Kritische Anmerkungen zu behaupteten und realen Kontexten

Religion und Veganismus

Ist Veganismus eine Religion? Sind Veganer Extremisten und Fanatiker? Diese und andere Vorwürfe sind oft zu lesen. Der Frage, ob sie berechtigt sind, geht Armin Pfahl-Traughber nach.

Gibt es religiöse Prägungen des Veganismus? Handelt es sich dabei um Esoterik oder eine Heilslehre, um eine Religion oder eine Sekte? Derartige Behauptungen finden sich immer wieder, auch in hpd-Leserkommentaren, wenn es um die Einschätzung einer Lebensweise ohne Tierausbeutung geht. Deren Anhänger gelten dann als Extremisten oder Fanatiker, Fundamentalisten oder Glaubenseiferer. Mitunter wird auch nur gefragt: Was hat das mit Humanismus und Säkularität zu tun? Dazu soll hier eine Einschätzung formuliert werden, welche Differenzierung statt Pauschalität prägt. Dem gilt es zunächst vorauszuschicken, dass die Ablehnung von Fleischkonsum und Tierausbeutung ganz unterschiedliche Ursachen haben kann. Es lassen sich dafür gesundheitliche, ökologische, politische, soziale wie tierethische Gründe ausmachen. Darüber hinaus kann die gemeinte Auffassung emotional, rational, religiös oder wissenschaftlich vorgetragen werden. Allein deshalb verbieten sich die erwähnten Pauschalisierungen, will man für argumentative Seriosität stehen.

Gleiches gilt hinsichtlich der Bezüge zur Religion. Gemeint ist damit bekanntlich eine Glaubensform oder ein Sinnsystem, das auf eine übersinnliche Wesenheit orientiert ist. Blickt man nun aber auf die Grundlagentexte im hpd zum Veganismus, so gibt es in diesen in keinem Fall eine Fixierung auf eine solche Wesenheit. Insofern können die gemeinten Begründungen für Veganismus auch nicht religiös sein. Einschlägige Behauptungen weiten das genutzte Religionsverständnis in einem polemischen Sinne aus. Eine derartige Manipulationstechnik lässt sich auch bei anderen Phänomenen immer wieder konstatieren, so gilt etwa die aktuelle Klimabewegung bestimmten Kommentatoren als eine religiöse Strömung. An ihr beteiligen sich auch religiös Gläubige, gleichwohl ist sie nicht von deren Einstellung konstitutiv geprägt. Gleiches gilt zumindest für die Beiträge auf hpd zur Rechtfertigung des Veganismus. Es wird doch jeweils auf ethische Grundprinzipien in Kombination mit Hinweisen auf wissenschaftliche Studien argumentiert.

Gleichwohl gibt es auch eine religiöse Begründung für einen tierleidfreien Veganismus: Für die ethische Ebene kann hier auf Albert Schweitzer verwiesen werden, entwickelte er doch die Auffassung von einer "Ehrfurcht vor dem Leben". Indessen kommt dieser religionsphilosophischen Begründung in der gegenwärtigen tierethischen Debatte keine sonderliche Relevanz mehr zu, es dominieren vielmehr kantianische, kontraktualistische, rechtstheoretische oder utilitaristische Positionen, welche alle rational und säkular begründet werden. Den gemeinten hpd-Kommentatoren ist diese tierethische Thematik offenkundig gänzlich unbekannt, würden sie doch ansonsten in ihren Stellungnahmen nicht zu den erwähnten Vorwürfen greifen. Die inhaltliche Begründung der gemeinten Ethiken schließt indessen nicht eine legitimationsbezogene Kritik aus, worum es hier aber aufgrund einer anderen Schwerpunktsetzung nicht weiter gehen soll. Es sei gleichwohl daran erinnert, dass keiner der hpd-Autoren die Deutung von Schweitzer übernommen hat.

Wie steht es aber ansonsten um die Einstellung der Religionen zu Tieren beziehungsweise zum Veganismus? Betrachtet man zunächst nur das Christentum, dann fällt bezogen auf die Bibel als "Heilige Schrift" auf: Es gibt einige Aussagen, welche die Menschen zur "Nutzung" von Tieren bis hin zur Tötung legitimieren (z. B. Genesis 1,27 f.; 9, 2 f. oder 8, 20 f.). Es gibt aber ebenso Aussagen, welche für die Menschen eine pflanzliche Nahrungsweise nahelegen (z. B. Genesis 1,29 f.; Numeri 11,33, Daniel 1, 11–17). Demnach bestehen hier zumindest Ambivalenzen, wenn nicht gar Widersprüche. Dominant sind übrigens Aussagen im erstgenannten Sinne. Dies macht in der Gesamtschau mit anderen Religionen übrigens deutlich, dass hier eher von einer Bejahung des Fleischkonsums gesprochen werden kann. Eine dezidierte Ausnahme wäre der Buddhismus, der aufgrund der fehlenden transzendenten Dimension aber nicht – wie oben definiert – als Religion gelten kann. Bilanzierend heißt dies: Der Fleischkonsum wird von Religionen eher bejaht.

Anders verhält es sich in den europäischen Ländern mit der esoterischen Szene, welche aufgrund ihrer konstitutiven Einstellung den Fleischkonsum meist zugunsten des Veganismus ablehnt. Indessen gilt es vor dem Hintergrund der hier zu erörternden Problematik daran zu erinnern, dass die Begründungen im hpd zugunsten einer fleischlosen Ernährungsweise eben nicht esoterisch, sondern rational vorgetragen wurden. Dass diese gegensätzlichen Begründungsformen begrifflich eine Gleichsetzung erfuhren, spricht gegenüber den gemeinten hpd-Kommentaren auch hier für deren Missachtung der Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Bekanntlich muss eine gleichlautende Auffassung zu einem sozialen Thema nicht auf identischen Ursachen beruhen. Es kann, wie hier ersichtlich, auch grundlegende Differenzen geben. Gleiches gilt umgekehrt für die erwähnte tierethische Diskussion, wobei es bei den Begründungen jeweils Differenzen gibt, man sich aber hinsichtlich der Forderung nach Tierrechten ähnlich positioniert.

Wie sieht es dann aber mit den Anmerkungen zu religionsähnlichen Einstellungen aus? Davon kann schon eher gesprochen werden, wobei auch hier zunächst differenziert werden muss: Ein Extremist ist ein Individuum, das die Grundlagen moderner Demokratie ablehnt. Und ein Fundamentalist ist ein Individuum, das eine wörtliche Auslegung seiner "Heiligen Schrift" beabsichtigt. Insofern passen diese beiden Begriffe überhaupt nicht zum eigentlichen Thema. Dass sie doch gelegentlich genutzt werden, erklärt sich entweder durch polemische Absicht oder schlichte Unkenntnis. Es mag aber auch eine Kombination vorhanden sein, zur Sachdiskussion trägt dies indessen nicht bei. Wie sieht es aber mit dem Fanatismus-Vorwurf aus? Dabei kommt es darauf an, was genau gemeint ist! Denn was für die einen ein absonderlicher Fanatismus ist, ist für die anderen ein engagiertes Werben. Dabei stellt sich die Frage nach dem immer wieder auszulotenden Grad an Höflichkeit und Stil, der von Individuum zu Individuum und Situation zu Situation unterschiedlich sein kann.

Denn es geht in der Diskussion nicht um die kulinarische Frage des guten Geschmacks, gibt es doch ein unterschiedliches Empfinden gegenüber dem Fleisch auf dem Teller: Es kann als bloßes Essen für die Nahrungsaufnahme gelten, es kann aber auch als Leichenteil eines Tieres wahrgenommen werden. Entsprechend erfolgen auch unterschiedliche Reaktionen darauf. Ähnlich verhält es sich beim "Heilslehre"-Vorwurf. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es beim Fleischkonsum eben nicht nur um eine Nahrungsfrage geht. Es gibt unterschiedliche Gesichtspunkte: Fleischkonsum schädigt in erhöhter Form die Gesundheit, Fleischkonsum verstärkt die Klimakrise über die Massentierhaltung, Fleischkonsum basiert auf dem Leiden von Tieren, Fleischkonsum bedeutet überdurchschnittlich hohen Ressourcenverbrauch, Fleischkonsum steht für ungleiche Verteilung in der Weltbevölkerung. Demnach würde die Abkehr davon nicht alle, aber einige Probleme auf der Welt reduzieren. Diese Einsicht steht nicht für eine "Heilslehre", sondern für die Einsicht in Forschungsergebnisse.

Und schließlich soll noch begründet werden, warum diese Frage für Humanisten interessant sein sollte. Dabei kommt es darauf an, was man genau unter dieser Bezeichnung im Selbstverständnis meint. Ganz allgemein gilt wohl, dass es um einen Bezug auf den Menschen an sich und eine Orientierung an der Säkularität geht. Hierfür ist die Einstellung zur Natur und den Tieren zunächst irrelevant. Beide könnten angesichts der Auffassung sogar im Interesse des Menschen rigoros ausgebeutet werden. Indessen bedarf der Mensch der Natur, aber nicht die Natur des Menschen zum Überleben, was auch im ganz egoistischen Interesse entsprechende Rücksichten nötig macht. Bezogen auf die Einstellung den Tieren gegenüber gilt: Ein Löwe muss ein anderes Tier töten, um zu überleben. Ein Mensch muss kein Tier töten, um zu überleben. Er kann im Lichte seiner Moral entscheiden, ob die Bedingung für seine Ernährung der Tod eines anderen Lebewesens ist oder nicht. Am Ergebnis zeigt sich dann auch, um was für einen Humanisten es sich handelt.