100 Jahre Verfassungsbruch

"Wir müssen sehr viel offensiver und selbstbewusster auftreten!"

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Michael Schmidt-Salomon, Ingrid Matthäus-Meier, Philipp Möller, Jacqueline Neumann und Carsten Frerk (v. l. n. r.)
Michael Schmidt-Salomon, Ingrid Matthäus-Meier, Philipp Möller, Jacqueline Neumann und Carsten Frerk (v. l. n. r.)

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PR-Cars machten auf die Veranstaltung aufmerksam
PR-Cars machten auf die Veranstaltung aufmerksam

Am 4. Mai 2019 startet in Berlin die zweite Buskampagne. Am vergangenen Samstag wurden die Ziele der Kampagne im Berliner Meistersaal vorgestellt. Buchautor und Moderator Philipp Möller war schon bei der ersten Buskampagne im Jahr 2009 dabei. Ebenso Carsten Frerk (fowid), der neben Ingrid Matthäus-Maier (GerDiA), Jacqueline Neumann (ifw) und Michael Schmidt-Salomon (gbs) auf dem Podium saß.

Ingrid Matthäus-Maier, die von Philipp Möller als erste auf die Bühne gebeten wurde, erklärte: "Wir feiern ja nicht nur 70 Jahre Grundgesetz, sondern wir feiern auch 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung." Teile dieser Weimarer Verfassung sind nach Artikel 140 Bestandteil des Grundgesetzes und damit geltendes Recht. Jedoch werden seit 100 Jahren die Artikel 136, 137 und vor allem 138 der Weimarer Reichsverfassung nicht umgesetzt. So heißt es darin und damit auch im Grundgesetz: "Es besteht keine Staatskirche." Das bedeute, so Matthäus-Maier weiter, dass sich der Staat gegenüber Religionen (und Weltanschauungen) neutral zu verhalten habe. Eine Regelung, gegen die ständig unter anderem auch durch den Gesetzgeber (und in manchen Fällen gar durch das Bundesverfassungsgericht) verstoßen werde.

Im Artikel 136, Absatz drei der Weimarer Reichsverfassung heißt es: "Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren." Ingrid Matthäus-Maier wies darauf hin, dass in Deutschland jeder Steuerpflichtige danach gefragt werde und die Angaben gegenüber seinem Arbeitgeber, dem Finanzamt (über die Lohnsteuerkarte) und gar Banken und Sparkassen gegenüber machen müsse. Das sei ein Verfassungsbruch, so Matthäus-Maier. Ein weiterer bestehe darin, dass – im Gegensatz zu den Regelungen des Artikels 137, Absatz drei der Weimarer Reichsverfassung ("Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.") – die Rechtsprechung mit aktiver Unterstützung der Kirchen daraus ein "Selbstbestimmungsrecht" gemacht habe. Die Auswirkungen kann man am kirchlichen Arbeitsrecht sehen.

"Wir müssen sehr viel offensiver und selbstbewusster auftreten!", sagte Ingrid Matthäus-Maier und verwies darauf, dass die konfessionslosen Menschen – wenn man die Mitglieder der beiden Großkirchen einzeln betrachtet – die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellen. Rund 37 Prozent der Bevölkerung ist konfessionsfrei, während den Kirchen nur noch 27 Prozent (evangelisch) und 28 Prozent (katholisch) angehören. Damit sind die Konfessionsfreien jetzt schon die größte Weltanschauungsgemeinschaft in Deutschland.

Ingrid Matthäus-Meier (l.) und Philipp Möller (r.), Foto: © David Farago
Ingrid Matthäus-Maier und Philipp Möller, Foto: © David Farago

"Nur noch 3 Prozent der jungen Europäer haben noch volles Vertrauen in religiöse Institutionen. Wie schaffen die Kirchen es trotzdem, dass deren Privilegien erhalten bleiben?" Mit dieser Frage begann Philipp Möller das Gespräch mit Carsten Frerk. "Solange der deutsche Mittelstand die höheren Steuern bezahlt, ist das Geschäftsmodell Kirche absolut erfolgreich", antwortete dieser. Leider sei die Bevölkerung an Religionsthemen uninteressiert und wüsste nicht, welche rechtlichen Bestimmungen es gebe und "wie eingegriffen" werde: "Alle Gesetzesvorlagen werden von den beiden Großkirchen kommentiert." Deshalb sei es auch keine Verschwörungstheorie, wenn man sage, dass die Kirchen an unseren Gesetzen mitschreiben. Ganz egal, um welches Thema es dabei geht.

"Nur etwa 30 Prozent der Leute, die Kirchensteuer zahlen, wissen überhaupt, wie viel sie zahlen. Denn im Vergleich zu Sozialversicherungsbeiträgen, Rentenbeiträgen, Hausfinanzierungen und so weiter macht die Kirchensteuer einen relativ kleinen Teil der Abgaben aus." Und mit dem noch immer verbreiteten Irrglauben, dass "die Kirchen doch so viel Gutes tun" schauten viele nicht einmal genau hin. Gehen sie doch davon aus, dass ihre Kirchensteuern für soziale Dinge ausgegeben werden. Ein grobes Missverständnis.

Zwischen den Politikern und den Kirchen gebe es eine Arbeitsteilung: "Die Kirchen sagen, solange ihr uns die Privilegien lasst, so lange lassen wir euch in Ruhe." Denn wenn man die Kirche als Stimme der Schwachen und der Sprachlosen wahrnimmt, schaut man nicht genauer hinter die Kulissen. "Es müsste ein Aufschrei durch Deutschland gehen über Arbeitsbedingungen, über Aufstocker, über Armut in Deutschland. Doch was hört man von den Kirchen? Nichts."

"Wann werden die Konfessionsfreien die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellen?" Mit dieser Frage beendete Philipp Möller das Gespräch mit Carsten Frerk. "In vier Jahren werden die beiden Großkirchen zusammen unter die 50-Prozent-Marke fallen." Wenn man die kleineren Religionsgemeinschaften und die Muslime hinzurechne, würden noch rund 10 Jahre vergehen, bis die religiös Ungebundenen die 50 Prozent überschreiten.

Philipp Möller (l.) mit Dr. Carsten Frerk, Foto: © David Farago
Philipp Möller mit Carsten Frerk, Foto: © David Farago

Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) hat deutschlandweit Strafanzeigen gegen Sexualstraftäter der katholischen Kirche bei den Staatswaltschaften in allen deutschen Diözesen gestellt. Jacqueline Neumann vom ifw sagte am Samstag zum Stand der Dinge: "Es ist jetzt ein halbes Jahr her, dass wir diese Anzeigen gestellt haben. Man muss dazu sagen, dass die Staatsanwaltschaften, bei denen wir die Anzeige eingereicht haben, nicht verpflichtet sind, uns eine Rückmeldung zu geben." Eigene Recherchen hätten aber gezeigt, dass "vier Staatsanwaltschaften von 27 offiziell Ermittlungen eingeleitet haben. Eine davon – Görlitz – hat das Verfahren schon wieder eingestellt, weil 'kein Täter ermittelt werden konnte'. 20 Staatsanwaltschaften prüfen seit einem halben Jahr, ob sie Ermittlungen einleiten." Zehn Bistümer hätten bekanntgegeben, dass sie Akten an die Staatsanwaltschaft übergeben hätten oder noch übergeben würden und vier Staatsanwaltschaften haben die Ermittlungen abgelehnt. Darunter auch die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz mit der skandalösen Begründung: "Die Ermittlungspflicht zielt nicht auf das Aufspüren verdächtiger Personen."

Neumann geht davon aus, dass die Reaktionen auf die Anzeigen so schleppend vorankommen, weil es im Vorfeld Absprachen gab. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung dazu hieß es unter anderem: Die Generalstaatsanwälte "haben verabredet, allen Bischöfen in der Republik einen persönlichen Besuch abzustatten. In Niedersachsen fuhr die Ministerpräsidentin sogar persönlich zu den Bischöfen in ihrem Bundesland." Man stelle sich vor, solche Absprachen zur Schonung der Beklagten hätte es bei organisierter Kriminalität gegeben oder bei anderen Kapitalverbrechen. Hier bekommt die Kirche wieder eine unangemessene Sonderbehandlung.

Philipp Möller (l.) mit Jaqueline Neumann, Foto: © Evelin Frerk
Philipp Möller mit Jacqueline Neumann, Foto: © Evelin Frerk

Abschließend kam Michael Schmidt-Salomon auf das Podium und erklärte noch einmal den blinden Fleck des deutschen Rechtssystems. Bis 1970 gehörten weit über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung entweder der katholischen oder der protestantischen Kirche an. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das gewandelt. "Vor dem homogenen Hintergrund einer christlichen Gesellschaft ist vielen Menschen nicht aufgefallen, dass die Art und Weise, wie unsere Gesetze formuliert worden sind und wie Recht gesprochen wird nicht den Anforderungen eines weltanschaulich neutralen Staats genügt." Das sei erst heute – in der pluralen Gesellschaft – sichtbar geworden und damit würde "klar, dass viele Gesetze, die wir in Deutschland haben, nicht dazu geeignet sind, diskriminierungsfrei mit den Bürgerinnen und Bürgern umzugehen."

Man denke nur an Gesetze wie das zur Beschneidung männlicher Kinder, das "Sterbehilfeverhinderungsgesetz" (Paragraph 217 StGB) oder die Debatte um Paragraph 219a. Gerade diese drei genannten widersprächen dem Mehrheitswillen der Wähler – und zeigten die christlichen Wurzeln der Gesetzgebung mehr als deutlich auf. So ist der Paragraph 217 StGB "zuerst vom Malteser-Orden entwickelt worden, also innerhalb von Kirchenkreisen und dann über die CDU in den Bundestag eingebracht worden."

Um auf diese gravierenden Widersprüche zwischen Gesetzgebung und Mehrheitswillen der Bevölkerung hinzuweisen, wird im Mai die zweite "Säkulare Buskampagne" gestartet. "70 Jahre Ignoranz von Grundrechten sind genug!", sagte Schmidt-Salomon zur Begründung, weshalb die Buskampagne in diesem Jahr erneut starten wird.

Michael Schmidt-Salomon und Imgrid Mathäus-Meier, Foto: © Evelin Frerk
Michael Schmidt-Salomon und Ingrid Matthäus-Maier, Foto: © Evelin Frerk