Interview

"Eine Gesellschaft, die Frauenverachtung toleriert, ist eine anti-aufklärerische Gesellschaft"

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Naïla Chikhi
Naïla Chikhi

Die Nacht zurückzuerobern war eines der erklärten Ziele der Frauenbewegung. Dahinter steht der Anspruch, dass Frauen sich auch nachts frei in der Öffentlichkeit bewegen können, ohne Angst vor Übergriffen. Selten ging das so gründlich schief wie in der Silvesternacht 2015/2016, als hunderte von Frauen vor dem Hauptbahnhof in Köln – aber nicht nur dort – Opfer sexualisierter Gewalt wurden.

Vor kurzem ist das Buch "Ich will frei sein, nicht mutig" erschienen, das den fünften Jahrestag der Ereignisse zum Anlass nimmt, das Thema noch einmal auf die politische Tagesordnung zu setzen. Der hpd sprach mit einer der beiden Herausgeberinnen, Naïla Chikhi, über universelle Frauenrechte, das Frauenbild der Täter und eine Debatte, in der die Stimmen migrantischer Autorinnen nur bedingt Gehör finden.

hpd: Warum erschien es Ihnen notwendig, die Übergriffe der Silvesternacht 2015/2016 noch einmal zu thematisieren?

Naïla Chikhi: Unmittelbar nach den massiven sexuellen Übergriffen auf Frauen in jener Nacht wurde die Diskussion umgelenkt. Anstatt über diese geschlechtsspezifische Gewaltform als solche zu sprechen, ihre Ursachen zu analysieren und sich mit den Folgen für die Opfer, aber auch für die Frauen im Allgemeinen auseinanderzusetzen, erlebten wir einen ideologischen Battle zwischen Rechtspopulisten und sogenannten intersektionalen Queerfeministinnen. Einige Frauen hier im Lande, wie etwa Mina Ahadi, eine der Autorinnen unseres Sammelbandes, oder auch Männer aus dem Ausland, wie etwa der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, meldeten sich zu Wort und legten eine feministische und gesellschaftskritische Perspektive auf das Geschehen dar. Sie wurden aber recht schnell verdrängt.

Durch meine politische Arbeit habe ich Rebecca Schönenbach, Vorsitzende von Frauen für Freiheit, kennengelernt. Seit jener Silvesternacht tauschen wir uns regelmäßig über Formen von Gewalt gegen Frauen aus, wie zum Beispiel 2018 auf einer von ihrem Verein organisierten Fachveranstaltung zum Thema "Frauen, Terror und sexuelle Gewalt". Wir stellen schon lange fest, dass beim Thema Gewalt gegen Frauen wiederkehrend über Sicherheitsmaßnahmen gesprochen wird, während der feministische und somit gesamtgesellschaftliche Aspekt stets unberücksichtigt bleibt. So entschieden wir uns gemeinsam mit zehn engagierten Mitstreiterinnen aus unterschiedlichen Kreisen, unseren Standpunkt zum Thema Gewalt gegen Frauen zu äußern, unsere Analyse darzulegen und auch Lösungsansätze anzubieten.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Diskussion vor fünf Jahren diesen irritierenden Verlauf genommen hat? Warum empfanden Teile der Medien, aber auch der Linken die Verwendung des Wortes "Nafri" durch die Polizei als diskussionswürdiger als die massiven sexuellen Übergriffe auf hunderte von Frauen?

Zum einen liegt es daran, dass die polizeiliche Behörde und das Ministerium für Inneres und Kommunales nicht transparent gehandelt haben. Das hat für Misstrauen gesorgt. Zum anderen liegt es daran, dass nach der Aufnahme von fast einer Million vor dem Krieg fliehenden Menschen die politische Stimmung im Land sehr aufgeheizt war. Die erschütternden massiven sexuellen Übergriffe nutzte das rechtspopulistische Lager, um seine fremdenfeindliche Propaganda zu säen. Und bedauerlicherweise war das linke Spektrum nicht im Stande, innezuhalten, die Fakten zu analysieren, um dann eine eigene Position zu erarbeiten und diese zu verteidigen. Die Politik der "neuen Linken" scheint eine Politik der "Reaktion auf rechte Positionen" zu sein. Mit anderen Worten: auch wenn die Populisten – zum Glück – bis jetzt nur eine laute Minderheit bilden, bestimmen sie das Spiel. Und wenn man zwischen zwei Lautsprecheranlagen steht, ist es schwierig, eine sachliche und faktenbasierte Debatte zu führen.

Es ist bekannt, dass Behörden wie viele andere politische und gesellschaftliche Gruppen auch bestimmte Abkürzungen in ihrem Jargon verwenden. Und in der Tat ist der Begriff "Nafri" kritikwürdig. Aber in dem Moment hat mich persönlich als Nordafrikanerin die Verwendung des Begriffs nicht gestört. Erschüttert hat mich vielmehr das Ausmaß der Gewalt. Darauf hatte ich meinen Fokus. Als ich zum ersten Mal den Begriff in den Medien hörte, ahnte ich sofort, dass man sich daran festkrallen wird, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Denk- und Sprachpolizei zu spielen, scheint das neue Leitmotiv mancher Linker zu sein. Es ist in der Tat einfacher zu bestimmen, welches Vokabular und welche Meinung zulässig oder unzulässig sind, anstatt sich mit den realen Ursachen von Gewalt auseinanderzusetzen.

"In der Tat ist der Begriff 'Nafri' kritikwürdig. Aber in dem Moment hat mich persönlich als Nordafrikanerin die Verwendung des Begriffs nicht gestört. Erschüttert hat mich vielmehr das Ausmaß der Gewalt."

Nun sind rassistische Zuschreibungen, wenn es um sexuelle und sexualisierte Gewalt gegen Frauen geht, ja nicht von der Hand zu weisen. Die Franzosen, die Juden, die Schwarzen – jede Epoche hatte ihr Feindbild, von wem deutsche Frauen Gefahr zu erwarten haben. Es waren immer die anderen. Wie kann angesichts dessen eine kritische Perspektive auf "Köln" aussehen?

Gewalt gegen Frauen ist nicht typisch europäisch und rassistische Zuschreibungen sind es auch nicht. Fast alle Konflikte, ob bewaffnet oder nicht, werden auf dem Körper der Frau ausgetragen. Wichtig wäre es gewesen, sich zu fragen: Wie ist es dazu gekommen, dass mehrere hundert Männer sich an bestimmten Plätzen versammelt haben, wer waren diese Männer, waren die Übergriffe geplant, wohin haben sich die Täter danach zurückgezogen und so weiter. Es geht nicht darum, eine bestimmte Gruppe zu stigmatisieren, deshalb sprechen wir im Buch von "Tätern" und lehnen ihre Zwangskollektivierung als Migranten oder Muslime ab. Diese Verallgemeinerung setzten sowohl Rechte als auch Linke gleichermaßen und gleicherweise ein. Und deshalb ist die Gewalt gegen Frauen trotz ihres Ausmaßes in dieser Nacht medial kaum thematisiert worden.

So erinnern wir im Buch daran, dass es um Täter geht, die eine Straftat begangen haben und die dafür zur Verantwortung gezogen werden müssen. Es geht um eine Form der Gewalt gegen Frauen, die hauptsächlich in Ländern üblich ist, in denen der Islamismus Einzug gehalten hat und in denen seitdem die Frauenverachtung zur unerträglichen Normalität geworden ist. Es geht um Gewalt gegen Frauen als Machtinstrument, das sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum eingesetzt wird. Die Herkunft der Täter ist in der Tat unbedeutend, allerdings brauchen wir eine Analyse ihrer Sozialisation und der Lehren und Normen, die sie dazu anleiten, Frauen zu hassen und ihnen gegenüber gewalttätig zu sein. Lässt man die "Quelle des Übels", wie in den Herkunftsländern, außen vor, wird es unmöglich sein, geeignete Präventionsmaßnahmen zu entwickeln und folglich lässt man es zu, dass Frauenverachtung fortbesteht.

Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland trauriger Alltag. Und auf Volksfesten oder Betriebsfeiern kommt es oft genug zu Übergriffen, von der saudummen Anmache bis hin zur Vergewaltigung. Was hat die besondere Qualität von "Köln" ausgemacht?

Die Gewalt an sich ist in der Tat vergleichbar. Ob auf Volksfesten oder in jener Silvesternacht – das Motiv liegt im Frauenbild vieler Männer: Frauen sind Sexobjekte und die überlegenen Männer dürfen sich bedienen! Der ideologische Hintergrund und das Ausmaß der sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/2016 unterscheiden sich aber sehr von dem, was Frauen auf Volksfesten erleben. Wir sprechen hier von hunderten Sexualdelikten gegen Frauen, die mehrere Stunden dauerten und in mehreren europäischen Städten nach dem gleichen Muster abgelaufen sind.

Was mich persönlich in der aktuellen Debatte über Gewalt gegen Frauen stört, ist das "zweierlei Maß" mancher sogenannter Feministinnen: Geht es zum Beispiel um Köln, ist die erste Reaktion, die Täter hinter einer fiktiven, auferlegten kollektiven Identität schützen und die Tat sofort mit Übergriffen auf Volksfesten zu vergleichen. Wird hingegen der Vergleich von #MeToo mit demselben Phänomen #MosqueMeToo gezogen, wird dieser rückzugartig abgelehnt. Dieser Drang, Täter aus bestimmten Kulturkreisen schützen zu wollen, ist für mich einfach anti-feministisch und hat nichts mit Intersektionalismus zu tun. Denn übersetzt heißt es: Abhängig davon, woher Täter und Opfer stammen, wird das Recht auf Schutz unterschiedlich bewertet und mildernde Umstände werden eingeräumt. Für uns Autorinnen gilt eine Regel: Bei Gewalt gibt es weder religiöse noch kulturelle Vergünstigungen. Die Menschenrechte und somit die Frauenrechte sind universal und unteilbar.

Cover

Eine der Kernthesen des Buches ist, dass die Frage nach der Herkunft der Täter von Bedeutung ist, weil diese Herkunft Rückschlüsse auf das Frauenbild zulässt, mit dem zumindest ein größerer Teil der Männer aufgewachsen ist. Wie sehen dessen Grundzüge aus?

Überall, wo die islamistische Ideologie und ihre archaische Auffassung der Geschlechterrollen Fuß gefasst haben, hat sich die Stellung der Frau extrem verschlechtert, sei es in den sogenannten muslimischen Ländern oder auch hier im Westen in den sogenannten muslimischen Communities. Wenn die Feministinnen in den sogenannten muslimischen Ländern vor etwa einem halben Jahrhundert um die Gleichberechtigung der Geschlechter kämpften, lautet heute ihr Slogan karama insananiya (Menschenwürde). Wie jede extremistische Ideologie beruht der Islamismus – ob der gewalttätige oder der politische – auf der Vormachtstellung der Gemeinschaft, die sich auf die Überlegenheit jedes einzelnen kleinen Patriarchen, also Mannes, aufbaut. Und diese Superiorität soll von Gott gegeben sein. Ebenso wie die Unterlegenheit der Frau. Als Untertanin muss sich die Frau an eine reaktionäre – vermeintlich göttliche – Sexualmoral halten. Verstößt sie gegen die Normen, wie zum Beispiel, den öffentlichen Raum ohne Mharam (männlichen Vormund) zu betreten, gilt sie als Aura (Blöße) oder Moutabarridja (eine geschminkte und somit ehrlose, schamlose Frau), die eine Gefahr für die Tugend der Gläubigen darstellt und die deshalb zu disziplinieren ist. Die Disziplinierungsmaßnahme kann psychisch, physisch oder sexuell sein – ManN hat die Wahl.

"Die Herkunft der Täter ist in der Tat unbedeutend, allerdings brauchen wir eine Analyse ihrer Sozialisation und der Lehren und Normen, die sie dazu anleiten, Frauen zu hassen und ihnen gegenüber gewalttätig zu sein."

Das sind Anschauungen, die – je nach Gebiet – vor 50 bis 100 Jahren auch in Europa noch präsent waren. Sie gehören nach meiner Einschätzung zum Kernbestand des Patriarchats. Viele der Beiträge im Buch legen hingegen besonderes Gewicht auf Religionskritik. Warum?

Ja, die Idee der Dominanz des männlichen Oberhaupts bildet den Kern des Patriarchats. Und das Patriarchat ist wie ein Chamäleon, das sich situationsabhängig anders färbt, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten. Wir kennen die Allianz des Patriachats mit der Politik, wo wir dann die strukturelle Diskriminierung der Frau erleben; die Allianz mit dem Kapitalismus, die in der Ausbeutung des Frauenkörpers wie etwa durch Prostitution oder Leihmutterschaft zu erkennen ist; oder auch mit der Religion, insbesondere mit ihrer fundamentalistischen Auslegung. Und das Bündnis zwischen Patriarchat und Religion ist meines Erachtens das älteste, das stärkste, aber auch das fatalste für Frauen. Politik kann man ändern, Kapitalismus kann man beseitigen. Aber wer würde eine vermeintliche Überlegenheit ablehnen, die von einem allmächtigen Gott verliehen ist? Weshalb sollte man zurückschrecken, Gewalt gegen Frauen anzuwenden, wenn sie durch "heilige" Schriften gerechtfertigt wird? Welcher Gläubige würde sich trauen, Gottes Wort zu widersprechen? Kurz gesagt: Wenn Hinterfragen, Kritik und Widerspruchsmöglichkeit aufgrund des Glaubens unterbunden werden, ist es schwierig, real existierende Menschenrechtsverletzungen zu beseitigen.

Obwohl die Autorinnen sehr unterschiedliche Backgrounds haben und sich während des Schreibens nicht ausgetauscht haben, führen ihre Beobachtungen zu ein und demselben Schluss: Wenn Religionskritik verunmöglicht wird, sei es in den sogenannten muslimischen Ländern oder auch in den christlich geprägten Ländern, hat das stets dazu geführt, dass Frauen Verachtung, Hass und Gewalt erleiden müssen.

Da stellt sich mir die Frage, warum in Deutschland innerhalb von nur einer Generation das Bewusstsein dafür, wie stark Religion zur Abwertung und Unterdrückung der Frau beigetragen hat, so deutlich zurückgegangen ist. Warum wird das antifeministische Potential von Religion beispielsweise von den "Netzfeministinnen" unterschätzt?

Ich würde nicht behaupten, dass die sogenannten "Netzfeministinnen" das antifeministische Potential von Religion unterschätzen. Entweder sie kennen es nicht oder – und ich tendiere zu dieser Erklärung – sie ignorieren es bewusst, wenn es um den Islam geht. Sicherlich ist das darauf zurückzuführen, dass sie mit Vertreterinnen des politischen Islam vernetzt sind. Das gibt ihnen den Eindruck, offen und tolerant zu sein – ungeachtet dessen, was sie im Endeffekt tolerieren.

Generell stelle ich mir die Frage, weshalb man im 21. Jahrhundert in einem halbwegs aufgeklärten Land wie Deutschland das antifeministische Potential von Religion derart verkennt? Und die einzige Erklärung, die ich bis jetzt finde, ist, wie wir es in der Einführung des Buches angermerkt haben, dass die heutige westliche Generation sich vom emanzipatorischen, religionskritischen und revolutionären Geist der zweiten Frauenbewegung abgewendet hat.

Wir haben es mit einer Generation zu tun, die universelle, säkulare und humanistische Rechte geerbt, jedoch nicht selbst erkämpft hat. Sie genießt die Vorteile des Kampfes ihrer WegbereiterInnen. Die Einschränkungen, die ihre Eltern aufgrund der Macht der Kirche erfahren mussten, kennen sie nicht. Sie haben darunter nicht gelitten. Der algerische Volksmund sagt: "Nur wer schon einmal auf ihr geschritten ist, kann die Verbrennung durch die Glut spüren." Ich musste bitter feststellen, dass zum Beispiel diejenigen, die heute für die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes aktiv eintreten oder das Kopftuch als Symbol der Emanzipation bezeichnen, nicht nur kirchlich engagierte Politikerinnen sind, sondern auch einige sogenannte humanistische Atheisten. Da frage ich mich als säkulare Muslimin, was denn in den letzten Jahren so schief gelaufen ist in Deutschland.

"Für uns Autorinnen gilt eine Regel: Bei Gewalt gibt es weder religiöse noch kulturelle Vergünstigungen. Die Menschenrechte und somit die Frauenrechte sind universal und unteilbar."

Was an der Autorinnenliste auffällt: Die Mehrheit der Beteiligten sind Frauen "mit Migrationshintergrund". Und: Es sind sowohl Frauen aus der zweiten Welle des Feminismus als auch ziemlich junge Autorinnen beteiligt. Die aus Kreisen der identitären Linken oft zu hörende Behauptung, ein religionskritischer Feminismus sei die Perspektive alter, weißer Frauen, beschreibt die Realität also offenbar nicht völlig richtig ...

Ein deutlicher Beweis von Ignoranz und Eurozentrismus! Es ist bekannt, dass eine Person mit identitärer Gesinnung nur im Rahmen ihrer Ideologie "denkt" und meist unfähig ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Ob sie nun rechts, links oder islamistisch ist. Identitäre setzen sich nicht mit Fakten auseinander. Denn sonst wüssten diese mehrheitlich "weißen" identitären Linken, dass die feministische Bewegung in den sogenannten muslimischen Ländern zunächst säkular beziehungsweise laizistisch und antikolonialistisch war und immer noch ist. Sie würden den starken Widerstand der Frauen Lateinamerikas gegen den mächtigen Einfluss der konservativen Kirchen nicht derart ausblenden.

Ideologien brauchen Feindbilder: Die Islamisten haben die Frauen, die Juden, den Westen, die Moderne; die Rechten haben die Juden, die Schwarzen, die Frauen und alle Andersaussehenden; und die identitären Linken haben für sich ein eigenes Feindbild erschaffen, den sogenannten alten weißen Mann, oder Frau, um sich selbst und ihrem Diskurs eine Legitimation zu geben. Dabei merken sie nicht, dass ihre Grundhaltung ihnen diese Legitimation im Grunde genommen abspricht. Eine deutliche Ähnlichkeit zwischen Islamisten und identitären Linken erkennt man beispielsweise beim Thema religionskritischer Feminismus. Hier wenden sie dieselbe Diffamierungsstrategie an: In Algerien zum Beispiel bemühten sich die Islamisten, die laizistischen Feministinnen zu diskreditieren, indem sie uns vorwarfen, uns von westlichen Feministinnen manipulieren zu lassen. Sie konnten es einfach nicht ertragen, dass wir aus eigener Kraft und infolge ihrer Unterdrückung und Verachtung uns emanzipieren wollen und können. Heute im Westen vertreten die identitären Linken mit solchen Behauptungen genau dasselbe und sprechen uns muslimisch geprägten säkularen Migrantinnen die Fähigkeit ab, kritisch zu denken, unsere Religion und Kultur zu hinterfragen. Sie degradieren uns zu denk- und kritikunfähigen Wesen. Und genau das würde ich als "White Supremacy" bezeichnen, wenn ich ihre Rhetorik verwenden würde.

Gab es denn schon Reaktionen auf das Buch?

Von den sogenannten Netzfeministinnen und den identitären Linken noch nicht. Einladungen zu Streitgesprächen wurden sowohl von intersektionalen Feministinnen als auch von Politikerinnen aus linken Parteien abgesagt. Kurz vor Bundestagswahlen ist es ratsam, knifflige Themen beiseite zu lassen, um keine Stimmzettel zu verspielen. Und dem Anschein nach trauen sich nur wenige Zeitungen, über den Inhalt des Buches zu berichten. Liegt es tatsächlich an der Corona-Pandemie? Ist Gewalt gegen Frauen derart banal geworden, dass man nicht mehr darüber berichten muss? Sind die Analysen der mehrheitlich migrantischen Autorinnen derart unangenehmen, dass man sie lieber totschweigt?

"Wenn Religionskritik verunmöglicht wird, sei es in den sogenannten muslimischen Ländern oder auch in den christlich geprägten Ländern, hat das stets dazu geführt, dass Frauen Verachtung, Hass und Gewalt erleiden müssen."

Mich hat aber die große und positive Resonanz von MitstreiterInnen an der Basis linker Parteien berührt. Dafür bin ich sehr dankbar. Hilfreich wäre es, wenn diese engagierten Bürgerinnen ihre Parteivorsitzenden und karrieristischen ParteigenossInnen an ihre Verantwortung vor den BürgerInnen und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung erinnern würden. Ich glaube immer noch daran, dass die große Mehrheit der Deutschen vernünftig ist. Leider ist sie auch still. Nun ist es an der Zeit, dass sie ihre Stimme erhebt und gemeinsam mit uns Autorinnen, Frauen, Opfern von Gewalt und Verachtung verkündet: Eine Gesellschaft, die von ihren säkularen demokratischen Prinzipien abweicht, Frauenverachtung toleriert und die Gleichberechtigung der Geschlechter nur auf dem Papier garantiert, ist eine anti-aufklärerische Gesellschaft, und das lassen wir nicht zu!

Was ergibt sich aus den Analysen des Buches? Welche politischen Forderungen müssen nun erhoben werden? Wer muss angesprochen werden, damit Frauenrechte wieder als universell verstanden werden?

Ausschließlich mit polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen, die zur Straflosigkeit führen sollten, kann man Gewalt gegen Frauen nicht beseitigen. Noch weniger werden Fluchtwege für Frauen helfen. Hier ist unsere Botschaft klar: Wenn ich ausgehe, will ich frei, nicht mutig sein – und noch weniger will ich fliehen müssen.

Eine weltweite feministische Forderung lautet: Sperrt eure Töchter nicht ein, erzieht eure Söhne besser. Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt beginnt in der Erziehung, in der Schule, durch Aufklärungsarbeit und Sensibilisierungskampagnen, die für alle zugänglich sind und jeden Einzelnen erreichen. Alle Gewaltformen gegen Mädchen und Frauen müssen konsequent verfolgt werden, ob bei konkreter oder auch abstrakter Gefahr, ob strukturell, kulturell oder religiös "begründet". Die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen geht auch durch die faktische Umsetzung von internationalen Abkommen, wie etwa der Istanbuler Konvention und der CEDAW. Hier ist die Politik – und genauer gesagt, der Gesetzgeber, also das Parlament – zuständig.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Naïla Chikhi / Rebecca Schönenbach (Hrsg.): Ich will frei sein, nicht mutig. FrauenStimmen gegen Gewalt. Vorwort von Lale Akgün. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2021, 175 Seiten, kartoniert, 14 Euro, ISBN 978-3-86569-328-0

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Anlässlich der Veranstaltungsreihe "Feministischer März" gaben Naïla Chikhi und Mitherausgeberin Rebecca Schönenbach ein Interview, das aufgezeichnet wurde: