilnehmer" sind, straffrei bleiben sollen – aber das wiederum auch nur, wenn es sich um Angehörige oder Nahestehende des Suizidenten handelt. Die Strafrichter hätten dann Kriterien wie das Angehörigen-Verhältnis oder des Nahestehens zu prüfen bei der Frage, ob jemand ins Gefängnis gehört oder nicht.


* Anmerkung der Redaktion: 

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels war noch nicht bekannt, dass der entsprechende Gesetzesentwurf (Sensburg u.a.) doch die erforderliche Anzahl an Unterstützern aus dem Bundestag erhalten würde.


Alle vorliegenden Entwürfe im Wortlaut hier:

http://www.patientenverfuegung.de/aktuelles/2015–6–26/die-vier-gesetzentwuerfe-zur-suizidbeihilfe-plus-ein-antrag

Juristische Begrifflichkeiten in der aktuellen Suizidhilfe-Debatte:

geschäftsmäßig: wiederholt, regelmäßig (auch unentgeltlich / ehrenamtlich)

gewerbsmäßig: auf regelmäßige Gewinnorientierung ausgerichtet, gegen Vergütung (nicht nur Aufwandsentschädigung)

organisiert: mehr als zwei Beteiligte handeln arbeitsteilig und planmäßig auf längere oder unbestimmte Dauer zusammen.